Zehn Darstellende in 57 Rollen – Joël Pommerats Szenenfolge ist zuallererst ein Text für ein Schauspielensemble. 20 kleine Etüden über die Liebe reihen sich aneinander. Einziger Zusammenhalt ist das gemeinsame Thema, in jeder Szene treten neue Personen auf, einen Handlungszusammenhang gibt es nicht. Intendant Kay Voges betont, dass genau deshalb das Stück auf dem Spielplan sei, um wieder einmal in ganz klassischem Schauspielertheater („garantiert ohne Video und Experimente“) seinem Ensemble die Möglichkeit zu geben, seine Qualitäten ausspielen zu können. Regisseur Paolo Magelli ist für solch einen Text zunächst genau der richtige, denn seine szenische Sprache ist eher konventionell.
Christoph Ernst hat für das Stück einen monumentalen Illusionsraum gebaut. Barocke Treppen führen auf einen Balkon – vielleicht ja den, auf dem man sich um Lerche und Nachtigall streitet –, deckenhohe Säulen verstärken die Anmutung des großen Palais. Aber alles ist nur Schein, allzu deutlich aus Styropor, Pappe und leeren PET-Flaschen zusammengezimmert. So schlampig, dass da und dort auch noch der PU-Schaum hervorquillt. Ganz so, wie es auch in der Liebe ist: Groß und romantisch und ewigdauernd schaut sie auf den ersten Blick aus, aber dann wird schnell klar, dass es doch alles nur schäbige Illusion ist. Obendrauf gibt es noch gleich zu Beginn religiöse Aura, wenn am beinahe bühnenbreiten Michelangelo-Abendmahl-Tisch Jesus in der Mitte sitzt und mit einem durchschaubaren Trick aber zutiefst erleuchteten Gesichtsausdruck Wasser in Wein verwandelt. Die Liebe ist farbloses Wasser, das nur durch ein bisschen Hormonmagie ausschaut wie blutroter Wein, will uns das wohl sagen. Was uns allerdings die merkwürdige gummiseilbespannte Spielbox mit Neonröhren, die hoch unter der Hallendecke des Megastores angebracht ist, sagen will? Keine Ahnung.
Pommerats 20 Szenen beleuchten zwar unterschiedlichste Konstellationen und Aspekte des Themas, doch einiges ist ihnen gemeinsam: Zuallererst, dass die Liebe grundsätzlich nicht recht funktioniert. Die meisten Episoden erhalten ihren Drive vor allem daher, dass sie ins Absurde zugespitzt werden. Und darauf setzt Magelli in seiner Regie vor allem. Er betont das Boulevardeske von Pommerats Text und setzt auf eher grelle Unterhaltung. Es wird an diesem Abend etwas viel geschrien, Zwischentöne sind nur selten, Poetisches fehlt nahezu ganz.
Trotzdem gibt es natürlich die tollen Schauspielmomente. Gleich zu Beginn sind Julia Schubert und Merle Wasmuth ein herrliches Doppel. Wasmuth als überspannte Ehefrau, die sich seit 15 Jahren von ihrem Mann scheiden lassen will, und Schubert als ihr beinahe teilnahmsloses Gegenüber, das ganz beiläufig und naiv Fragen stellt, die die ganze Katastrophe dieser Beziehung offenlegen. Marlena Keil brilliert als ungemein erotische, Rubens-Prostituierte, die dem Priester, den sie seit Jahren kostenlos empfängt, versucht klar zu machen, dass sie dies aus Liebe zu ihm tut. Sebastian Kuschmann ist dieser Priester und sieht wunderbar lächerlich aus, wenn er dann nackt und ratlos auf der Balustrade hockt. Friederike Tiefenbacher und Frank Genser geben ein Ehepaar, das nur vorgibt Kinder zu haben (Edward Albees Martha und George standen hier Pate). Caroline Hanke ist ein großartiger Zwilling, der die Ehe ihrer Schwester platzen lässt. Uwe Schmieder als Chef, von dem seine Angestellte versucht zu erfahren, ob er in der Nacht zuvor mit ihr geschlafen hat, lässt sie und die Zuschauer wunderbar im Unklaren. Neuensemblemitglied Christian Freund überzeugt als junger Lehrer, dem Missbrauch an einem Schüler vorgeworfen wird.
Und doch lässt dieser Abend merkwürdig kalt. Obwohl das Thema jedem Zuschauer etwas sagen müsste, stellt sich kaum mal der Eindruck ein, dass das da auf der Bühne einen direkt etwas angehen könnte. Das hängt sicher zum einen am Hang zum Skurril-Absurden von Pommerats Text, aber wohl noch mehr an der überdreht-sportiven Spielweise die Magellis Inszenierung dem Ensemble verordnet. So entsteht zwar harmlose Boulevard-Unterhaltung aber eben kaum Tiefgang und schon gar nicht schmerzvoll Anrührendes, das zum Gefühl des Ertapptseins in der eigenen Liebesillusion führen könnte. Und auch wenn es zwar eine lesbische Szene zu Beginn gibt, ist es etwas ärgerlich, dass es in der einzigen schwulen Szene ausgerechnet um den Vorwurf des Kindesmissbrauchs geht. Wie schön und aufmerksam wäre es gewesen, wenn einfach eine Beziehungsszene auch mal zwischen zwei Männern gespielt hätte. Möglich ist das mit Pommerats Text auf jeden Fall. Insgesamt lässt dieser Abend auch offen, ob das Stück tatsächlich mehr hergibt als gutes Futter für die Darstellenden. In Magellis Inszenierung ist „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ ein etwas zu lauter und hektischer Ritt durch ein mehr oder minder gewitztes szenisches Skurrilitäten-Kabinett mit dem einen und anderen klugen Literatur-Zitat. Ob Pommerat auch etwas von der Liebe erzählen kann, sagt der Abend nicht.
Termine und Tickets: www.theater-dortmund.de
„garantiert ohne Video"
Wunderbar! Nachdem ich die aktuelle Bochumer Verhunzung von Romeo und Julia in der Pause verlassen habe, weil sich der Eindruck verfestigte, eher im Kino als im Theater zu sein, werde ich mich wohl mal auf nach Dortmund machen …