Selbstbestimmungsgesetz: Der deutsche Holzweg beim gender-affirmativen Ansatz

Till Randolf Amelung Foto: Joanna Nottebrock


Im neuen Selbstbestimmungsgesetz wird in Deutschland auch bei Minderjährigen der gender-affirmative Ansatz angewandt. Doch in anderen Feldern, insbesondere der Medizin nimmt der Dissens über diesen Ansatz zu. Vor allem im Ausland rückt man vom gender-affirmativen Modell wieder ab. Auch in Ländern wie den USA und Kanada, wo das affirmative Modell besonders weit verbreitet war, dreht sich der Wind.

Das zum 1. November in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz sieht nicht nur für Erwachsene vor, dass es jenseits der Selbstauskunft keine Nachweise über vorliegende Trans- oder Intergeschlechtlichkeit mehr benötigt. Auch für Minderjährige entfallen diese. Es ist lediglich die Zustimmung der Eltern notwendig sowie eine Zusicherung, im Vorfeld beraten worden zu sein. Mit diesem Prinzip setzte die am letzten Mittwoch geplatzte Ampelkoalition transaktivistische Forderungen um.

Wie sicher ist Geschlechtsidentität bei Minderjährigen?

Grundgedanke ist, dass jeder Mensch unabhängig vom Alter ein sicheres und stabiles Wissen über die eigene Geschlechtsidentität hat, was daher unhinterfragt bestätigt werden muss. Dieses Modell ist auch als „gender-affirmativ“ bekannt. Transaktivisten geht das Selbstbestimmungsgesetz hinsichtlich der Altersgrenze allerdings nicht weit genug – sie wollten, dass Minderjährige bereits ab 14 Jahren ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ändern können. Das war den politisch Verantwortlichen dann aber doch ein wenig zu heikel.

Oft kommt der Vergleich, dass in Fragen der Religionszugehörigkeit 14-Jährige ebenfalls schon selbständig entscheiden dürften. Außerdem wird betont, dass eine Affirmation wichtig für die psychische Gesundheit sei. Schnell fällt dabei auch das Wort „Suizid“ als Drohkulisse. Ebenso wird betont, dass es ja nur um eine Änderung auf dem Papier gehe, nicht jedoch um medizinische Maßnahmen.

Was hier aber gern weggelassen wird: „Gender-affirmativ“ ist ein Anspruch, der sich auf alle Ebenen einer Geschlechtsangleichung bezieht. Das heißt, nicht nur juristisch wirksame Änderungen von Dokumenten, sondern auch sozial und medizinisch. Letzteres geschieht bei Minderjährigen auch medikamentös mit Pubertätsblockern, die im späteren Verlauf mit Östrogenen oder Testosteron ergänzt wird. Hinzu kommt, dass ein vorheriges Abklären, ob andere Ursachen für das Unbehagen mit dem biologischen Geschlecht vorliegen, von Transaktivisten als „Konversionstherapie“ gebrandmarkt wird, also tabu ist.

Bahnbrechender Cass-Report

Ein Blick ins europäische und nordamerikanische Ausland zeigt jedoch, dass die Annahmen des gender-affirmativen Ansatzes gerade bei Minderjährigen auf einer wissenschaftlich nicht ausreichend abgesicherten Grundlage beruhen. Besonders eindrücklich wurde das im April dieses Jahres in Großbritannien mit dem Abschlussbericht von Hilary Cass belegt, die 2022 vom National Health Service (NHS) in Auftrag gegeben wurde, nachdem es über mehrere Jahre hinweg massive Beschwerden über die Behandlungsqualität der mittlerweile geschlossenen Genderambulanz der Londoner Tavistockklinik und den wegweisenden Gerichtsprozess der ehemaligen Patientin Keira Bell gab. Diese Ambulanz hat nach dem gender-affirmativen Modell behandelt.

Dies bedeutete zum einen, dass in dieser Genderambulanz Pubertätsblocker verschrieben wurden, obwohl ihr Nutzen-Risiko-Verhältnis für diese Patientengruppe nur unzureichend erforscht ist. Zugleich stiegen in den vergangenen Jahren die Zahlen in allen westlichen Industrienationen stark an, d.h. immer mehr Kinder und Jugendliche kamen mit einem Transitionswunsch auf Behandler zu. Waren es in den Anfängen dieses Behandlungsangebots vornehmlich biologisch männliche Kinder und Jugendliche mit einer weiblichen Geschlechtsidentität, so kehrte sich das Geschlechtsverhältnis in den letzten Jahren radikal um. Bisher hat niemand eine abschließende Erklärung dafür, warum erstens die Zahlen an Behandlungssuchenden so stark gestiegen ist und zweitens der Anteil biologisch weiblicher Teenager darunter so groß ist.

Hilary Cass fand in ihrer Untersuchung heraus, dass ein hoher Anteil dieser jungen Behandlungssuchenden Begleiterkrankungen, erschwerende Besonderheiten aufwiesen oder auch aus prekär sozialen Verhältnissen kamen. Durch den gender-affirmativen Ansatz wurden aber trotzdem die meisten dieser Patienten mit Pubertätsblockern behandelt. Was Aktivisten und ihnen zugeneigte Mediziner gern als „Pausenknopf“ verharmlosen, ist in Wahrheit ein massiver Eingriff in den Hormonstoffwechsel. Viele der jungen Patienten hätten eher andere Ansätze gebraucht, die vor allem die begleitenden Erkrankungen und schwierigen biografischen Umstände stärker beachten, bevor sie medikamentös auf einen Weg gesetzt werden, der zumeist irreversible Behandlungen bedeutet.

Wachsende Kritik auch in Deutschland

Kritische Mediziner weisen schon länger auf die zu dünne Studienlage zum Nutzen dieser Behandlung hin. In Deutschland ist das der Münchener Psychiater Alexander Korte. Inzwischen gibt es hierzulande noch weitere Ärzte, darunter Florian Zepf, der zusammen mit anderen ein Paper zu Evidenzbasis veröffentlicht hat.

Großbritannien, aber auch andere Länder wie alle skandinavischen, rücken vom affirmativen Konzept wieder ab. Pubertätsblocker werden dort nur noch im Rahmen von klinischen Studien eingesetzt. In Deutschland aber, will eine Gruppe von Ärzten unter der Leitung von Georg Romer neue Leitlinien für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie implementieren, die sich an dem affirmativen Modell orientieren. Sie wurde in Grundzügen im März vorgestellt, die Veröffentlichung der finalen Fassung steht allerdings noch aus, der Dissens in der deutschen Ärzteschaft nimmt indes zu.

Jenseits des Atlantiks sorgt die Frage des bestmöglichen Umgangs mit geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen ebenfalls für Kontroversen. Gerade in den USA und in Kanada hat der gender-affirmative Ansatz weite Verbreitung gefunden. Im Kern heißt das auch, Verordnungen von Medikamenten wie Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen nach sehr kurzen und oberflächlichen Anamnesegesprächen.  In den letzten fünf Jahren haben sich immer mehr Detransitioner zu Wort gemeldet, unter ihnen viele Frauen, die ihre geschlechtsangleichenden Behandlungen bereuen und sich eine intensivere Betreuung vor irreversiblen Maßnahmen gewünscht hätten.

Verkürzte Diagnostik

Zuletzt förderte ein arbeitsrechtlicher Gerichtsprozess in den USA zutage, dass es um die angemessene Diagnostik auch in Genderambulanzen erbitterte Dispute zu geben scheint. In der renommierten Genderambulanz im Boston Children’s Hospital, die zu einer der ersten Anbieter des Ansatzes mit Pubertätsblockern in den USA gehört, wurde die Zeit für eine ärztliche Beurteilung vor Indikationsstellung für Maßnahmen wie Pubertätsblockern auf einmalig zwei Stunden verkürzt. Das kritisiert die Psychologin und ehemalige Forschungsleiterin der Genderambulanz, Amy Tishelman.

Eigentlich geht es im Prozess um die Kündigung Tishelmans, die sich von der Klinikleitung diskriminiert fühlt. Die Klinik wiederum hat Tishelman wegen mutmaßlicher Verstöße gegen den Datenschutz gefeuert. Vor Gericht kam aber auch zur Sprache, dass Tishelman sich gegen die Verkürzung der Zeit für Anamnese und Diagnostik bei geschlechtsdysphorischen Minderjährigen gewandt hat und diese als vollkommen unverantwortlich sieht. Möglich, dass die Vorgesetzten eine unbequeme Mitarbeiterin loswerden wollten.

Wegweisendes Gerichtsverfahren gegen gesetzliche Verbote

Doch in Sachen gender-affirmative Behandlungen von Minderjährigen steht in den USA noch ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof aus, dessen Urteil den Zugang zu solchen Behandlungen nachhaltig verändern könnte, wie sowohl queeraktivistische als auch konservative Akteure erwarten. Im Verfahren „United States v. Skrmetti“ geht es darum, ob gesetzliche Verbote von gender-affirmativen Behandlungen wie Pubertätsblocker gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten verstoßen.

Auslöser war das gesetzliche Verbot gender-affirmativer Behandlungen an Minderjährigen, was 2023 im US-Bundesstaat Tennessee erlassen werden sollte. Für den 4. Dezember ist eine Anhörung terminiert, in der beide Seiten ihre Argumente vortragen können. Kritiker befürchten, dass die Gesundheitsversorgung für Transpersonen generell in Gefahr sein könnte, wenn sich die Verantwortlichen von Tennessee vor Gericht durchsetzen.

Angesichts der bevorstehenden zweiten Amtszeit Donald Trumps, löst die Gemengelage im progressiven und transaktivistischen Lager Ängste aus. Immerhin konnte Trump im Wahlkampf offenbar auch mit identitätspolitischen Themen, darunter Trans, bei Wählern punkten.

Trans als Symbol für Wokeness

Die Journalistin Helen Lewis analysierte bereits Ende Oktober im Magazin „The Atlantic“ die Strategie der Republikaner: „Die Republikaner nutzen Trans-Themen als Symbol für ‚Wokeness‘ im Allgemeinen – was Konservative als Ablehnung des gesunden Menschenverstands und als von oben auferlegte, befremdliche Werte bezeichnen. In den rechten Online-Echokammern ist der Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, als ‚Tampon Tim‘ bekannt, weil er ein Gesetz unterzeichnet hat, das die Bereitstellung von Menstruationsprodukten sowohl in Mädchen- als auch in Jungentoiletten vorschreibt. Während der Reden bei Trumps Wahlkampfveranstaltung ernteten die Äußerungen über ‚Männer, die Frauensport betreiben‘ und die Aufforderung, ‚Männer aus dem Frauensport herauszuhalten‘, zuverlässig den größten Jubel des Abends.“

Lewis schreibt auch, dass die Einstellung der Mehrheit in den USA sich wohl ungefähr auf diese Formel bringen ließe: „Lasst die Menschen so leben, wie es sie glücklich macht, aber seid vorsichtig bei der Medikalisierung von Kindern und besteht auf fairen Wettbewerb im Frauensport.“ Die wissenschaftliche Evidenz untermauert diesen Standpunkt.

Unter dem Eindruck der aktuellen politischen Verwerfungen weigert sich nun Johanna Olson-Kennedy, Pädiaterin und Verfechterin des gender-affirmativen Ansatzes, die Ergebnisse einer aus öffentlichen Geldern finanzierten Studie zu Pubertätsblockern zu veröffentlichen. Diese ergab, dass die Medikamente keinen wesentlichen Einfluss auf die Psyche der minderjährigen Probanden hatten. Olson-Kennedy fürchtet, dass ihre Studienergebnisse politisch instrumentalisiert werden könnten, um gegen das affirmative Behandlungsmodell mit Pubertätsblockern zu argumentieren.

Änderungen im kanadischen Alberta

In Kanada hat die Provinz Alberta unter der konservativen Regierung von Danielle Smith im Umgang mit der Transfrage bei Minderjährigen einen Kurswechsel vollzogen. Kürzlich wurden Gesetzesänderungen verkündet, die unter Anderem operative Eingriffe bei Minderjährigen sowie Pubertätsblocker und Geschlechtshormone für Jugendliche unter fünfzehn Jahren verbieten. Ebenso dürfen Schulen nicht ohne Wissen und Zustimmung der Eltern die Geschlechtsidentität affirmieren. Auch im Sport wird es nun Einschränkungen geben, dass Mädchen- und Frauenmannschaften ausschließlich biologischen Mädchen und Frauen vorbehalten bleiben sollen.

Angesichts dieser Entwicklungen im Ausland sollten sich politisch Verantwortliche hierzulande sehr genau fragen, inwieweit sie ein Festhalten an transaktivistischen Überzeugungen noch verantworten können. Zumal, das haben die US-Wahlen gezeigt, man den Einfluss solcher Themen auf die Entscheidungen der Wähler nicht unterschätzen sollte.

Links:

https://queernations.de/todesstoss-fuer-den-gender-affirmativen-ansatz-in-grossbritannien/

https://queernations.de/umstrittene-leitlinien-fuer-transkinder/

https://queernations.de/ideologisch-getriebene-verantwortungslosigkeit/

https://www.bostonglobe.com/2024/11/01/metro/gender-affirming-care-trans-boston-childrens-hospital/

https://edmonton.ctvnews.ca/doctors-aren-t-always-right-alberta-goes-ahead-with-controversial-transgender-policies-in-3-new-bills-1.7093918

https://www.scotusblog.com/case-files/cases/united-states-v-skrmetti/

https://www.them.us/story/us-v-skrmetti-scotus-case-date-hearing-arguments

https://www.them.us/story/us-vs-skrmetti-scotus-gender-affirming-care-ban-consequences

https://www.advocate.com/news/supreme-court-transgender-case-tennessee

https://www.city-journal.org/article/what-does-the-doj-not-want-americans-to-know

https://www.nytimes.com/2024/10/23/science/puberty-blockers-olson-kennedy.html

https://www.theatlantic.com/politics/archive/2024/10/trump-rachel-levine-trans-issues/680333/?gift=SKtFP-7gCBnFn1bNJdqPMi7HvYKWE6i2zp-8rt0hypM&utm_source=copy-link&utm_medium=social&utm_campaign=share

https://blueprint2024.com/polling/why-trump-reasons-11-8/

 

 

 

 

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung