Die Berliner Philharmoniker huldigen dem neuen Jahr mit einem Schmaus der Sinne. Am Silvesterabend verwandeln sich mehr als 250 Kinosäle zum Wohnzimmer der Hochkultur, wenn das renommierte Orchester mit seiner unverwechselbaren Ausdruckskraft Klassikfans betört. Brahms, Wagner und Strauss – wie aber kann akustische Brillanz im Ort für Action, Horror und Science-Fiction garantiert werden? Bei Übertragungen für die „Digital Concert Hall“ kommt die volle Leistungsfähigkeit der Philharmonie Berlin zum Tragen, um ein immersives Klangerlebnis bundesweit anzubieten. Technische Finesse können Musikenthusiasten auch quer durch NRW beim traditionellen Berliner Silvesterkonzert ab 17 Uhr genießen. Als säße man direkt vor dem Dirigenten Kirill Petrenko zwischen Violine und Cello, Tamburin und Triangel, Pauke und Harfe, erklärt Tonmeister Mirsat Neziraj im Interview, wie er eine dreidimensionale Klangumgebung der Extraklasse bei Nachos und kühlem Getränk erschafft.
Anna Maria Loffredo: Also Mirsat, you bring the magic close to me?
Mirsat Neziraj: Und wie! Also die Magie, die entsteht ja erst mal auf der Bühne. Das kommt vom Orchester, dem großen Klangkörper, da spielen über 80 Musikerinnen und Musiker zusammen. Wenn man das Glück hat, eine Karte fürs Silvesterkonzert zu ergattern, erfährt man diese Magie in der Philharmonie. Für diejenigen, die keine Karte haben, bringen wir die Magie des Orchesters in den Kinosaal in ihrer Nähe.
Anna Maria Loffredo: Ich bin Silvester in Köln. Deswegen habe ich mein Ticket für das Cineplex schon. Wie kann ich mich drauf verlassen, dass der Ton trotzdem sitzt?
Mirsat Neziraj: Kinos sind in der Regel gut ausgestattet und verfügen über einen Mehrkanalton. D.h., dass man über mehrere Lautsprecher beschallt wird. Sprich, man hat eine vordere, eine seitliche, hintere und mit dem Format Dolby Atmos noch eine Ebene, die über einem ist, also mit Lautsprechern an der Decke. Das Format wird zwar zur Zeit von uns wegen übertragungs- und decodiertechnischen Hürden noch nicht angeboten, aber wir arbeiten dran. Zusätzlich gibt es die Subwoofer, die besonders tiefe Töne wiedergeben. Das alles dient dazu, die Zuschauer im Kino ins Geschehen einzusaugen, also nicht nur durch das gute Bild, sondern auch oder gerade durch den Ton.
Anna Maria Loffredo: Wie kriegst Du das konkret hin, dass die unterschiedlichen technischen Endbedingungen auf der anderen Seite passgenau mit eurer Hochleistungsfähigkeit in Berlin korrespondieren?
Mirsat Neziraj: Bevor das Konzert live übertragen wird, testen wir beispielsweise um die Ecke im Kino am Potsdamer Platz, wie die Mischung des Konzerts vom Vorabend in der Originalumgebung klingt. Dafür wird eine Testschleife produziert mit den markantesten Stellen des Konzerts. Da sind dann laute und leise Stellen dabei, und Stellen mit speziellen Instrumenten, wie z.B. einer Gran Cassa, große Trommel, oder gezupften Bässen, um zu hören, ob die Balance der Frequenzbereiche stimmt. Mit diesem Off-Set im Ohr, können wir besser einschätzen, was wir im Studio an der Mischung ändern müssen, damit es dem gewünschten Klangeindruck entspricht und sendefertig im Kino landet.
Anna Maria Loffredo: Worauf achtest Du alles, damit Bild und Ton gut zusammenkommen?
Mirsat Neziraj: Die Klangästhetik im Kino ist eine andere, als auf der heimischen Stereoanlage. Man hat dieses riesige Bild der Musiker, teilweise in Nahaufnahme. Wenn dann eine Mischung erklingt, wie sie für eine CD daheim genau richtig wäre, dann passt das Gehörte mit dem großen Bild oft nicht zusammen. Es klingt ein bisschen zu weit weg für das, was man sieht. Deswegen mischt man fürs Kino etwas direkter und griffiger und zollt damit dem Bild Tribut.
Anna Maria Loffredo: Als Vertreterin des Bildes höre ich das natürlich gerne. Denn ich könnte es ja auch nur im Radio hören, aber ich mag es mit Bild und sattem Sound im Kino.
Mirsat Neziraj: Deswegen haben wir hier zu Silvester gleich mehrere Teams. Ein Team, das für das Streaming produziert in Stereo, ein Team vom Rundfunk (Radio 3 vom rbb), das diesen Stereomix fürs Radio aufbereitet, ein Team von EuroArts, die eine Mischung fürs Fernsehen machen und unser Team für die Kinoübertragung. Die Signale benutzen wir alle gleichzeitig. Die kann man mehrfach splitten. Und wir verwenden dieselben Signale für eine optimale Kinomischung.
Anna Maria Loffredo: Kannst Du dir vorstellen, dass das Thema bisschen nerdig ist? Da scheint mir ganz viel Expertendetailtiefenwissen zusammen zu kommen, um sowas authentisch in die Kinos zu kriegen.
Mirsat Neziraj: Ja, das ist schon ganz schön nerdig. Damit kann man sich schon das eine oder andere Date versauen.
Anna Maria Loffredo: Wie bist Du zum Sound gekommen? Warum ist das dein Element?
Mirsat Neziraj: Die Musik hat mich irgendwann mal gepackt, als ich mit dreizehn bei den Pfadfindern war und es toll fand, eine akustische Gitarre überall mitnehmen zu können und im Prinzip überall Musik dabei zu haben.
Anna Maria Loffredo: Wie wird man dann Tonmeister an der Berliner Philharmonie? Das ist ein recht traditionelles Haus mit hohem Qualitätsanspruch.
Mirsat Neziraj: Der klassische Werdegang eines Tonmeisters im Klassikbetrieb ist das Studium des Tonmeisters an einer Hochschule, wie zum Beispiel der UdK [Universität der Künste] Berlin oder der Hochschule für Musik in Wien oder in Detmold. Aber es gibt vielfältige Wege zu diesem Beruf zu kommen, die nicht immer geradlinig sein müssen. Ich habe z.B. vor meinem Master in Sound Studies and Sonic Arts an der UdK sogar noch eine Zeit lang VWL studiert, aber das ist eine andere Geschichte.
Anna Maria Loffredo: Also auch ein wirtschaftliches Gespür bei Kultur zu haben, finde ich in diesen Zeiten nicht unklug. Was berührt dich denn an Musik eigentlich?
Mirsat Neziraj: Mich fasziniert zunächst einmal das Spannungsfeld zwischen Klanggestalt oder Klangbeschaffenheit, Melodien, Harmonien, Dynamik und Rhythmik und die schiere Unendlichkeit der Kombinationsmöglichkeiten. Mich berührt es, wenn Musiker es schaffen, diese Elemente in eine Sprache zu verwandeln, die meine Emotionen direkt ansprechen. Ich finde es sehr schwer über Klang zu sprechen, weil einem manchmal das Vokabular dazu fehlt.
Anna Maria Loffredo: Das ist bei Bildern oft auch so.
Mirsat Neziraj: In meinem Studiengang an der UdK ging sogar ein Seminar darüber, „Sprechen über Klang“. Was mich an der Musik auch fasziniert, ist der Umstand, dass Töne eine unterschiedliche Gestalt annehmen können. Jedes Mal, wenn ein Ton eine andere Gestalt annimmt, entsteht in Kombination etwas Neues. Bekannte und gewohnte Melodien und Harmonien bekommen dadurch eine neue Gestalt, ein neues Gewand.
Anna Maria Loffredo: Danke, dass Du das sagst. Auch in der Kunst ist der Begriff der Gestalt zentral. Diesen Begriff gibt es ja sogar im Englischen, weil es kaum eine adäquate Übersetzung dahinter gibt. Die Gestalttheorie gehört zur Wahrnehmungstheorie nach Rudolf Arnheim, der in Berlin lehrte. Und da treffen wir uns dann von Klang und Bild, Gestalt zu entwerfen, eine hohe Kunst innerhalb der Künste.
Mirsat Neziraj: Man kennt es auch aus der Popmusik. Es gibt beliebte Harmoniefolgen. Die klingen aber bei jeder Band trotzdem immer wieder anders. Manche Harmoniefolge haben die Beatles, die Rolling Stones und später unter anderem Oasis gespielt, aber dann kommt Ed Sheeran und macht mit seiner Stimme aus derselben Harmoniefolge doch wieder was anderes und eigenes.
Anna Maria Loffredo: Das finde ich auch das Faszinierende an Musik und speziell bei Klassik, dass sie sich einerseits traditionell treu bleibt, aber sich andererseits doch neu erfindet, je nach Zusammensetzung. Und dieses Mal ist neben Kirill Petrenko der Starpianist Daniil Trifonov dabei, der seinen eigenen Kniff hineinbringt. Was wirst Du dabei tontechnisch beachten müssen?
Mirsat Neziraj: Grundlage einer jeden Produktion ist natürlich das Musikstück und die Besetzung. Für uns als Produktionsteam ist es wichtig zu wissen, wie das Orchester auf der Bühne sitzt, also wie ist die Besetzung, wie stark sind die einzelnen Stimmengruppen besetzt, wo genau sitzen die Stimmführer. Dementsprechend richten wir die Bühne ein und mikrofonieren. Jede Stimmgruppe bzw. jeder Stimmführer bekommt ein Mikrofon vorgesetzt.
Anna Maria Loffredo: Ein Stimmführer wäre zufällig dann auch wie der Konzertmeister innerhalb der Stimmgruppe der ersten Geigen, richtig?
Mirsat Neziraj: Genau. Stimmführer sind meistens diejenigen, die auch die meisten Solopassagen in den Stücken haben, die in einer Tonaufnahme gegebenenfalls gestützt, d.h. hervorgehoben werden, wenn es notwendig sein sollte. Tutti-Spieler erhalten selbstverständlich auch Mikrofone, werden aber oft eher als Gruppe betrachtet und deswegen nicht einzeln abgenommen. Zur Frage, was man bei einem Klavierkonzert beachten sollte, gilt im Allgemeinen: Das Soloinstrument, das in der Regel ganz vorn auf der Bühne steht, sollte in der Mischung stets präsent sein. Es darf daher nicht zu weit entfernt, also nicht zu räumlich klingen, aber auch nicht zu trocken. Es kann ruhig etwas wärmer klingen mit präsenten, seidigen Höhen, was einen gewissen Näheeindruck vermittelt. Ein Flügel im Speziellen darf ruhig breit und groß klingen, ist ja auch ein großes Instrument, sollte aber trotzdem griffig und lokalisierbar sein, dafür wird sicherlich mehr als nur ein Mikrofon zur Verwendung kommen.
Anna Maria Loffredo: Danke Mirsat für diesen technischen Einblick des musikalischen Feuerwerks, was man nun an Silvester von den Philharmonikern erwarten darf, und auch von Dir.
Mirsat Neziraj: Gerne, bin gespannt, wie es dem Publikum draußen gefallen wird.
Dienstag, 31. Dezember 2024, 17.00 Uhr
Die vollständige Liste aller beteiligten Kinos findet man unter www.berliner-philharmoniker.de/kino.