Die Kunsthalle Frankfurt zeigt in einer musealen Ausstellung wichtige Skulpturen von Niki de Saint Phalle vor pinkfarbenem Hintergrund und schwächelt bei Happening-Filmen und dem Tarotgarten.
Niki de Saint Phalle (1930-2003) zählt als eine der Hauptvertreterinnen der europäischen Pop-Art und Mitbegründerin des Happenings zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation. Vom 3. Februar bis zum 21. Mai beleuchtet die Schirn Kunsthalle Frankfurt das vielfältige Werk der französisch-amerikanischen Visionärin in einer umfassenden Ausstellung, die mit rund 100 Arbeiten einen Überblick über alle Werkphasen bietet. Die Schau beleuchtet das künstlerische Spektrum von den frühen Gemälden bis hin zu ihren großformatigen Skulpturen. Für die Präsentation konnte die Schirn bedeutende Leihgaben aus deutschen und internationalen Museen, öffentlichen wie privaten Sammlungen gewinnen und in Frankfurt zusammenführen.
In den fünf Jahrzehnten ihres künstlerischen Schaffens entwickelte Niki de Saint Phalle eine unverwechselbare Formensprache und ein facettenreiches Werk. Die Nanas, ihre bunten, großformatigen Frauenskulpturen begründeten ihren internationalen Erfolg und gelten bis heute als ihr Markenzeichen. Das künstlerische Spektrum der Künstlerin geht jedoch darüber weit hinaus. Sie wechselte Techniken, Themen und Arbeitsweisen und schuf ein ebenso ambivalentes wie subversives Werk voller Freude und Brutalität, Humor und Eigensinn. Kunst bedeutete für sie mehr als nur ein Medium des Ausdrucks.
„Ich bin Künstlerin geworden, weil ich keine Wahl hatte. Ich brauchte also keine Entscheidung zu treffen. Es war mein Schicksal (..). Ich habe die Kunst als meine Erlösung und als eine Notwendigkeit angenommen.“ (Niki de Saint Phalle)
Kunst diente für sie dazu, Konventionen zu hinterfragen und die Künstlerin artikulierte in ihrem Schaffen immer wieder ein Plädoyer für die Frau und das Feminine, kritisierte verkrustete Institutionen sowie überkommene Rollenbilder und verhandelte in ihrem Werk sozialpolitische Themen wie Gewalt und Krieg, aber auch die Stigmatisierung durch AIDS, das Recht auf Abtreibung, Waffengesetze oder den Klimawandel.
1966, Stockholm, Moderna Museet
Niki de Saint Phalle hatte für die Ausstellung mit ihrem Partner Jean Tinguely eine spezielle Ausstellungshalle in Form einer bunten Frauenfigur mit ausgebreiteten Beinen geschaffen. Zwischen den Beinen der Göttin Hon (schwedisch: sie) stehen die Besucher Schlange, um die begehbare Ausstellungsskulptur durch den Eingang – die geöffnete Vagina – betreten zu können. Drinnen gelangen sie in einen Vergnügungspark, in der rechten Brust war eine Milchbar samt Flaschenzerkleinerer von Jean Tinguely eingerichtet. Ein Kino in einem Arm präsentierte einen Kurzfilm mit Greta Garbo in der Hauptrolle. In einem der Beine konnte man eine Ausstellung gefälschter Gemälde sehen. Die liegende Nana war schwanger, wie ein Goldfischbecken symbolisch darstellte. Über eine Treppe gelangte man zu einer Terrasse auf ihrem Bauch, von wo aus man auf die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung blicken konnte. In der Ausstellung sehen wir ein Modell der Hon. Im Ausstellungskatalog finden sich zudem Skizzen und Projektzeichnungen des Künstlerpaares zur Hon.
Partizipative Kunst
Die Einbindung des Publikums in die Fertigstellung ihrer Arbeiten ist essentieller Bestandteil der Schießbilder.
„Ich war bereit zu töten. Das Opfer, das ich wählte, waren meine eigenen Bilder (…). Dann bat ich die Betrachterinnen und Betrachter, auf meine Bilder zu schießen. Ich wurde zur Zeugin meiner eigenen Mordaktion (…). Die Bilder bluteten“ (Niki de Saint Phalle)
Bei Eröffnungen und während spezieller Zeitfenster war es dem Besucherinnen und Besuchern in den Galerien freigestellt, auf die ausgestellten Werke zu schießen.
Daran beteiligten sich auch Künstlerkollegen wie Pierre Restany, Jasper Johns, Robert Rauschenberg oder Edward Kienholz. Diese Kunstaktionen gelten als „participation art“, die mit dem Publikum in Dialog tritt. Damit wird die strikte Trennung von Künstlerin, Kunstwerk und Betrachtenden aufgebrochen. Diese treten als Mitproduzenten des Werkes in Erscheinung und schreiben sich in diesem ein.
Die starke Ritualisierung der Performances steigerte sich, als de Saint Phalle während eines US-Aufenthaltes im Frühjahr 1962 zum ersten Mal den weißen Schießanzug trug. Während dieser Schießaktion, die auch gefilmt wurde, stand die Künstlerin im Mittelpunkt, das Publikum wohnte der Aktion bei. Der Akt des Schießens wurde zu einem spektakulär wie brutalem Event.
„Statt zur Terroristin zu werden, wurde ich eine Terroristin in der Kunst.“ (Niki de Saint Phalle)
Die Ausstellung zeigt den Schießanzug und einige Schießbilder. Da diese Kunstaktionen mit der Auflösung der oben angesprochenen Grenze zwischen Künstlerin, Kunstwerk und Publikum den Kunstbegriff im Sinne von Joseph Beuys erweiterte und die tradierten Begriffe von Künstlerschaft in Frage stellte, sind die Schießbilder für de Saint Phalles Rezeption und ihre Bedeutung in der Kunstgeschichte von besonderer Bedeutung. Im Treppenaufgang zur Ausstellung wird zwar eine Filmsequenz mit einer Schießaktion gezeigt, sowie in der Ausstellung ein 15minütiger Filmbeitrag von François de Menil und Monique Alexander von 1982, der u.a. auch die Schießaktionen der Künstlerin beleuchtet. Auf Nachfrage weisen die Ausstellungsmacher darauf hin, dass nicht alle Schießaktionen der Künstlerin filmisch dokumentiert seien. „Die Schießbilder stehen als Werke auch für sich“. Aus räumlichen Gründen war es nach Aussage der Schirn nicht möglich, die beiden Filme von Niki de Saint Phalle mit jeweils einer Laufzeit von 120 Minuten innerhalb des Ausstellungsrundgangs in voller Länge zu zeigen. Daher wurden die Filme nur au zwei ausgewählten Terminen am Eröffnungswochenende in Frankfurter Filmkunstkinos gezeigt.
Die Begründung „aus räumlichen Gründen“ ist deshalb problematisch, da sich die Ausstellung mit der vorherigen Chagall-Ausstellung terminlich überschneidet und der Raum der Chagall-Ausstellung daher nicht für die Niki de Saint Phalle-Schau zur Verfügung stand. Das ist hinsichtlich der Filme und Bedeutung der Mitschnitte der Schieß-Aktionen doch sehr schade.
Die Nanas
Die Skulpturen – insbesondere die weltberühmten Nanas – nehmen einen Großteil der Ausstellung ein. In ihrer Ausstellung in der Galerie Iolas 1965 in Paris überrascht Niki de Saint Phalle das Publikum mit einer neuen, aus Stoff, Garn und Papiermaschee gefertigten Serie von Plastiken, der sie den Titel Nans gibt. Weithin bekannt wird sie in der Folge mit ihren Nanas im öffentlichen Raum in vielen Metropolen. Der neue Werkstoff Polyester macht die Figuren wetterbeständig und robust. In Bezug auf ihre Nanas spricht die Künstlerin von einem „Jubelfest der Frau“.
Es sind strahlend farbig bemalte, gigantische weibliche Körper, die weder von Männern, noch von ihrem Leben unterdrückt werden. Die üppigen, oft schwangeren Frauen drücken Lebensfreude und Stärke aus, sie sind gesellschaftliche Botschafterinnen des Matriarchats. Die archetypischen Frauengestalten mit prallen Brüsten, üppigen Bäuchen und dicken Hinterteilen nebst kleinen Köpfen sind de Saint Phalles emanzipatorische Waffe im feministischen Kampf gegen männlich-patriarchalische Reduzierung des weiblichen Körpers auf ein sexuelles Objekt.
„Ich selbst liebe meine Nanas. Ich finde sie fröhlich und lustig. Sie sind glücklich, weil sie frei sind; sie tun, was sie wollen. Sie brauchen keine Männer und sie denken auch nicht an sie.“ (Niki de Saint Phalle)
Die verschlingenden Mütter
#Die Ausstellung zeigt ein paar Skulpturen aus der Serie von Figuren, die in den 1970er Jahren entstehen und bei denen Frauen weiterhin im Mittelpunkt stehen. Allerdings handelt es sich jetzt um alternde Frauen in ihren unfreien und patriarchalisch konnotierten Konventionen, etwa bei der Körperpflege am Schminktisch oder beim Nachmittagstee. Wir sehen grotesk verformte kolossale Gestalten, die sich selbst entfremdet zu sein scheinen.
Niki de Saint Phalle verstand diese Serie selbst als einen künstlerischen Exorzismus gegen die weibliche Urangst, von der eigenen Mutter verschlungen zu werden oder selbst eine verschlingende Mutter zu werden. Das ist wichtig vor dem autobiografischen Hintergrund er Künstlerin deren Beziehung zu ihrer Mutter maßgeblich von deren Strenge, ihrem Schweigen zum sexuellen Missbrauch durch den Vater und ihrer Abwesenheit in der frühen Kindheit der Tochter geprägt war.
Der Tarotgarten
Den Tarotgarten errichtet Niki de Saint Phalle in einem Zeitraum von fast 20 Jahren von 1979-1998 auf dem Hügel eines ehemaligen Steinbruchs in der Toskana. Mit dem Tarotgarten realisiert die Künstlerin das umfangreichste Projekt ihres Lebens. Der Park gilt heute als ihr Hauptwerk und Vermächtnis. 22 mit farbigen und spiegelnden Mosaiksteinen verzierte Skulpturengeben archetypische Bilder wieder. Jean Tinguely, Rico Weber, Sepp Imhoff und Doc Winsen schweißen die baumhohen Eisengerüste für die ersten Figurengruppen zusammen.
De Saint Phalle finanziert das komplette Projekt selbständig, um damit unabhängig zu bleiben. Am 15. Mai 1998 wurde der Tarotgarten offiziell für das Publikum geöffnet. In der Ausstellung sehen wir Modelle, Skizzen und eine einzige Fotografie in der Künstler-Biografie, sowie Bildern im Film des Eingangsbereichs der Ausstellung. Ein Gesamteindruck der monumentalen skulpturalen Parkanlage kann nur vor Ort erfolgen, deshalb wurde auf eine großformatige fotografische Reproduktion verzichtet, so die Begründung der Ausstellungsmacher.
Natürlich kann man den Tarotgarten schlecht für eine Ausstellung in der Toskana einpacken und in Frankfurt wieder auspacken, aber zumindest einen filmischen Rundgang durch den Tarotgarten in der Ausstellung zu sehen, wäre hübsch gewesen, um einen Eindruck der Monumentalität der skulpturalen Parkanlage zu bekommen. Das gesamte monumentale Spätwerk auf Modelle, Skizzen und ein Foto in der Künstlerbiografie nebst Filmschnipseln in einem Treppenhaus zu reduzieren, wird der Bedeutung des Tarotgartens im Gesamtkontext der Künstlerin nicht gerecht.
AIDS
Noch bevor die Krankheit einen Namen hatte, wurde AIDS als Instrument derer, die gesellschaftlichen Wandel fürchten, zur Diskriminierung queerer Personen missbraucht. 1991 nimmt Niki de Saint Phalle an der „Stop-AIDS“-Kampagne in der Schweiz teil und dekoriert ein gigantisches Kondom für den Informationsbus. Neben anderen prominenten Künstlern wie Keith Haring, Robert Mapplethorpe, Duane Michaels, Nancy Burson und anderen gehört sie zu einen der ersten Künstlerinnen und Künstler, die sich dem Kampf gegen AIDS anschließen.
Im Kontext ihres Engagements illustriert sie eine Zeitschrift und informiert in einem farbenfrohen piktografischen Brief an ihren Sohn Philip über die Übertragung von HIV durch ungeschützten Geschlechtsverkehr und räumt mit Vorurteilen auf. Ihre Arbeiten „Trilogie der Obelisken“ (1987) und „Schädel, Meditationsraum (1990) entstehen ebenfalls im Kontext ihres Engagements für die Aufklärungskampagnen gegen AIDS. Einige ihrer Illustrationen sind in der Schau zu sehen.
Ausstellungsgestaltung
Die Inszenierung der Ausstellung wurde durch Adrien Rovero Studio ausgeführt. Schon beim Betreten des ersten Ausstellungsraums befällt die Besuchenden ein latentes Augenliedflimmern, denn die Wände des gesamten vorderen Ausstellungsteils sind in Pink gehalten. Das ist zwar als Korrelation zur Buntheit der Nanas konzeptionell nachvollziehbar, verändert aber die Lichtverhältnisse ungünstig und defokussiert den Betrachterblick von den Kunstwerken. Schlimmer noch, es beeinträchtigt und verfälscht die Farbigkeit der Ausstellungsstücke. Weniger wäre hier mehr gewesen; vor schlichten weißen Wänden wären die brillante Buntheit der Skulpturen wesentlich besser zur Geltung gekommen. Schade.
Fazit
Das Ausstellungsteam fokussiert die Niki de Saint Phalle-Ausstellung sehr auf die Nanas, andere Skulpturen, Assemblagen, Schießbilder, AIDS-Engagement. Das geht klar zu Lasten einer filmischen Dokumentation der Schießbilder-Aktionen, weiterer Filme der Künstlerin sowie einer angemessenen Darstellung des Tarotgartens. Die Inszenierung der Ausstellung verliert sich in einem eindimensionalen Pink, das mehr von den Ausstellungsstücken ablenkt, statt auf diese zu fokussieren. Niki de Saint Phalles Rolle als Vorreiterin des Happenings in der Kunst und ihrem Spätwerk dem Tarotgarten wird die Schau daher leider nicht gerecht. Man setzte hier zu sehr auf die berühmten und publikumswirksamen Nanas. Was eine Retrospektive hätte werden können, verbleibt auf dem Level einer musealen Bilder und Skulpturenschau. Die ist sehr sehenswert, reduziert den Blick auf die Kunst von Niki de Saint Phalle aber auf Teile des Gesamtwerks. Um es mit einem Begriff aus dem Jägerlatein zu formulieren: Knapp vorbei ist auch daneben.
Der Katalog
Der Katalog zur Ausstellung Niki de Saint Phalle wurde herausgegeben von der Zürcher Kunstgesellschaft / Kunsthaus Zürich und Schirn Kunsthalle Frankfurt. Er beinhaltet neben den obligatorischen Fotos der Ausstellungsstücke und Skizzen Textbeiträge von Rhiamnon Ash, Christoph Becker, Monster Chetwynd, Bice Curiger, Katharina Dohm, Sandra Gianfreda, Margrit Hahnloser-Ingold, Cathérine Hug, Seppi Imhof, Mickry 3, Shana Moulton, Nicolas Party und Laure Prouvost sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt Sebastian Baden. Exzellente Texte Essays, Interviews, Mailwechsel zu Autorin und Werk bieten ein großartiges Vademecum der zeitgenössischen De-Saint-Phalle-Rezeption, das seinesgleichen sucht. Deutsche und englische Ausgabe, 207 Seiten 195 Abbildungen, 23,5 x 29 cm, Softcover, Klappenbroschur, Hatje Cantz Verlag, ISBN 978-3-7757-5299-2 (deutsche Ausgabe), 978-3-7757-5300-5 (englische Ausgabe), 35 € (Schirn), 44 € (Buchhandel).
Der kostenlose Audioguide, gesprochen von Joy Denalane, erläutert die wichtigsten Werke der Ausstellung und ist kostenlos auf dem Handy erhältlich oder als Mietgerät in der Schirn für 4 €.
Das umfangreiche Rahmen und Vermittlungsprogramm zur Ausstellung ist auf der Internetseite www,schirn.de einsehbar.
Ort: Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg, 60311 Frankfurt am Main
Dauer: 3. Februar – 21. Mai 2023
Information: www.schirn.de
Email: welcome@schirn.de
Telefon: +469 29 98 82-0
Tickets: Im Onlineshop der Schirn und an der Schirn Kasse
Eintritt am Wochenende 14 €, ermäßigt 12 €, wochentags 12 €, ermäßigt 10 €, freier Eintritt für Kinder unter 8 Jahren.
Führungen: Individuelle Führungen für Gruppen sind buchbar unter fuehrungen@schirn.de
Kuratoren: Katharina Dohm, Schirn Kunsthalle Frankfurt und Schristoph Becker, Kunsthaus Zürich
Kuratorische Assistenz: Marie Oucherif