Gaming-Journalist Maurice Weber berichtet kritisch über einen Kommentar auf der Spieleplattform Steam, der kritisiert, dass im Computerspiel Hades II ein griechischer Gott im Rollstuhl sitzt. Spiele-Entwickler Thomas Mahler wiederum kritisiert Weber und zieht Vergleiche zwischen Wokeness und Holocaust. Sind Rollstuhlfahrer in Videospielen wirklich so schlimm wie der Holocaust? Als behinderter Gamer und Historiker geht Robert Herr der Frage auf den Grund.
Eigentlich haben sich alle über das neue Computerspiel Hades II gefreut. Schon der Vorgänger war ein großer Erfolg und auch das vor einer Woche veröffentlichte Hades II kommt bereits auf 94% positive Bewertungen auf der Spiele-Plattform Steam. Der Gamestar-Journalist, Streamer und Gewinner des Deutschen Computerspielpreises Maurice Weber fand trotzdem jemanden, der etwas auszusetzen hatte. Er fand auf Steam den Kommentar eines Spielers, der sich Sorgen machte, ob das Spiel vielleicht „woke“ sei, weil er unter anderem gehört habe, dass eine der Figuren des Spiels, nämlich der griechische Gott Hephaistos, Rollstuhlfahrer sei. Weber kommentierte dies auf Twitter mit: „Der traurigste Teil des modernen Gaming-Diskurses.“
Der traurigste Teil des modernen Gaming-Diskurses: Bei JEDEM neuen Spiel muss im Steam-Forum erstmal verhandelt werden, ob es denn böse „wokeness“ hat.
Hier: Zum genialen Meisterwerk Hades 2. „Leute, ich hab da nen Schwarzen gesehen! Und einen Typ im Rollstuhl! Brauche Input!“ pic.twitter.com/Cj8d0FcHcQ
— Maurice Weber (@MauriceWeber42) May 13, 2024
Der Videospiel-Entwickler Thomas Mahler, Geschäftsführer der österreichischen Spielefirma Moon Studios, wollte das nicht unkommentiert lassen und verglich in einem langen Post Wokeness mit Nationalsozialismus und dem Holocaust und wirft Weber vor, auch selbst als Journalist mit Clickbait-Artikeln und Outrage-Berichterstattung seine Brötchen zu verdienen. Auch einen auf Englisch übersetzten Ausspruch des evangelischen Theologen und Überlebenden des Konzentrationslagers Sachsenhausen zitierte Mahler. Man kann das hier nachlesen.
Als behinderter Gamer und Historiker finde ich die Debatte natürlich interessant. Persönlich stehe ich klassischen Sichtbarkeits- und Repräsentanz-Maßnahmen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Natürlich ist es ganz nett, wenn eine Puppe in der Sesamstraße im Rollstuhl sitzt – aber davon verdient keiner der mehr als 320.000 Behinderten, die in über 1000 deutschen Behindertenwerkstätten für einen durchschnittlichen Stundenlohn von unter 1,50 Euro arbeiten, auch nur einen Cent mehr. Natürlich ist es nett, wenn eine behinderte Figur in einem Computerspiel auftaucht, aber davon wird keiner der behinderten Menschen, die unter Umständen durch die illegalen Reanimationsverbote britischer Ärzte während der Corona-Pandemie starben, wieder lebendig. Solche Repräsentanz-Maßnahmen sind wie gesagt ganz nett, aber ich wünschte, dass die Twitter-Helden, die jetzt den Videospielrollstuhlfahrer auf Twitter mit so großer Vehemenz verteidigen, mal genauso vehement werden, wenn es um das reale und materielle Unrecht gegenüber Behinderten geht, die nicht aus Pixeln bestehen.
„Wer mit einem Holocaust-Vergleich in die Debatte einsteigt, braucht sich nicht wundern, wenn sie nicht unaufgeregt geführt wird“
Als Historiker wiederum finde ich es merkwürdig, dass die Debatte ausgerechnet wegen Hephaistos entbrennt. Hephaistos war in der griechischen Mythologie immer schon behindert. Ja, er wird in der Mythologie als lahm beschrieben, nicht als Rollstuhlfahrer, aber wenn wir Homers Ilias Glauben wollen, dann konnte er auch goldene mechanische Roboterdiener bauen und wer funktionierende Androiden bauen kann, der kann sich auch einen Rollstuhl bauen. Wenn das der Punkt ist, an dem jemandem nach all den Göttern, Unterweltdämonen und dreiköpfigen Hunden die „Suspension of Disbelief“ nicht mehr gelingt, dem will das auch nicht gelingen. Ich finde es auf jeden Fall eine schöne Idee, dass der Gott der abgefahrenen Gadgets sich selbst was zusammenbaut, um besser durch den Alltag zu kommen. Die griechischen Götter waren immer schon auch nur Menschen.
Was in Thomas Mahler gefahren ist, das als Ansatzpunkt für seine Tirade gegen Maurice Weber zu nehmen, weiß nur er selbst. Man gewinnt den Eindruck, dass da viel angestaute Frustration mit im Spiel ist. Dass das nicht der beste Ausgangspunkt für eine sachliche Diskussion ist, sollte klar sein. Wer sich darüber beschwert, dass Journalisten nicht ausgewogen genug berichten und Aufregung bewusst schüren, sich dann aber im gleichen Augenblick in einem Atemzug mit Holocaust-Opfern nennt, der braucht sich nicht wundern, wenn es immer schwieriger wird, eine unaufgeregte Debatte über solche Themen zu führen. Griechische Mythologie, Ödipus, selbsterfüllende Prophezeiung und so – auch nach 2500 Jahren immer noch aktuell.