„Schon jetzt spüren Soldaten eine höhere Anspannung“

Bischof Franz-Josef Overbeck Foto: Olaf Kosinsky Lizenz: CC BY-SA 3.0 de


Die steigende Gefahr eines Angriffs Russland auf NATO-Gebiet erhöht den Druck auf die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Der Ruhrbischof  Franz-Josef Overbeck ist seit 2011 auch Militärbischof der Bundeswehr und kennt die Sorgen der Truppe.

260.000 Menschen arbeiten bei der Bundeswehr. 182.857 tun dies als Soldaten in Uniform, dazu kommen noch einmal 80.973 Zivilangestellte. Eine Zahl, vergleichbar mit der Bevölkerung einer Großstadt wie Gelsenkirchen, Kiel oder Braunschweig. Um ihre Seelsorge kümmern sich 200 Pfarrer, Priester und Rabbiner, an einem Angebot für muslimische Soldaten wird derzeit gearbeitet.

Franz-Josef Overbeck, der Bischof des Bistums Essen, ist seit 2011 auch Militärbischof der Bundeswehr – einer Armee, die seit den 1990er-Jahren an Kriegsschauplätzen wie dem ehemaligen Jugoslawien, Mali und über 20 Jahre in Afghanistan im Einsatz war. Mit dem Vollangriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, der Intensivierung des hybriden Kriegs Russlands gegen den Westen und der immer weiter steigenden militärischen Bedrohung Europas durch Putins Regime ist die Gefahr für alle, die in der Truppe dienen, noch einmal gestiegen.

Capital Beat wollte von Franz-Josef Overbeck wissen, wie die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr mit dieser Situation umgehen.

„Bundeskanzler Scholz sprach von einer ‚Zeitenwende‘ nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022. Für die Bundeswehr bedeutet dies eine Rückbesinnung auf Landes- und Bündnisverteidigung, höhere Einsatzbereitschaft und die reale Möglichkeit, in einen Krieg an der NATO-Ostflanke hineingezogen zu werden“, schreibt Overbeck auf Anfrage.

Die Militärseelsorge müsse sich fragen, was das für ihre Arbeit bedeute. Zahlen könnten die Dimension verdeutlichen:

„In 20 Jahren Auslandseinsatz in Afghanistan hat die Bundeswehr 59 Gefallene zu beklagen. Jede dieser Tragödien hat Militärseelsorger intensiv gefordert – in der Betreuung der Kameraden, der Hilfe für die Familien, der Durchführung von Trauerfeiern. Man denke an das bewegende Geläut, 59-mal beim Rückkehrer-Denkmal in Schwielowsee.“

Doch ein größerer Konflikt könnte in ganz andere Größenordnungen vorstoßen. Die Herausforderung liege aber nicht nur in den schlimmsten Krisenszenarien. „Schon jetzt spüren Soldaten, die etwa in Litauen an der Grenze zu Belarus stationiert sind, eine höhere Anspannung. Familien fragen: ‚Was passiert, wenn wirklich etwas passiert? Sind wir dann in Sicherheit?‘“

Litauen gilt als eines der wahrscheinlichsten Angriffsziele für den Fall, dass Russland die Verteidigungsbereitschaft der NATO testen will. Im Interview mit t-online sagte der Militärhistoriker Sönke Neitzel vor wenigen Tagen, dass im Herbst findet an der Nato-Ostflanke das russische Zapad-Manöver stattfinden würde. „Die litauische Haptstadt Vilnius liegt nur 30 Kilometer davon entfernt. Mein Verweis auf das Manöver diente vor allem dazu, den Ernst der Lage hervorzuheben. Russland könnte das als Möglichkeit sehen, die Nato in einem schwachen Moment zu testen.“

Die Militärseelsorge biete innerhalb der militärischen Hierarchie einen geschützten Raum, in dem persönliche Nöte, Zweifel und ethische Dilemmata ausgesprochen werden können. Damit erfülle sie nicht nur einen fürsorgerischen Auftrag, sondern trage auch dem verfassungsrechtlich verbürgten Recht der Soldaten auf freie Religionsausübung Rechnung. „Die Militärseelsorge muss also Antworten finden, wie sie in einer potenziell gefährlicheren Welt resilient bleibt und ihren Beistand erhöhen kann.“

Dazu gehöre auch, die eigenen Leute – die Militärseelsorger – psychisch zu stärken, denn auch sie stünden im Ernstfall unter enormem Druck. Die Aufarbeitung der langjährigen Einsatzerfahrungen, der Umgang mit posttraumatischer Belastungsstörung, Suizidprävention und die Betreuung der Hinterbliebenen fließen nun als Lernprozess ein. „Die Rückkehr der konventionellen Bedrohung in Europa erfordert von der Militärseelsorge ein Krisendenken, das seit Ende des Kalten Krieges so nicht mehr nötig war.“

Der Text erschien in einer ähnlichen Version bereits auf Capital Beat

 

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