Andauernd ist vom Osten der Ukraine die Rede.
Doch diese Rede bleibt oft wenig plastisch. Von Geopolitik und Krieg wird dann geschrieben, von Russland, der EU, Putin und Nazis.
Man erfährt von Waffenruhen, die gebrochen werden, was mühesam hinter dem Euphemismus „größtenteils eingehalten“ versteckt wird.
Doch wissen viele von uns nur wenig über das Land Ukraine, über die Menschen, die dort leben, über das Leben, das sie führen.
Dieser sehr persönliche Gastbeitrag soll dies ein wenig ändern.
von Marco Holtmann
Mein Name ist Marco. Ich bin 40 Jahre alt, Sozialarbeiter und arbeite seit 2 Jahren regelmäßig in der Ukraine. Der Ort, in dem ich dort Quartier finde, ist Ivano Frankivsk.
Fast alle wichtigen Zeitpunkte der jüngsten ukrainischen Geschichte habe ich dort unmittelbar miterlebt: den Sturz des alten Präsidenten, den Maidan, die Besetzung der Krim, die Besetzung der Oblasten und den Friedensgipfel von Minsk.
Anfangs wusste ich nicht viel über dieses Land am Rande der EU – jetzt weiss ich: die Ukraine ist das 2 größte Land Europas. Das Wort „Ukraine“ bedeutet so viel wie Grenzgebiet oder Militärgrenze, es entspricht in etwa unserem Begriff „Mark“.
Es gibt riesige, geschwungene, bis zum Horizont reichende Felder – mich erinnert das manchmal an das Auenland von J.R.R. Tolkien. Es würde mich nicht überraschen, wenn Frodo und Gandalf um die Ecken kommen und mich begrüßen; und manchmal
sehe ich tatsächlich Menschen, die eine gewisse Ähnlichkeit zu einem der Beiden erkennen lassen.
Immer wieder höre ich, dass die Ukraine früher die Kornkammer des Ostens war – und das glaube ich gerne, während ich Strassen durchfahre, bei denen Schlaglöcher mit einer Tiefe von 20 bis 30cm Tiefe nicht außergewöhnlich sind. Es sind 133km von vom Flughafen Lemberg nach Ivano; ein Neuling braucht dafür gute 3 Stunden. Ich schaffe es in 2,5h – ich habe die Schlaglöcher mittlerweile verinnerlicht.
Interessierten Touristen möchte ich hierzu auf den Weg geben: Mietet euch einen Jeep als Leihwagen und bleibt fein, und mit Abstand, immer, ja immer, hinter den einheimischen Fahrern. Bremst, wenn die bremsen, weicht aus, wenn die ausweichen – sonst landet ihr in einem Schlagloch!
Die Ukraine entschleunigt mich immer. Ich nehme mir Zeit für die Fahrten.
Fahre an Omis vorbei, die ihr Gemüse, ihr Obst, ihre Milch, Pilze oder Besen am Straßenrand verkaufen. Sehe die Bauern, die mit ihrer Kuh nach Hause gehen, ihre Nachbarn treffen und plaudern. Sehe Menschen die mit Pferdegespann das Heu einfahren. Beobachte freilaufende Gänse und Hühner. Überall sind streunende Hunde. Im Herbst riecht es wie in meiner Kindheit im Ruhrgebiet Kartoffelfeuer, hatte ich davor lange nicht mehr gerochen.
Was mich anfangs überraschst sind all die unfertigen, im Rohbau befindlichen Häuser. Das ist die Geldanlage der Ukrainer. Wenn Geld da ist, fließt es in die Häuser. Seit das Privatvermögen in einer Nacht- und Nebelaktion durch den Staat eingezogen wurde, vertraut man dem Bankwesen nicht sonderlich.
In den Städten gibt Einkaufszentren, aber auf dem Land finden sich Tante-Emma-Läden, die Produktis heißen. Dort wird alles angeboten. Von der Schachtel Marlboro bis zu von örtlichen Familien eingelegtem Schaschlikfleisch. Die Rezepte dafür sind Familiengeheimnisse und werden, so die Erzählungen der Einheimischen, manchmal für bis zu 30.000$ verkauft.
An den vielen Flüßen sitzen Menschen und angelen, die Kinder spielen, es wird gegrillt, gelacht, getrunken. Ich bin durch Landschaften gefahren ohne Strommasten. Dörfer ohn Elektrizität. Natur und Ruhe waren beeindruckend.
Nur kurz zur Geschichte der Ukraine. Wie ja hinlänglich bekannt sein dürfte, gibt esdie West- und die Ostukraine. Beide haben ihre eigene Geschichte; der Westen ist ideologisch eher westlich orientiert und der Osten eher östlich – was immer dies im Detail heissen mag. Ich habe schon nach meinem ersten Besuch gemerkt, das es hier nicht anders ist, als überall auf der Welt. Bundesländer erzählen Witze und haben Vorurteile über andere Bundesländer. Die Wolke von Tschernobyl flog nur über den Osten, sagt der Westen. Man kann sich denken, was der Osten sagt.
Meiner Beobachtung nach eint beide Teile eine Sache tief in ihren Herzen und das ist der Stolz auf ihre Ukraine. Eine Ukraine, die schon so viel erlebt hat. Die Menschen hier haben schon viel erdulden müssen und haben trotzdem ihren Lebensmut und ihren Stolz nicht verloren. Seit Stalin Millionen Ukrainer im Holodomor, der großen Hungernot 1932/1933, sterben liessund Sowjetrussland im 2. Weltkrieg verbrannte Erde in der Westukraine hinterließ, sind die Menschen hier nicht gut auf Russland zu sprechen.
Was kann ich noch über die Menschen sagen?
Pauschalisieren wir doch: der Ukrainer ist auf den ersten Blick eher introvertiert. Er taxiert und wartet ab. Man legt Wert auf Traditionen und Werte und ehrt die Familie. Ist das Eis gebrochen, trifft man auf sehr herzliche, offene, lebenslustige, fleißige, familiäre und respektvolle Menschen – die aber derzeit augenscheinlich angespannt sind. Man spürt die Sorge der Menschen und die Entschlossenheit das Land ihrer Väter und Mutter zu verteidigen.
Wir in Westeuropa kennen das Gefühl nicht, dass das Land in dem wir leben, bedroht und angegriffen wird. Wir kennen nicht die reale und tägliche Angst um Freunde und Familie.
Ich habe in Augen von Müttern geblickt, die Angst um ihre Söhne haben, weil der Einberufungsbefehl per Post gekommen ist, in Augen von Großvätern, die mir erzählt haben, dass sie ihre alten Gewehre entstaubt und gereinigt haben und „der Russe“ ruhig kommen könne. Ich habe lange nicht so authentischen Menschen gesehen.
In den Geschäften sind russische Produkte mit einer Fahne gekennzeichnet und werden nicht mehr gekauft. Ich hoffe sehr, gemeinsam mit den Ukrainern, dass sich die Lage wieder beruhigt, glaube es aber, gemeinsam mit ihnen, nicht.
Und trotzdem geht der Alltag weiter. Unter Anspannung – und mit knappen Ressourcen. In den Dörfern hilft man sich und man ist füreinander da. Wer gibt, der bekommt.
Ich war auf einer Hochzeit. Die Menschen gingen auf mich zu und ich musste trinken, essen und tanzen. Ich bin kein begnadeter Tänzer, aber man nahm mich an die Hand und jung und alt tanzte an den Händen gefasst im Kreis. Eine unglaubliche Nacht.
Ich war auf einem siebzigsten Geburtstag. Wir waren 13 Personen. Im Wohnzimmer stand ein kleiner Tisch mit vielen Stühlen. Da ich bereits die Schüsseln und Platten mit den Speisen in der Küche entdeckt hatte, war ich gespannt, wie wir alle an diesen Tisch passen sollten.
Die Lösung war ebenso einfach wie effektiv. Man stellte kleine Teller auf den Tisch und sparte sich Deko oder Schnickschnack.
Der Begriff Gemeinschaft wird, meinem Eindruck nach, mit mehr Leben gefüllt als bei uns. Alle haben Handys und in fast jedem Restaurant gibt es freies WLAN, aber man redet trotzdem noch miteinander und starrt nicht ständig auf das Display.
Schaschlik, Borscht, Gemüse, Obst, Samagon, Wareniki, Kartoffeln, Wein, Bier, Birkenwasser, Pilze und und und. Ich habe selten so gut gegessen und getrunken wie in der Ukraine.
Es ist herrlich. Kulinarisch eine absolute Empfehlung. Für unsere Verhältnisse sind die Preise in Restaurants nicht der Rede wert (Steak 250g kostet 4€, ein griechischer Salat 2 €, ein halber Liter Bier 1,30 € ). Es wird gerne gegrillt:Schaschlik, Fisch, Wild und Wurst. Für einen Gast gibt man bei einer Feier sein letztes Schwein, Hauptsache alle sind satt und glücklich.
Um es noch plastischer zu machen:
Geburtstagsessen eines 25jährigen Gastgebers
1. Gang: Samagon (selbstgebrannter Schnaps, Hammerzeug, macht Spass, sprich: Samachon)
2. Gang: Salate, Schmalz, Brot, Wurst, Käse, Oliven, Gurke, Tomate (eingelegt) Samagon, Wein, Wasser, Kompott (Getränk), Wasser (salzig oder normal)
3. Gang: Fisch (gegrillte Makrele) und, siehe oben, vor allem Samagon
4. Gang: Fleisch und Samagon
5. Gang: Torte und Samagon
6. Gang: Samagon
Am Tisch saßen Oma, Opa, Tante, Onkel, Mama, Papa, Schwester, Nichten, Neffen und ich.
Opa stand auf und hielt eine Ansprache für das Geburtstagskind. Im Anschluss folgte ein Samamgon. Oma stand auf, Samagon. Tante, Onkel, Mama. Es folge jeweils ein Samagon.
Dann gingen Opa und Oma nach Hause. Verabschiedung? Richtig. Samagon. Aber nicht nur einen sondern drei! Wieso? Einen trinkt man nur auf Beerdigungen.
Zwei ist eine ungerade Zahl. Logisch. Darum also mindestens drei.
Und dazu immer einTrinkspruch:auf die Liebe, die Frauen, die Freundschaft und den Esel. Wieso den Esel? Na, auf irgendetwas muss man trinken. Am Ende war ich sehr satt und sehr glücklich.
Überlebenstipp: keinen anderen Alkohol zum Samagon! Niemals! Immer viel Wasser! Wieso? Probiert es halt selber aus!
Ihr merkt schon, für mich ist die Ukraine ein tolles Land und ich hoffe, dass die Zeiten lange friedlich bleiben. Ich wünsche mir für die Ukraine Unabhängigkeit. Kein Abhängigkeit von Europa, nicht von Russland sondern die Freiheit zu handeln mit wem man will. Vielleicht wünsche ich mir, dass die Ukraine die Schweiz des Ostens wird. Wünschen kann man sich vieles.
Ich lege keinen Wert auf Objektivität in meinem Bericht.
Ich würde mir wünschen, dass viele Menschen jetzt sagen:
Ich will da hin. Ich schaue es mir an.
In diesem Sinne: Slavia Ukrajina!
Alle Fotos: Marco Holtmann
Schade,ich kriege es nicht auf .
Leider gibt es zu wenig Menschen mit soviel Herz auf dieser Welt, viele lesen Berichte weil Sie einfach nur Informativ sind, berührt werden Sie dadurch nicht und somit verstehen Sie auch nicht wirklich was die Information dabei ist.Du bist ein geiler Mensch . Klasse Bericht!!
Fahr mal nach Portugal 😉