Dietrich Schulze-Marmeling ist für klare Worte und scharfe Analysen bekannt. Der 65-Jährige Journalist und Buchautor stand diesem Blog in der Vergangenheit schon häufiger in Interviews Rede und Antwort.
Auch mit einigen seiner Bücher haben wir uns hier bei den Ruhrbaronen schon einige Male beschäftigt. Zuletzt stellten wir im Frühjahr sein Buch „Tradition schießt keine Tore“ aus dem Verlag ‚Die werkstatt‘ vor, in dem er gemeinsam mit Marco Bode einen Blick auf den SV Werder Bremen wirft. Im Oktober dieses Jahres wird Schulze-Marmeling mit „1990 – Eine WM, die alles veränderte“ ein weiteres Werk herausbringen, das uns dann hier an dieser Stelle mit Sicherheit auch wieder eine Vorstellung wert sein wird.
Bis es soweit ist, hat sich Ruhrbarone-Autor Robin Patzwaldt aber zunächst einmal mit dem engagierten Fußballfan über den nahenden Bundesligastart und den Stand der Dinge beim Kampf gegen die bei vielen Fans ungeliebte WM in Katar ausgetauscht, bei dem Schulze-Marmeling ebenfalls sehr meinungsstark als einer der Wortführer vertreten ist.
Hallo Dietrich! Toll, dass du dir heute noch einmal die Zeit für uns und unsere Leser nimmst. Sag mal, kannst du dich trotz der inzwischen zehn Meisterschaften in Serie für den FC Bayern München eigentlich noch so richtig auf die jetzt anstehende Saison 2022/23 in der Fußball-Bundesliga freuen?
Nicht so wirklich. Was hat uns in der letzten Saison emotional berührt? Der zehnte Titel in Folge für die Bayern? Nein. Berührt haben die Kampagne und der Triumph der Frankfurter in der Europa League, also in der zweiten europäischen Liga. Aus der Sicht der Bayern und des BVB ist das ja eine Veranstaltung unter ihrer Würde – eben nur europäisches Unterhaus. Aber hätten die Bayern die Champions League gewonnen, also die erste europäische Liga, wäre die Begeisterung darüber nicht halb so groß ausgefallen. Außerhalb der Bayern-Community hätte dies niemanden berührt. Ich finde, das ist eine interessante Beobachtung – es muss nicht immer der ganz große Fußball sein. Und in Bremen war die Begeisterung seit dem Double von 2004 nicht mehr so groß. Warum? Weil man wieder aufgestiegen war. Nicht nach zehn Jahren zweite Liga, sondern lediglich nach einem. Und dann hatten wir noch das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Münster und Essen in der vierten Liga – mit ausverkauften Häusern am letzten Spieltag. Fußball ist offensichtlich doch mehr als nur Bayern und BVB. Und das ist gut so.
Die Bundesliga habe ich im letzten Jahr nur halbherzig verfolgt. Spannend fand ich – wie immer – Freiburg, aber auch Köln und Union.
Erwartest du denn, dass es diesmal zumindest mal wieder etwas spannender an der Spitze wird als zuletzt?
Ich hoffe es….Die Voraussetzung dafür ist dann gegeben, wenn der FC Bayern Probleme hat und der BVB zu 90 % alles richtig macht. Nun hat man in der Kritik an Bayerns Kader-Politik und der neuen Führung um Oliver Kahn etwas übertrieben. Da schwingt immer etwas zu viel Hoffnung mit. Der Kader der Bayern ist dergestalt, dass der elfte Titel in Folge eher wahrscheinlich ist. Jedenfalls wahrscheinlicher, als einige noch vor einigen Wochen dachten.
Lass uns mal im Einzelnen auf die jetzt wieder drei Erstligisten aus dem Ruhrgebiet schauen. Wie beurteilst du die Ausgangslage beim BVB?
Ich glaube, dass der BVB einige gute Entscheidungen getroffen hat. Angefangen mit dem Trainer. Seit Klopps Weggang ist die schwarz-gelbe Trainerhistorie ja mehr oder weniger ein Desaster. Man holte Favre und Tuchel, beide schätze ich sehr, und stellte zur eigenen Überraschung fest, dass es sich tatsächlich um Favre und Tuchel handelt. Hole ich einen Favre, dann weiß ich, dass er einen anderen Fußball spielen lässt als Kloppo. In der Vergangenheit hatte man den Eindruck: Oberstes Kriterium bei der Verpflichtung des Trainers ist dessen Bekanntheitsgrad. Oder ob der Kandidat gerade en vogue ist. Ich hoffe, dass man nun Terzic etwas Zeit zugesteht. Klopp wurde auch nicht im ersten Jahr beim BVB Meister. In seiner ersten Saison wurde der BVB Sechster und schied im Uefa-Pokal in der ersten Runde aus. Natürlich war die Ausgangsposition eine völlig andere als heute. 2011 wurde der BVB dann eher überraschend Meister – mit einem Kader, der auf dem ersten Blick mit dem der Bayern nicht mithalten konnte. Neuerwerbungen wie Lewandowski und Kagawa kannte damals kaum jemand. Pisczek kam vom Absteiger Hertha, Götze aus der hauseigenen Jugend. Und wer – bitte schön – war Kevin Großkreutz, der ein Jahr zuvor zurückgekommen war, als BVB-Jugendlicher aber nicht für ausreichend gut befunden wurde. Klopp war einfach groß darin, Spieler und Mannschaften besser zu machen. Deshalb holte ihn auch der FC Liverpool, weil man beim von Sportunternehmern geführten Klub nicht so viel Geld raushauen konnte und wollte wie beim state owned-Klub Manchester City. Seit dem Champions League-Finale von 2013 ist die Situation eine völlig andere – und das betrifft auch die Erwartungen. Dem Trainer steht ein ansehnlicher Kader zur Verfügung, weshalb der Trainer sofort funktionieren muss. Mal einen Schritt zurückgehen, um geordnet Anlauf für den nächsten großen Schritt zu nehmen, das geht nicht.
Entscheidend für den BVB wird aber auch sein, wie er den Weggang von Haland verkraften wird, der in den letzten beiden Bundesligaspielzeiten fast ein Drittel aller Tore geschossen hat.
Wird das Sprichwort, dass das zweite Jahr in der Bundesliga immer das schwerste ist, auch diesmal beim VfL Bochum zutreffen?
Die Erwartungen an den VfL sind extrem gering, viele gehen von einem Abstieg aus. Und genau das kann dem Trainer und der Mannschaft helfen. Sie können in dieser Saison nur gewinnen. Man muss aber auch sagen: Dass ein VfL Bochum heute erstklassig ist, das ist alles andere als selbstverständlich. Zumal wenn man sich anschaut, wer dies aktuell nicht ist. Das Ziel des VfL kann doch nur immer lauten: Wir wollten unter den besten 25 sein, vielleicht auch nur unter den besten 30. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich den VfL noch einmal in der ersten Liga sehen würde.
Was wird aus den Schalkern? Müssen sie um den Klassenverbleib zittern, oder ist vielleicht sogar mehr drin?
Für Schalke wird entscheidend sein, dass man endlich Leitplanken gesetzt bekommt, innerhalb derer man sich bewegt und entwickelt. Das habe ich in den letzten Jahren nicht gesehen. Vielleicht war einer der größten Fehler der letzten Jahre, dass man sich von Tedesco trennte. Ich denke, der Klassenerhalt sollte drin sein.
Welches Team hat das Potenzial zur positiven Überraschungsmannschaft der Spielzeit zu werden?
Wenn ich jetzt Bayer sage, trotz des Ausscheidens im DFB-Pokal, nenne ich keinen Underdog. Freiburg war schon in dieser Saison eine Überraschung. Frankfurt hat die Belastung durch die Champions League und wird perspektivisch aufpassen müssen, dass man nicht den Weg von Gladbach geht. Stuttgart habe ich in der letzten Saison höher eingeschätzt, vielleicht sieht es dieses Jahr besser aus. Die dortigen Macher – Matarazzo und Mislintat – sind ja nicht die Schlechtesten. Dass Köln noch einmal so eine Saison spielt – da bin ich skeptisch. Kurz und gut: Ich sehe kein Team, das sich gegenüber der letzten Saison um sechs bis acht Plätze verbessern wird.
Wer muss deiner Meinung nach am Ende absteigen?
Für Bochum könnte es schwer werden. Für Bremen, so sagt man, auch. Wobei ich mir bei Werder auch vorstellen kann, dass sie eine bessere Saison spielen als gemeinhin erwartet. Dann ist da noch Augsburg, die man eigentlich jedes Jahr nennt, die es dann aber immer auf unauffällige Weise doch schaffen. Ich kann mir vorstellen, dass es in dieser Saison ab Platz 10 sehr eng zugeht. Letztes Jahr war es leichter: Fürth war für mich der heißeste Kandidat, gefolgt von Bielefeld, Augsburg und Bochum. Diese Klubs belegten dann die Plätze 18, 17,14 und 13.
Die TV-Anstalten und Vermarkter der Liga sind sicherlich froh, dass für Fürth und Bielefeld nun Bremen und Schalke zurück sind. In der vergangenen Saison war die zweite Liga mit Bremen, Schalke, HSV, St. Pauli, Nürnberg, Düsseldorf, Hannover, Karlsruhe und Dresden namhafter als die erste Liga ab Platz zehn.
Diese Saison wird ja durch die bei vielen Fans ungeliebte WM in Katar unterbrochen werden. Welche Auswirkungen wird das in den kommenden Monaten haben? Wird sich die Negativstimmung in Bezug auf dieses Turnier noch einmal verstärken, oder wird die Akzeptanz, die zuletzt spürbar gestiegen zu sein schien, am Ende die Oberhand behalten?
In unserer Kampagne fand ich interessant: Für viele der organisierten Fans ist Katar nicht so wirklich ein Thema. Warum? Weil man mit der FIFA ohnehin abgeschlossen hat. Und die Nationalelf ist bestenfalls die „zweite Liebe“, häufig aber nicht einmal das. Die lange Winterpause wird sicher viele nerven, davon könnte der Fußball unterhalb der Profiligen profitieren.
Ich sehe nicht, dass die Akzeptanz gestiegen ist. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ansonsten würde Bierhoff nicht plötzlich die Repression von Schwulen und Lesben in Katar entdecken. Nach dem Motto: Ja, wenn wir das gewusst hätten…Die Kampagne bekommt deutlich Zulauf, im Stadion sind immer häufiger kritische Transparente zu sehen. Bei den Fans der Vereine ist es nur einfach so: Hier ist nur der FC Bayern direkt betroffen, und da sind die Proteste massiv.
Von denjenigen, die die Verhältnisse in den letzten Monaten schön geredet habe, das kleinste Reförmchen wurde zu einer Revolution hochgejazzt, mit einer Strahlkraft auf die gesamte Region, vernehme ich jetzt eine neue Argumentation: Ist alles zu groß, ist alles miteinander vernetzt, da gibt es fast 200 Länder und Verbände mit unterschiedlichen Interessen, in sowieso denken sie anders als wir es tun, wenn wir die WM boykottieren, müssen wir auch das Engagement von VW boykottieren, wir können da eigentlich gar nichts machen – mit dieser Denke kann ich auch mein Engagement gegen die Klimaerwärmung einstellen, eigentlich jedes politische Engagement. Des Weiteren beobachte und höre ich, dass sich innerhalb der Funktionärsetagen folgende Haltung breit macht: Das Kind ist in den Brunnen gefallen, wir bekommen das Event nicht mehr wirklich sauber. Also Augen zu und durch. Und dann schauen, dass wir mit der EM in Deutschland ein Turnier hinbekommen, auf das sich wieder alle freuen können. Eine weitere Runde Sportwashing – aber dieses Mal für Diversität, Demokratie etc.
Danke für die einmal wieder sehr klaren Worte, Dietrich!
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