Ich glaube, ich bin der einzige Ruhrbaron, der dem Tango Argentino frönt. Die dazu notwendigen Fähigkeiten habe ich mir vor über zehn Jahren in mehreren Kursen in der Tanzschule La Boca in der Ruhrstadt Bochum angeeignet. Seitdem gehe ich regelmäßig dieser weltweit schönsten Form der Nachtarbeit nach. Aber Tango ist nicht nur Tanz sondern eine Reise durch eine eigene Kultur aus Musik, Geschichte, Events, Kunst, Philosophie und Literatur. Vor kurzem bekam ich dabei dieses kleine, fast quadratische, geradezu niedliche Büchlein in die Hand. Mit dem eher romantisch-harmlos daherkommend Titel: Der Tangoengel.
Aber das Ding enthält hochexplosiven Stoff. Nicht nur für Tangotänzer. Es geht im Kern um das Verhältnis von Tanz und Sex. Ich habe noch nie so viel, so ausschweifend und gleichzeitig so genau darüber gelesen wie in diesem 124 Seiten starken Parforceritt in Sachen erotischer Physik. Die Autorin, die aus gutem Grund einen Decknamen gewählt hat und über die der Verleger nicht mehr zu sagen bereit ist, als dass sie weiblich ist, nimmt kein Blatt vor den Mund. Im Gegenteil! Und doch ist der Text an keiner Stelle pornographisch. Er ist vielmehr grundehrlich, direkt bis zur Provokation, hintergründig und – sofern es das Thema überhaupt zulässt – sogar ironisch und witzig. Mit einem Satz: Er ist im positiven Sinne verdorben, ist von geradezu praller Lasterhaftigkeit.
Die Story selbst ist dagegen eher traurig und bitter. Zumindest gibt es kein Happyend. Sie hat eigentlich überhaupt kein richtiges Ende, denn man fängt nach dem letzten Satz fast automatisch an, die Geschichte erneut von vorne zu lesen. Wieso? Weil sie mit dem Abend danach beginnt, um dann die Nacht davor zu beschreiben. Die Sache wird sozusagen von hinten aufgerollt, aus dem Rückspiegel betrachtet. Die beiden Hauptfiguren befinden sich dabei auf der Milonga (so nennt man beim Tango die Tanz-Location) , die der Ausgangspunkt der Nachtgeschichte ist. Der räumliche und soziale zumindest. Der emotionale Ausgangspunkt ist der Tanz, das gemeinsame Tanzen zur Tangomusik. Die Begegnung in der Bewegung, die zu einer Bewegung in der Begegnung geführt hat. Zu einer Dynamik, die am Ende keiner der beiden Beteiligten mehr kontrollieren konnte und wollte. Die irgendwie überraschend und doch unausweichlich von der Vertikalen in die Horizontale führte, und (wie so oft bei Tango-Affären) zu einem bösen Erwachen.
Das in der Tangoliteratur immer wieder thematisierte Begehren wird hier zu Ende gedacht, phantasiert, erzählt. Rein literarisch gesehen an machen Stellen noch verbesserungsfähig, aber nichtsdestotrotz und meines Wissens erstmalig in solch einer inneren Konsequenz, mutigen Offenheit und im wahrsten Sinne des Wortes eindringlichen Körperlichkeit. Und zwar aus der Sicht beider Protagonisten, das heißt in diesem Fall aus der weiblichen und der männlichen, was der Leser angenehmerweise am diesbezüglich wechselnden Schrifttypus gut nachverfolgen kann. Es war für mich immer wieder erstaunlich, wie sehr sich die Autorin dabei auch in der männlichen Seele auskennt, beziehungsweise sich in diese hineinzuversetzen in der Lage ist.
Hinter der manchmal beängstigend materialistischen Beschreibung der körperlichen Vorgänge lässt die Autorin in den ebenso niedergeschriebenen Gedanken der „Matadore“ immer wieder deren emotionale Betroffenheit aufscheinen und stellt dabei Stück für Stück die Motive und (Hinter)Gründe ihres Handelns vor. Tanz wird dabei, im immer schneller werdenden Wechsel, zu Sex – und umgekehrt, bis das eine vom anderen nicht mehr zu unterscheiden ist. Zumindest nicht für die beiden Akteure. Ihre Erinnerungen vermischen sich zusehends mit der Gegenwart. Ihre Wünsche und vor allem ihre Ängste werden eins mit der Realität, oder genauer mit der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Realität. Lust wird zur Last, Träume zu Alpträumen. Dazwischen immer wieder der Versuch, Sex und Liebe zu verbinden, Leidenschaft und Zärtlichkeit miteinander zu versöhnen. Aber es gelingt nicht. Keinem von beiden. Wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen.
So wird ganz nebenbei die diesbezügliche emotionale und soziale Ambivalenz des Tango und insbesondere der Tangoszene abgehandelt, ohne die Freuden und die Glücksgefühle beim Tanzen dabei aus den Augen zu verlieren. Totale Einsamkeit und totale Nähe liegen hier nämlich genauso nahe beieinander wie Schein und Sein. Und Sex löst bekanntlich keine Probleme. Er kann sie sogar – wie wir alle wissen – noch potenzieren. Hier treibt er sie auf die Spitze, ist tragender Teil der Dramaturgie.
Das Büchlein wird übrigens in der Ruhrstadt Herne beim Frisch-Texte-Verlag produziert : Klack