„Seit der WM 2006 hat sich die Gefährderlage bei Großveranstaltungen deutlich verändert“

Magnus Memmeler Foto: Privat


Halbzeit zur EM, die in einer angespannten Sicherheitslage stattfindet, Hochwasserereignisse im Süden Deutschlands und Extremwetterereignisse, die öffentliche Veranstaltungen gefährden können, sind Anlass, um Magnus Memmeler nach seiner Einschätzung zum Bevölkerungsschutz und der Sicherheit bei der EM zu fragen.

Ruhrbarone: Im März haben Sie sich im Landtag NRW, gemeinsam mit anderen Experten, zum Thema „Krisen- und Notfallmanagement“ äußern dürfen, werden die Ratschläge der Experten aus dem Bevölkerungsschutz angenommen und fließen diese in das politische Handeln ein, um den Bevölkerungsschutz zu verbessern?

Memmeler: Wie in den vorangegangenen Interviews bereits betont, nehme ich tatsächlich nur Insellösungen wahr. Manche Kommunen und Landkreise stellen sich auf Stromausfälle und Hochwasserlagen ein und haben sogar gut trainierte SAE (Stäbe außergewöhnliche Ereignisse) gebildet. Den Zustand in der gesamten Bundesrepublik beschreibt dieser Beitrag sehr gut , denn vieles, was nach den Starkregenereignissen 2021 und anderen Lagen auf den Weg gebracht werden sollte, läuft eher schleppend an und zahlreiche Erkenntnisse, die Experten in Empfehlungen zusammengefasst haben, werden schlicht ignoriert.

In der von Ihnen angesprochenen Anhörung im Landtag wurde ich gefragt, ob ich die Gründe für die Katastrophendemenz von Politik und Verwaltung kennen würde.  Diese Frage resultierte aus den Vorträgen der eingeladenen Experten, die monierten, dass die Erkenntnisgewinne aus vergangenen Schadenslagen nicht in Strategien und Gesetzgebung mündeten. Unterstrichen wurde dies von mir, indem ich den von Albrecht Broemme (ehem. THW Präsident) geprägten Begriff der Katastrophendemenz genutzt hatte. Sehr gerne hätte ich geantwortet, dass ich reich und gefeierter Berater wäre, wenn ich die eine und eventuell sogar heilende Antwort hätte, die zum Umdenken führt. Stattdessen habe ich auf die Realität verwiesen. Fehlende Fachkräfte in Kitas bestimmen den politischen Alltag nun mal mehr, als dies in der Vergangenheit bei Schadenslagen mit erheblichem Ausmaß der Fall war. Die Tatsache, dass unter anderem der Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft Koblenz zur Katastrophe im Ahrtal nicht veröffentlicht wird  , zeigt vielen jedoch auch, dass man die Bevölkerung mit Erkenntnissen zu Versäumnissen eventuell nicht beunruhigen will. Außerdem könnten die Forderungen nach teuren Maßnahmen im Bevölkerungsschutz noch lauter werden, als dies bereits der Fall ist.

Auch in dieser Landtagsanhörung wurde deutlich gefordert, dass wir uns endlich ehrlich machen müssen. Was ist der Bevölkerungsschutz in der Lage zu leisten? Das Ehrenamt, welches sich jahrelang im Bevölkerungsschutz engagieren will, nimmt ab. Parallel nehmen Extremwetterereignisse stetig zu, wie wir im ersten Halbjahr 2024 bereits erfahren durften. Spezialisierte Firmen, die Profis und professionelles Material zu Bewältigung von Schadenslagen bieten, werden zukünftig deutlich früher und häufiger eingebunden werden, als dies jetzt bereits der Fall ist.  Dies sieht man ja auch bei der aktuell in der BRD stattfindenden UEFA Fußball EM.

Ruhrbarone: Wie steht es um die Absicherung der EM? Sie können den Vergleich zur WM 2006 ja sehr gut anstellen, da Sie auch bei der WM schon involviert waren.

Memmeler: Um den Leserinnen und Lesern etwas Sorge zu nehmen, möchte ich betonen, dass sich alle Beteiligten, die Sanitätsdienste stellen oder in der erweiterten Gefahrenabwehr Komponenten des Katastrophenschutzes vorhalten, um im Ereignisfall eingreifen zu können, sehr gut vorbereitet haben. Das ist gut, war aber auch erforderlich.

Das Ehrenamt, welches für einige warme Worte und die berühmte Bratwurst viele Stunden Freizeit opfert, gibt es nicht mehr in dem Umfang, wie es 2006 noch der Fall war. Deshalb war es gut, dass alle am Bevölkerungsschutz beteiligten Sicherheitsbehörden die vorhandenen Konzepte beprobt haben, um unter anderem festzustellen, ob die bislang unterstellten Helferinnen und Helfer mit der erforderlichen Qualifikation zur Verfügung stehen, um zum Beispiel einen Behandlungsplatz 50 oder einen Patiententransportzug zur Verfügung stellen zu können. Unter anderem diese Komponenten stehen nämlich an allen Spieltagen in den Spielstädten und allen Standorten mit Fanmeilen in Bereitschaft, um im Schadensfall schnell eingesetzt werden zu können. Zusätzlich stehen diese Komponenten in den Nachbarkreisen und Nachbarstädten in Bereitschaft, um im Schadenfall schnell hinzugezogen werden zu können. Um dies alles sicherstellen zu können, ist zunehmend professionelles Personal erforderlich, da einige Qualifikationen, wie zum Beispiel die des Notfallsanitäters, nicht mehr ehrenamtlich zu erreichen ist.

Gleiches gilt für die vielen Fanzonen, die 2006 fast ausschließlich durch ehrenamtliches Personal der Hilfsorganisationen abgesichert wurden. In NRW sind beispielsweise die Fanzonen in Dortmund und Gelsenkirchen vollständig von Privatfirmen abgesichert, da sich der Ehrenamtsschwund im hochqualifizierten Bereich des Bevölkerungsschutzes seit 2006 deutlich bemerkbar gemacht hat. Da ich 2006 für eine Hilfsorganisation tätig war und nun in einem privaten Rettungsdienstunternehmen beschäftigt bin, kann ich den Wandel recht gut beurteilen und begrüße es deshalb, dass sich unter anderem die Mitglieder des HBK-NRW e.V. (Hilfswerk für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe privater Rettungsdienste Nordrhein-Westfalen e.V.) in den Sanitätsdienst bei Großveranstaltungen und in den Bevölkerungsschutz einbringen. Zur Realität des Bevölkerungsschutzes gehört die Erkenntnis, dass es nur gemeinsam funktioniert und die alten Kontaktängste zwischen Hilfsorganisationen und Privaten langsam über Bord geworfen gehören.

Richtig ist aber auch, dass die Fußball EM 2024 unter ganz anderen Umständen stattfindet, als dies bei der Fußball WM 2006 der Fall war. Viel intensiver als 2006 wurden in diesem Jahr die Gefahrstoffeinheiten des Bevölkerungsschutzes trainiert und vorgehalten, um im Ereignisfall zum Einsatz gebracht werden zu können, denn wie jeder weiß, hat sich die Gefährderlage bei Großveranstaltungen deutlich verändert. Erst in dieser Woche sind Jugendliche verurteilt worden, die sich radikalisiert haben und einen Anschlag auf eine Kirmes in Leverkusen geplant hatten. Zum Jahreswechsel stand der Kölner Dom unter besonderen Schutz und seit Jahresbeginn kam es bereits zu einigen Festnahmen von potenziellen Gefährdern. Deshalb ist es gut, dass sich alle am Bevölkerungsschutz beteiligten Organisationen und Behörden gut auf dieses Großereignis vorbereitet haben und bemessen wurde, was man zu leisten im Stande ist. Nichts wäre schlimmer, als auf etwas zu vertrauen, was nicht abrufbar ist.

Neben dieser Gefährdungssituation, die der weltpolitischen Lage geschuldet ist, besteht aber weiterhin das Risiko von Extremwetterereignissen, weshalb es gut ist, dass sich die Wetterwarnsysteme nach 2021 besser etablieren konnten und die Veranstalter sensibel auf Extremwetterwarnungen reagieren. Aus diesem Grund ist es bereits zu Absagen von Fanfesten gekommen, da niemand tausende Fans gefährden wollte, um den Umsatz auf den Fanmeilen nicht zu gefährden. Viele erinnern sich noch an den Pfingststurm Ela 2014 , der auch einige Großveranstaltungen empfindlich getroffen hatte. Solche Vorfälle sollen bei dieser EM durch intensive Wetterbeobachtung ausgeschlossen werden. Da Wetter aber eben nicht immer berechenbar ist, wird sehr viel Vorhaltung im Bevölkerungsschutz auch betrieben, um für solche Schadenslagen gut aufgestellt zu sein. Begleitet wird dies alles auch noch durch den Faktor Mensch, da eskalierende Fanfeste ebenfalls zu zahlreichen Verletzten führen könnten.

Im Gegensatz zum Alltag, handelt es sich bei der EM aber um eine gut vorplanbare Veranstaltung. Hier wissen wir, wann und wo eine Veranstaltung stattfindet, und in der Vorbereitung konnte ermittelt werden, wie schwer es eventuell war, alle Komponenten bereitzustellen, die zu einer sicheren EM beitragen. Auch diese Erkenntnisse gilt es nun in den Alltag zu transformieren, um einen alltagstauglichen Bevölkerungsschutz gewährleisten zu können.

Ruhrbarone: Herzlichen Dank für diesen kleinen Einblick in intensive Vorbereitungen auf die EM und die bestehenden Herausforderungen für Sanitätsdienst und Bevölkerungsschutz bei Großveranstaltungen. Kommen wir zum Alltag. Was beschäftigt Sie und andere? Oder um provokant nachzufragen, wie katastrophal steht es um den Katastrophenschutz?

Memmeler: Meldungen wie die zum Zustand von Fahrzeugen des Bevölkerungsschutzes in Berlin lassen die Vermutung zu, dass alles eine reine Katastrophe ist. Das ist zum Glück nicht die ganze Wahrheit, auch wenn solche Meldungen zeigen, wo wir uns kaputtgespart haben. Meldungen wie die des vfdb ( Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes )  zeigen, dass es besser werden kann, wenn Konsequenzen gezogen werden und beweisen damit, dass der Bevölkerungsschutz nicht aufgibt, sondern sich weiter dafür einsetzt, dass die Bevölkerung vor Gefahren geschützt wird.

Der Großauftrag für Hubschrauber, die im Bevölkerungsschutz eingesetzt werden könnten zeigt, dass die mantrenartigen Vorträge von Waldbrandexperten endlich zu einer Berücksichtigung des Löscheinsatzes aus der Luft geführt haben, die wir sonst nur aus Südeuropa oder den USA kennen. Neben dem Material muss nun noch die begleitende Gesetzgebung geschaffen werden, damit ein Landrat nicht zögern muss Löscheinheiten aus der Luft anzufordern, weil noch kein Katastrophenfall ausgerufen wurde, der die Kostenübernahme regelt, ohne dass der Landrat oder die Landrätin auf den Kosten sitzen bleibt. Den Einsatz von Löscheinheiten aus der Luft begleiten noch viele Herausforderungen, deren Erklärung hier aber zu weit gehen dürfte.

Leider lesen wir aber auch Meldungen, die zeigen, dass zum Beispiel der Hochwasserschutz weiterhin vernachlässigt wird Besonders in diesem Bereich ist Prävention extrem wichtig und könnte Schäden in Milliardenhöhe deutlich mildern. Die Bilder aus dem Saarland und Bayern sind uns allen noch präsent und die Hochwasserlage zum Jahreswechsel ist noch auf zahlreichen Feldern an den sichtbaren Ernteausfällen zu erkennen. Lokale Ereignisse, wie in dieser Woche im Kreis Lippe und an anderen Orten, zeigen, wie gefährlich Starkgewitter sein können, die sich lokal festsetzen und so extrem große Regenmengen produzieren, die zu Überflutungen führen. Hier darf man sich nicht allein auf die Schadensabarbeitung konzentrieren, sondern neben effektiven Schutzkonzepten, muss die Prävention deutlich verbessert werden.

Auch das Thema Stromausfall spielt in der Betrachtung von Schadenszenarien leider wieder eine geringere Rolle, als dies bei der drohenden Gasmangellage der Fall war, die uns durch den Ukrainekrieg intensiv beschäftigt hat. Schäden an Trafohäusern, wie in diesem Beitrag  können ebenso eine Herausforderung sein, wie Schäden, die sich auf Oberleitungen auswirken. Ebenso können Schäden in Umspannwerken zu Stromausfällen führen. Richtig übel wird es natürlich, wenn Hochwasser und Energieausfall zeitgleich zu beklagen sind, wie es in Teilen des Saarlandes der Fall war Bei diesen Beispielen handelt es sich ausschließlich um lokale und temporäre Stromausfälle, die den Bevölkerungsschutz jeweils nur kurz vor Herausforderungen gestellt haben. Da die wichtigste Komponente bei der Energiewende, nämlich die Netzertüchtigung, bislang verschlafen wurde, kann auch ein flächiger und deutliche längerer Netzausfall drohen, wenn es mal nicht gelingt, alle Schutzmaßnahmen unmittelbar einzuleiten. Auch beim Thema Stromausfall sind einige lokale Leuchtturmprojekte zu identifizieren. Ein abgestimmtes und bundesweites Konzept ist aber ebenso wenig zu erkennen, wie Konzepte in den Bundesländern, die den Katastrophenschutz als Länderaufgabe unbedingt behalten wollen, wenn er denn günstig zu haben ist.

Beim Thema Zivilschutz, der Aufgabe des Bundes ist, erkennen wir auch fast ausschließlich die Folgen des Sparens. Die Herausforderungen für den Zivilschutz beschreibt beispielsweise Herr Broemme wieder sehr pointiert All das aufzuarbeiten, was nach dem kalten Krieg zurückgefahren wurde, bedarf nun extrem viel Zeit, politischen Willen und ganz besonders viel Geld. Diese Gemengelade verursacht leider momentan immer nur reflexartige Rufe einiger Organisationen zur Verbesserung der eigenen Situation, statt mit allen Beteiligten zu schauen, wie man gemeinsam und in leider kleinen Schritten Verbesserungen erreichen kann. Der ganz große Wurf, dass muss uns allen klar sein, ist weder finanziell noch organisatorisch möglich. Kommunen und Landkreise müssen nun an leistbaren regionalen Konzepten des Bevölkerungsschutzes arbeiten, die auch einen kleinen Beitrag zum Zivilschutz darstellen. Bund und Länder müssen endlich die Blut-Hirn-Schranke zwischen Katastrophenschutz, als Aufgabe der Länder, und Zivilschutz, als Aufgabe des Bundes, überwinden, damit zumindest eine Harmonisierung der Konzepte erreicht wird, wenn große Investitionen als momentan nicht darstellbar eingestuft werden.

Bis die ersten signifikanten Verbesserungen in Zivil- und Katastrophenschutz greifen, muss ganz schnell die Selbstschutzbefähigung der Bevölkerung verbessert werden, denn was den Bevölkerungsschutz betrifft, gehört die gesamte Bevölkerung zur Generation X, die allinklusive unterstellt, wenn es darum geht, dass im Schadenfall Hilfe kommt. Wie wir wissen, wird das nicht passieren. Das muss man den Mitmenschen immer wieder deutlich sagen.

Und jetzt wünsche ich allen Fußballfans und allen eingesetzten Kräften, auch denen der Polizei, eine friedliche Europameisterschaft und uns allen die Erkenntnis, dass der Bevölkerungsschutz bald auf Reserve fährt, wenn wir nicht langsam erkennen, was wir vernachlässigt haben.

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