Schauspiel Dortmund: Mörderjagd im Kinderzimmer

Foto: Birgit Hupfeld
Foto: Birgit Hupfeld

Medial aufgepumpt ging es am Schauspiel Dortmund auch bei der zweiten Premiere der Spielzeit am 14.9. zu. Zu recht groß war die Erwartung an die Adaption von Steven Spielbergs technisch aufwendiger und optisch visionärer Hollywood-Produktion auf die Bühne des Studios in Dortmund. Regisseur Klaus Gehre hatte sich auch schon an anderen Hollywood-Filme wie „Fluch der Karibik“ abgearbeitet, er musste also der richtige für so ein Projekt sein. Und dass das Schauspiel Dortmund unter Kay Voges den Einsatz von medialer Technik im Theater zu ungeahnten Höhen treibt, ist fast schon ein Label des Hauses. 
Dann eine Enttäuschung am Einlass: Die zur Produktion gehörende Precog-App, die eine Interaktion der Zuschauer mit dem Bühnengeschehen ermöglichen soll, ist nicht für iOS-Geräte verfügbar. Apples Appstore hatte die Veröffentlichung verweigert. Warum? Das werden wir später noch im Stück genauer erfahren. Im Studio des Schauspiels erwartet den Zuschauer eine mit eigenartigen Miniaturaufbauten vollgestellte Bühne, umrahmt von drei großen Leinwänden. Die vier Darsteller Ekkehard Freye, Julia Schubert, Merle Wasmuth und Björn Gabriel sind bereits auf der Bühne und lehnen gelangweilt auf großen Schaumstoffzahlen, die das Jahr 2014 schreiben. Schnell wird daraus in den ersten Minuten des Stückes das Jahr 2041. Wir sind in der Zukunft angekommen. In der Zukunft des Theaters?
Die Bühnenadaption hält sich eng an die Geschichte des Films: Der drogenabhängige Agent John Anderton jagt im Auftrag des Unternehmens „Precrime“ Mörder, die ihre Morde noch gar nicht begangen haben. Basis seiner Arbeit sind die Vorhersagen der „Precogs“ – geistig behinderte Menschen, die mit der Gabe der Vorhersehung ausgestattet sind und in Protonenmilch schwimmend vor sich hin vegetieren. Das System ist überaus erfolgreich und Morde sowie Mordplanungen aus der Gesellschaft nahezu verschwunden. Erst als John Anderton die Vorhersage erhält, dass er selbst zum Mörder werden wird, gerät das System ins Schwanken. Seine Ermittlungen bringen ihn zu den Erfindern des Systems und nah heran an Fragen der Identität, des freien Willens, des Schicksals und der selbsterfüllenden Prophezeiung. Fragen, die sich seit Jahrhunderten durch die europäische Geistes- und Theatergeschichte ziehen, ausgehend von mythologischen Stoffen wie der Oedipusgeschichte und den Atriden.
Steven Spielberg erzählte die Geschichte 2002 mit neuester Computertechnik als visuelles Meisterwerk. Auch die Inszenierung von Klaus Gehre setzt auf visuelle Effekte. Die Geschichte wird mit allem Pipapo samt rasanter Autofahrten und blutiger Augenamputation auf die Bühne gebracht. Oder besser: auf die Leinwände. Schließlich handelt es sich um einen „Live-Film“. In ihrem Kinderzimmer-Setting spielen die Darsteller einen Großteil der Handlung mit Barbie-Puppen und Matchbox-Autos. Kunstrasen und Fotos liefern die Hintergründe. Dabei filmen sie sich mit diversen Kameras, die Bilder werden live verfremdet und auf die drei Leinwände projiziert. Das ist amüsant (zum Beispiel in einer expliziten Sexszene) und gelegentlich sogar optisch beeindruckend wie in einer rasanten Autofahrt. Es macht Spaß den Darstellern auf der Bühne zuzusehen und überrascht, was als filmisches Ergebnis herauskommt. Zumindest für eine Weile. Denn einerseits ist das alles nicht wirklich neu. Schon Matthias Hartmann, der ehemalige Bochumer Intendant und mittlerweile fortgejagte Burgtheaterdirektor nutzte besonders für Romanadaptionen von Krachts „1979“ bis zu Tolstois „Krieg und Frieden“ die Techniken, die das Bochumer Team Impulskontrolle für ihn entwickelt hatte. Die gleichen, die Klaus Gehre nun in Dortmund nutzt.
Und andererseits verliert sich der Reiz der technischen Spielerei bald und die Frage tritt auf, wofür das alles da ist. Was fügt es der Geschichte hinzu? Rechtfertigt es die Umsetzung auf der Bühne oder kann es der Film nicht doch einfach besser? Eine ganze Weile lang ist die Antwort auf die Frage klar: Es ist putzig, aber führt inhaltlich nirgends hin.
Dann kommt die Precog-App ins Spiel. Die Zuschauer sollen mit ihrer Hilfe abstimmen, ob Anderton den Mord begeht oder nicht. Zuvor wird ein Brief von Apple verlesen, der erklärt, warum die App nicht im Appstore verlegt werden konnte: Sie bietet zu wenige Funktionen. Das typische Apple-Sprech in diesem Brief ist zugegebenermaßen nicht ohne Witz. Andererseits ist das Unternehmen auch zu verstehen, wenn es nicht jede App, die nur die Beantwortung einer einzigen Frage mit Ja oder Nein erlaubt, aufnimmt. Es wird also bei der Premiere nur via Android abgestimmt. Trotzdem zeigt das Ergebnis auch eine 12%ige Wahrscheinlichkeit des Mordes, die die Apple-User vorhersehen. Warum? Weil die App durch einen psychologischen Trick angeblich das Abstimmungsverhalten der Benutzer beeinflusst.
Von hier an sind wir in jenem Teil der Geschichte, der (auch im Film) die entscheidenden Fragen thematisiert. Im Stück geschieht das dann allerdings teilweise etwas zu agitpropmäßig und didaktisch. Da wird über den freien Willen referiert und der Zuschauer mit der Frage konfrontiert, ob er ein wahrscheinlich behindertes Kind wirklich nicht abtreiben würde. Und warum eigentlich nicht? Die Frage ist nicht uninteressant, aber sie einfach mal so von der Bühne in den Raum zu richten hat mehr von einer Ethikvorlesung als wirklich was mit Theater zu tun. In der letzten Viertelstunde des Abends wird das Theater vom Kinderzimmer zum Seminarraum. Das ist ein bisschen platt und lässt die Frage offen, wofür es dann überhaupt den technischen Aufwand gebraucht hat. Und nicht zuletzt fühlt man sich als Zuschauer arg unterschätzt. Als könne man die in der Story impliziten Fragen nicht selbst erkennen, sondern müsste sie hier noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt bekommen. Übrigens ein Phänomen, das viele Hollywood-Filme unverträglich macht, wenn gegen Ende noch einmal alles detailliert erklärt wird, damit auch noch der letzte im Zuschauerraum kapiert, worum es geht.
Nachgereicht: John Anderton begeht den Mord dann doch. Allerdings drückt das Opfer seinen Finger am Abzug. Die Vorhersehung siegt immer. Egal ob auf direktem Weg oder durch die doppelten Verweigerung aller Beteiligten, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Minus mal Minus gleich Plus. Wir haben keine Chance. Aber wir können die vorhergesagten 3’30“ Applaus verweigern, oder wie bei der Premiere: überschreiten.

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