Social Media, Internetkompetenz und das Mysterium der dauergeilen Schmachtopas

IBM von 1999 mit Instagram: Daniel Bleich


Oder: Wie ich mit Mitte 30 das Internetz neu erlernen musste und wieso Menschen im Internet aneinander vorbeireden.

Ich bin 1987 geboren, ich habe mich eigentlich immer für einen dieser „digital natives“ gehalten. Ich habe als Kind viel Zeit bei meinem Onkel verbracht, der ist ITler und hatte eine klare Idee, was das Kind für sein Leben benötigt. So geschah es, dass ich in sehr jungen Jahren die Rocky Horror Picture Show (Bless my soul!) sah, an PCs rumschraubte und mit 7 Jahren problemlos Windows-Installationen aufsetzen konnte. Die ersten Webseiten schrieb ich ums Jahr 2000, heute kaum vorstellbar, von Hand. HTML-Code, diese Webseite ist für die Auflösung 1024 x 768 optimiert, the good old times.

Ich bin jung, ich lebe in keiner Bubble und ich verstehe und kenne die Entwicklungen der digitalen Welt. Außerdem verstehe ich was von Kommunikation, hatte ich doch in verschiedenen Medienorganisationen gearbeitet und mich intensiv mit Außendarstellung beschäftigt.

Davon war ich zumindest überzeugt. Ein für mich bis heute präsenter Moment, der diese Überzeugung ins Wanken brachte, kam 2017 mit dem Terroranschlag auf ein Konzert von Ariana Grande. Der Anschlag war ein grausames Verbrechen, das steht außer Frage, für mich blieb jedoch noch etwas anderes hängen: Ich hatte den Namen Ariana Grande zuvor noch nie gehört. Meine erste Reaktion war: „Wer?!“

Zahllose, insbesondere junge Menschen weltweit teilten ihre Anteilnahme. Ich war 29 und wusste: Das mit dem „jung“ musst du nochmal reflektieren. Und das mit der Kommunikation auch. Mir waren einige strategische Fehler unterlaufen. Ich ging in der Annahme, da ich ja jung bin und Entwicklungen verstehe, dass mein Mediennutzungsverhalten und meine Informationsaufnahme repräsentativ seien. Weit gefehlt.

Für junge Menschen, das zeigen Untersuchungen, ist Social Media heute die wichtigste Informationsquelle. Traditionelle Medien, Zeitungen und TV verlieren, insbesondere bei Kindern, nahezu jede Relevanz. Das führt zu einer Informationsasymmetrie, die gefährlich werden kann (aber nicht muss). Die letzten 200 Jahre war Informationsfluss relativ klar geordnet: Es gibt Medienhäuser, dort gibt es Redakteure und im Haus findet bereits eine Qualitätsprüfung statt, sodass das kommunizierte Ergebnis zwar ideologischer Prägung unterlag, aber qualitativ meistens ein hohes Level hatte (Ausnahmen wie der Stürmer bestätigen die Regel). Die Konsumenten konnten nun wählen, welches Medienhaus für sie die geeignete Aufbereitung vornahm.

Mit dem Aufstieg des Internets änderte sich das schlagartig. Heute kann im Prinzip jeder, der über ein Smartphone verfügt, als Informationsquelle auftreten und Meinungen und Positionen mit dem Rest der Welt teilen. Kombiniert man dies mit der Werbung für Produkte oder Dienstleistungen, ist man Influencer.

Ich hielt Instagram und TikTok lange Zeit für unnötig, ich kannte auch niemanden, der die Plattformen nutzt. Facebook bot die besseren und übersichtlichen Kommentarfunktionen und bot so die bessere Möglichkeit, um Diskussionen zu führen. Dann lernte ich meine spätere Ehefrau kennen, die Instagram für alles Mögliche nutzt. Kommunikation, Katzenvideos, Ideen für Urlaube und Kochrezepte sowie Informationen, Nachrichten. Ich tauchte in eine mir unbekannte Welt ein.

Die dabei, teilweise aus Kinderzimmern, erzielten Reichweiten lassen Medienkonzerne neidisch werden. Der US-Amerikaner Ryan Kaji beispielsweise dreht Videos aus seinem Kinderzimmer und zeigte und testet seine Spielzeuge. Seine Videos haben mehr als 50 Milliarden (ja, Milliarden) Aufrufe, sein Verdienst liegt nach eigenen Angaben bei etwa 30 Millionen US Dollar im Jahr. Kaji ist 12 Jahre alt.

Reichweite ist die digitale Währung und sorgt für einen unüberschaubaren Wust an Informationen, Meinungen und Aussagen. Freroabi (170.000 Follower) nutzt Instagram humoristisch, um TikTok-Influencer-Videos zusammenzufassen. Minutenlange Belanglosigkeiten (und das ist wirklich sehr freundlich formuliert), affektiert und lächerlich bedeutungsschwanger dargestellt, fasst er bei einer Tasse Kaffee auf 1-3 Sätze zusammen.

Das Internet dient aber eben dem Informationsaustausch. Jeder, der daran teilnimmt, zahlt Informationen in das System ein. Wichtig ist es hier zu wissen, welche Informationen das sind und insbesondere, wo sich und wie sich diese finden lassen und welche Rückschlüsse aus diesen Informationen gewonnen werden können. Die Komplexität ist so hoch, dass ein immer größerer Teil der Internetnutzer diese gar nicht mehr oder noch nicht durchblicken.

Reichweite hat aber im Endeffekt nur einen Sinn: Geld verdienen.

Das älteste Gewerbe der Welt hat das Internet natürlich lange für sich entdeckt und auch hier reicht ein Handy, um aktiv teilzunehmen. Bei OnlyFans bieten zahllose, meist junge Frauen intime Fotos und Videos an, selbstverständlich gegen Bezahlung. Um diese zu bewerben, stellen die Damen auf Instagram und anderen Plattformen kurze Videos online, bei denen sie vermeintlich zur Interaktion mit dem Nutzer aufrufen. Die Videos und Texte sind so dämlich, dass sie es erotisch problemlos mit dem Teletext des Jahres 1999 aufnehmen können.

„Ich bin 21, mein Freund hat mich für eine 18 Jährige verlassen. Möchtest du mein Freund sein?“

„Oh, oh, kannst du leise sein? *kicher* Meine Schwester ist im Nachbarzimmer.“

„Männer…mit Bierbach und Tattoos? Hi, Julia!“

„Das ist ja so dumm, darauf fällt doch niemand rein!“. Tja, das dachte ich auch. Dass die Damen nicht wirklich in einen Austausch, der über Kreditkartendaten hinausgeht, einsteigen wollen, merken scheinbar nicht alle. Eine unfassbare Zahl insbesondere sehr(!) alter Männer (aka die Schmachtopas) kommentieren unter derartigen Videos öffentlich und teilen dabei völlig schamlos ihre sexuellen Fantasien, Handynummern und Rollenspielträume. Teilweise mit Klarnamen, im Profil finden sich Fotos vom letzten Familienurlaub und dem Hundezüchterverein. Dass so direkt Informationszusammenhänge möglich sind, die Familien und Leben zerstören können, bleibt unbemerkt.

Der Instagram-Account edschii (89.000 Follower) kommentiert derartige Videos: „Alter du bist so alt, du warst in beiden Weltkriegen volljährig.“

Was im Guten funktioniert, funktioniert aber eben umso besser im Bösen und erfordert ein neues Verständnis von Medienkompetenz.

Im Mai kam es in Hamburg zu großen Demonstrationen radikaler Islamisten, die ein Kalifat und die Bekämpfung des Judentums forderten. Hervorragend organisiert standen viele Kommentatoren verblüfft vor der Frage, wie diese Leute eine derartige Reichweite erzielen konnten. Die Antwort: Social Media. Internet. Auch Extremisten haben neue Medienkanäle längst für sich entdeckt und es ist kein Geheimnis, dass auch Verschwörungstheoretiker digitale Medien umfangreich nutzen.

Wollten Lehrer, Eltern oder Wissenträger früherer Generationen Wissen vermitteln, haben sie ein Buch geschrieben. Ihre Kinder und Nachfolger nutzten die gleichen Informationsquellen, die sie selbst schon kannten. Was aber, wenn Bücher nicht mehr gelesen werden, man aber weiterhin Bücher schreibt?

Die Geschwindigkeit, mit der sich neue Medienformate entwickeln, hat unvorstellbare Geschwindigkeit angenommen. Zielgruppengerechte Aussagen und Inhalte machen nur dann Sinn, wenn diese auch bei der Zielgruppe ankommen. „Finden Sie auf unserer Webseite“ ist eine sinnvolle Anweisung für alle, die Webseiten besuchen. Gerade Jugendliche tun das aber nicht und werden es auch nicht tun. Wohl kaum jemand wechselt das Kommunikationsmedium, nur weil die Information auf besagtem Medium nicht zu finden ist. Die Information geht unter, nicht das Medium. Prominentes Beispiel ist der Nachrichtendienst TikTok. Zahlreiche große Parteien weigerten sich, Inhalte auf dem chinesisch kontrollierten Medium zu veröffentlichen. Staatliche Zensur, Kontrolle, viele moralisch wertvolle Argumente und überhaupt habe man ja andere Kanäle.

Die AfD nutzt TikTok extrem erfolgreich.

Ich erinnere mich an einen Termin 2014 mit einem großen Handwerksunternehmen aus dem Kreis Unna, das bis dato nicht digital erreichbar und keinerlei Onlinewerbung schaltete. Der O-Ton der damaligen Geschäftsführerin war: „Beim Internet machen wir nicht mit. Da warten wir, bis das vorbei ist.“

Das Unternehmen ist seit 2021 vorbei.

Zeitgleich gibt es zwischen Schmachtopas und Kindern im Internet eine Parallele: sie durchblicken die Tragweite und den Wert der Information nicht. Die einen, weil sie zu alt sind, die anderen, weil sie noch nicht alt genug sind. Medienkompetenz muss daher zukünftig insbesondere bedeuten, einen kritischen Umgang mit der Information als Ware zu vermitteln. Und zwar auf jedem nur denkbaren Medium. Ohne es zu merken können sonst Menschen schnell und in unfassbaren Massen instrumentalisiert und manipuliert werden, auch Kinder und Jugendliche. Woran erkennt man eine qualitative Aussage? Wie verifiziere ich diese? Was früher der unangenehme Onkel mit dem Lutscher in der Hand war, ist heute die vermeintlich gut gemeinte „Einladung in das Paradies“.

Mein Sohn ist jetzt 2 Jahre alt. Er wird mit dem Internet aufwachsen, wesentlich mehr noch als sein Vater. Um ihn auf diesem Weg zu begleiten, muss ich mich intensiv damit beschäftigen, wie mein Sohn Informationen auf- und wahrnimmt.

Mit Mitte 30 sind die meisten Internetnutzer heute echt extrem alt. Überaltert.

Eine regelmäßige Verjüngungskur, ohne Scheuklappen, hätte auch gesellschaftlich und politisch hohen Wert. Und es ist unabdingbar, um Informationen nicht zur Waffe und zukünftige Generationen nicht zu Spielbällen werden zu lassen.

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Es staunt der Bauklotz
Es staunt der Bauklotz
3 Monate zuvor

Die politische Wirkmächtigkeit dieser kleinen Videos, die auf den ganzen Social Media Kanälen laufen, finde ich erschreckend. Ich habe viele Arbeitskollegen, die sich fast ausschließlich darüber informieren und jeden Mist nacherzählen, den sie da hören.
Nur als Beispiel: die Ehefrau von Wolodymyr Selenskyj in New York für 145 Million Dollar für Luxusgüter eingekauft hätte.
Wenn ich dann dagegen spreche, muss ich mir anhören, dass ich der Idiot bin, der alles glaubt, was in den öffenlich rechtlichen gelogen wird.
Oder die Arbeitskollegen, die die ganze Nacht nciht aus Angst vor dem Atomkrieg nicht geschlafen hatten, weil sie sich ein Video nach dem anderen angesehen hatten, wo erzählt wurde, dass der Putin die Atombome wirft, wenn er weiter gereizt wird.
Ich fühle mich dem gegenüber oft ohnmächtig unf würde zustimmen, wenn in den social media eine Gefahr für die Demokratie gesehen wird.

Emscher-Lippizianer
Emscher-Lippizianer
3 Monate zuvor

Ich behaupte, daß es nicht an diesen „Medien“ liegt, sondern an der mangelnden Medienkompetenz der Nutzer.

vormals SvG
vormals SvG
3 Monate zuvor

@ Emscher-Lippizianer: Sehe ich genau so: Diejenigen, die heute an Qanon o. Ä. glauben, weil es ja im Netz steht, haben früher die Manifeste der unterschiedlichsten Verwirrte verschlungen, schon in den 70ern an die von Eidechsenmenschen hergestellten Kristalschädel für glaubwürdig befunden und hatten ihre handgefertigte Kopie der Protokolle der Weisen von Zionganz vorne im Regal stehen. Der Irrsinn ist der gleiche, nur der Verbreitungweg ein anderer. Das ist weder demokratiegefährdend noch verboten, wird aber von interessierter Seite gerne genutzt. Wenn andauern und immer die Demokratie und das Abendland gefährdet ist, muß man Maßnahmen in die Wege leiten. Ich bezweifle, daß diese dann unbedingt zu mehr persönlicher Freiheit in der Realität führen.

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