Ein Mann und eine Frau treffen aufeinander. Sie ist jung, extrovertiert und impulsiv. Er ist alt, knurrzig und in sich zurückgezogen. Unterschiedlicher können zwei Menschen nicht sein. Sie verlieben sich – Happy End. Was wie die Anleitung für eine gelungene Screwball Komödie klingt, wird in der Inszenierung von Lore Stefanek am Düsseldorfer Schauspielhaus zu einem Theaterstück, das Humor mit emotionaler Tiefe verbindet. Das gelingt vor allem auch deswegen, weil das Stück von Simon Stephens auf der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Unschärferelation von Heisenberg beruht.
Romantisch ist die erste Begegnung von Alex Priest (Burghart Klaußner) und der Kellnerin Georgie (Caroline Peters) wahrlich nicht. Sie begegnen sich auf einem Londoner Bahnhof – einem Ort, wo sich Menschen voneinander verabschieden oder sich nach langer Zeit glücklich in die Arme fallen. Georgie wartet auf ihren verstorbenen Ehemann, Alex auf niemanden. In seinem billigen Polyacryl-Anzug, mit einer weissen Plastiktüte in der Hand, ist er einfach da. Keine Vorlage für einen Helden. Georgie küsst ihn unvermittelt in den Nacken und schämt sich für den impulsiven Überfall auf einen fremden Mann. Aus der peinlichen Situation versucht sie sich durch einen nicht enden wollenden Redefluss zu retten.
Sie will ihn fotografieren „Die Idee dahinter ist, sie einzufrieren!“ Doch Alex muss nicht eingefroren werden. Seine Haltung ist starr, seine Mimik leblos, sein Gefühle unterkühlt. Alex ist von Georgie’s Versuch sichtlich genervt, ihn in ein Gespräch zu verstricken. Er lässt sie stehen und geht. Auf der karg ausgestatteten Bühne (wie es wird eine große Scheibe sichtbar – das Publikum spiegelt sich darin. Es wird Teil des Spiels, ganz im Sinne Titelgebenden Unschärferelation von Heisenberg: Teilchen verhalten sich unter Beobachtung anders, als wenn sie nicht beobachtet werden.
Georgie lässt nicht locker: zwei Tage nach ihrer ersten Begegnung steht sie vor Alex‘ Metzgerei. Wieder redet Georgie um ihr Leben, macht linkische Bewegungen, schwankt vor und zurück und rudert wild mit den Armen. Sie klärt Alex auf, dass ihre Behauptung, Kellnerin in einem Edelrestaurant zu sein, gelogen war. Sie sei Sekretärin in einer Schule und würde die Kinder und deren Eltern mögen. Ob das stimmt? Vielleicht auch nur eine weitere Variation der Selbstkonstruktion von Georgies Ich.
Alex kontert Georgies Aufgewühltheit nüchtern: „Heutzutage sind alle besessen von Gefühlen. Es wird über nichts anderes geredet, einfach grotesk.“ Der Mann, den Georgie für einen schüchternen Intellektuellen gehalten hat, ist kein Romantiker. Er ist Metzger und liebt seinen Beruf. „Ich mag, wie es Tiere zusammenhält. Ich mag es, dass sie Nähte haben. … Ich mag die Vorstellung, dass eine Kuh eine Naht hat, und exakt zu wissen, wo sie entlang läuft.“ Wie zwei Planeten kreisen die beiden umeinander. Nähern sich, entfernen sich.
Georgie schlüpft unter einen Teppich – wie unter seine wärmende Bettdecke – und erzählt, dass sie einen Sohn habe, der in den USA sei und sie nicht sehen wolle. Er schäme sich für sie. Ihr verstorbener Ehemann habe eine Schwäche gehabt, junge Frauen zu retten. „So ehrlich war ich noch nie!“ sagt Georgie. Doch man weiss nicht, ob das nicht wieder eine ihrer ungewollten Lügen ist. Sie singen gemeinsam, tanzen. Alex wird zunehmend lockerer und verliert seine lebensfeindliche Haltung. Der ewig muffelige Misanthrop entdeckt die alte Liebe zur Musik wieder, vom Rock’n’Roll über Garage Rock bis hin zu Symphonien. Die Musik bringt die beiden aneinander näher. Dennoch bleiben sie sich treu. Alex legt eine Bach-Sonate auf, Georgie bekommt Hunger auf Blutwurst und ein saftiges Steak.
Die beiden gehen miteinander ins Bett. Entgegen seinem Credo „Ich fühle nicht, ich denke“ gesteht er gegenüber Georgie ein, dass er ein Problem mit dem Weinen hat: „Manchmal breche ich grundlos in Tränen aus.“ Seine Fassade bekommt Risse, hält nicht mehr. Doch Gefühle haben einen Preis. Mit halb heruntergelassener Hose fällt er im Schlafzimmer um – der kühle, zurückhaltende Alex wird zum lächerlichen Alten. Das Reden über Sex bringt das Paar auf den Boden der Tatsachen zurück. Bei der Reflexion des gemeinsamen „Reit- und Springturniers“ im Bett lacht das Publikum. Auch an anderen Stellen landet der Schenkelklopferhumor seine Treffer.
Gleich nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht bittet Georgie Alex um Geld. 15.000 Pfund, um die Reise zu ihrem Sohn finanzieren zu können. Man fängt an sich zu fragen, ob die Begegnung der beiden von Anfang an ein perfider Plan von Georgie war. Nur eine Flunkerei? Oder eine Lüge, um an sein Geld zu kommen? Georgie verheddert sich in ihrem Wortschwall. Alex schreibt auf eine Glasfläche: May or not may? Und gibt ihr dann das Geld ohne großes Aufhebens – zusammen mit der Verpflichtung, ihren Sohn in den Staaten zu suchen. „Sag danke“ – fordert er von Georgie zwischenmenschliche Normalität ein. Den Fragen von Georgie nach seiner alten Liebe und seinem vergangenen Leben weicht er aus. Sein Innenleben raffte er bisher pedantisch in seinen Tagebüchern zusammen: genau 50 Worte pro Tag, 350 Worte pro Woche – 67 Jahre lang.
Georgie erforscht Alex, beobachtet ihn. Sie mag seine Lachfalten und liebt seinen Geruch nach Tee und Tabak. „Wenn man etwas intensiv genug beobachtet, begreift man, dass man unmöglich sagen kann, wohin es sich bewegt und wie schnell es dorthin gelangt.“ fasst sie die Heisenberg-Theorie in ihren Worten zusammen. Aus der Beobachtung wird Betrachtung, die Liebe wächst – trotz oder wegen der Verschiedenheit. Die zwei komplementären Eigenschaften eines Teilchens sind genauso wenig bestimmbar wie zwei Liebende.
Die kontroversen Rollen hätten nicht besser besetzt sein können. Burghart Klaußner spielt überzeugend die Rolle des menschenabgewandten Eigenbrötlers, der durch die Liebe von Georgie nach und nach ins Leben zurückfindet und „endlich kapiert, wie dieses „Scheissding“ (das Leben) läuft. Er zeigt mit präzisen Gesten – einer Hand am Herz oder am schmerzenden Knie – dass das Alter nichts für Feiglinge ist. Aber er zeigt auch, dass man mit 75 Jahren sowohl Spaß als auch Sex haben kann. Das humoristische Talent von Caroline Peters (das man auch aus der Serie „Mord mit Aussicht“ kennt) ist für diese Rolle wie geschaffen. Die liebenswerte Lügnerin und schräge Lebenskünstlerin kann sie genauso überzeugend darstellen wie die zu tiefen Gefühlen fähige Frau. Man kann sich gegen ihr Spiel nicht währen und gewinnt ihre Georgie im Laufe der eineinhalb Stunden immer lieber.
Georgie möchte, dass Alex nach New Jersey mitkommt. Sie träumt davon, ihm Suppe zu kochen, sich von ihm die Füsse massieren zu lassen, gemütlich zusammen fernzusehen und zu wissen, wann er einen Kaffee möchte. Beide machen sich zusammen auf den Weg. Die Bühne öffnet sich nach hinten, Planeten und Monde kreisen umeinander. Es hat leise gebebt, ja, der Mond ist bewohnt.
Alles verkehrt sich in sein Gegenteil und stimmt wieder: Wenn am Ende des Stückes die unstete Georgie ihren Kopf für eine kurze Weile an Alex Schulter lehnt, dann begegnen sich für einen Moment ruhender Ort und sich bewegender Impuls. Alex würde Georgie überall hin folgen. „Mehr muss ich nicht wissen“ sagt sie. „Das ist ideal für mich. Danke.“