Mein Herz weint. Da saß ich nun am ersten Fußball-EM-Sonntag in der 1. Reihe in Köln-Mülheim und neben mir war der Platz leer. Von unserer Gastautorin Anna Maria Loffredo.
Die große Liebe ist unpässlich. Ob VIP-Lounge im Deutsche-Bank-Park oder doch noch Shopping auf der Art Basel, jedenfalls hieß es für den heutigen Abend einst: Ich liebe Dich und ich stehe zu Dir. Klare Verhältnisse mit der Ex im eigenen Haus nach 15 Jahren Holzkatzenstreu zu schaffen, war dann doch ein Tango zu viel. Binyamini stellt mit seinem neuesten Stück More Than genau diese Sinnfragen: Was sind gute Gründe des Lebens? Was bringt die Zukunft? Wie will ich lieben? Uraufgeführt im Dezember 2023 im Les Théâtres de la Ville de Luxembourg ist es nach dem 7.Oktober umso mehr ein Privileg, dass der israelische Choreograf Shahar Binyamini zwei Städte mit K in Deutschland für ein Gastspiel wählt, erst Karlsruhe, nun Köln.
Mein Herz stolpert. Welcher Beat gibt mir den Lebenstakt vor? More Than erklingt. Sechs Tänzer, drei männlich, drei weiblich, betreten auf ihren Fußballen die Bühne. Lange Haare wie Fell schlängeln sich zwischen Haut und fleischfarbenem Ganzkörperanzug, roh und animalisch. Die Bühne ist eine einzige Fläche Erde. Das kennen wir von Pinas Sacre. Die Tänzer vermessen gehend die ersten Minuten ihren Raum. Gehen, einfach gehen ist mitunter das Schwierigste im Tanzen, den Rhythmus finden, Zehen aufsetzen, nach vorne streben, aufrecht bleiben, fokussieren.
Mein Herz badet. Die Tänzer saugen die orientalischen Klänge auf und wringen sie mit ihrem Schweiß in den Publikumsraum aus. Die Ekstase kündigt sich jetzt schon an, wofür Binyaminis Choreografien bekannt sind. Bedächtiger Szenenaufbau, kristallklares Floorwork und inmitten von wilden Trommelklängen entfalten die sechs Tänzer im scheinbaren Chaos achtsame Formationen in Höhe, Breite, Tiefe des Bühnenraums. Die Choreografie changiert nun zunehmend zwischen Entschleunigung und Dynamik. Sehnsucht, Neugier, Freude, Furcht, Lust, Dominanz, Schmerz, Verlust, all das sind Empfindungen, die die Tänzer von innen nach außen zeigen. Es wird nah. Ihre fordernden Körper vollführen eine Fußarbeit, die manchmal wie von rituellen Kämpfern stammen könnte. Man könnte sich zu einer flappsigen Bemerkung verleiten lassen: „Mich so verrenken und zucken kann ich auch.“ „Kannst Du nicht.“ Und das macht gute Tänzer im Gaga-Tanzstil aus, wenn sie körperliche Intimität und den Ausdruck ihrer Seele dem Publikum schenken. Gaga ist eine eigene Bewegungssprache und geht auf den virtuosen israelischen Tänzer und Choreographen Ohad Naharin zurück, dessen Schüler Binyamini 2006 bis 2013 war.
Mein Herz schmeckt. Ein Pas de deux der Sinne fegt die Erde auf. Der Beat wird hart und laut. Hardcore Techno leitet das Finale ein. Staubkörner fliegen durch das Bühnenlicht und ich atme jeden Stoß der Becken, Schenkel und Rippen ein. More Than speist mich mit den Funken, denen ich als „creative chills“ nicht ausweichen kann, d.h. im Hier und Jetzt die multisensuelle Orchestrierung samt Gänsehaut über den Nacken mit Tränenschuss zu fühlen. Binyaminis Inszenierung erdet mich sprichwörtlich. Kopf und Herz finden zusammen und schließen Frieden miteinander. Binyaminis Gabe liegt darin, mit der Sprache des Tanzes Grundfragen des Seins zu stellen. Einst ein Biologiestudent, 1988 geboren, regt er die sinnliche und intellektuelle Symbiose an. Der junge Choreograf ist ohnehin ein kleines zartes Kraftpaket. Nebenbei führt er seine wissenschaftliche Sichtweise auf das Leben fort und leitet seit 2013 zusammen mit Professor Atan Gross vom renommierten Weizmann-Institut in Rechovot eine Forschungsgruppe von Tänzern und Wissenschaftlern. In Deutschland hatte Binyamini sein erstes Engagement 2017 mit der Inszenierung MENSCH am Saarländischen Staatstheater. Sein Stück Bolero von 2022 ist mit Abstand die beste Version, die man sich knapp hundert Jahre seit Ravel vorstellen kann. Ich wünsche mir, dass noch mehr Spielstätten in NRW diesen mutigen Choreografen zusammen mit seinen Tänzern einladen werden und damit nicht nur Kunstverstand, sondern auch Haltung zeigen.
Mein Herz tanzt.