Deutschland erlebt einen paradoxen Zustand: einerseits klagt die Wirtschaft über Fachkräftemangel, andererseits bleibt ein erheblicher Teil der ausländischen Bevölkerung ohne Erwerbstätigkeit. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in den hohen Anforderungen an formale Berufsqualifikationen in Deutschland. Diese bürokratischen Hürden müssen überwunden werden, um das Potenzial ausländischer Fachkräfte besser zu nutzen und den Fachkräftemangel zu lindern.
„Wir hören täglich Klagen über Fachkräftemangel und über zu viele ausländische Mitbürger, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen“, sagte Hessen ehemaliger Ministerpräsident Roland Koch (CDU) „Leider liegt ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung in den sehr besonderen deutschen Ansprüchen an formale Berufsqualifikationen“, schreibt der frühere Ministerpräsident von Hessen in einem Gastbeitrag im Magazin „Focus Money“.
Besonders betroffen seien hochqualifizierte Flüchtlinge und Migranten, deren Abschlüsse oft nicht anerkannt werden. Ukrainische Akademiker, darunter Mediziner und Wirtschaftswissenschaftler, finden sich häufig in schlecht bezahlten Jobs wieder, die ihrer Qualifikation nicht entsprechen. „Das muss an unseren Regeln liegen“, so Koch weiter, „denn die Erwerbsquote in den Nachbarländern ist um ein Vielfaches höher.“
Seit 2009 gebe es zwar das Anerkennungsgesetz für im Ausland erworbene Berufsqualifikationen, doch die Umsetzung hapere erheblich. „Wir reden über Bürokratie, unsinnig detaillierte Regulierung und oft sogar über Reste des alten Zünfte-Denkens“, kritisiert Koch. Insbesondere im Gesundheitswesen zeigt sich das Problem deutlich. Internationale Fachärzte aus Syrien, der Ukraine, Aserbaidschan oder der Türkei scheitern oft an der Anerkennung ihrer Abschlüsse, obwohl sie die notwendigen Deutschkenntnisse mitbringen und hoch motiviert sind.
„Zwischen zwölf und 18 Monate dauert das Verfahren zur Anerkennung der Abschlüsse“, erläutert Koch. „Im schlimmsten Fall sind die erteilten Visa oder andere Aufenthaltsberechtigungen dann schon wieder abgelaufen oder in Gefahr.“ Eine Lösung könnte die Einführung eines „Praktischen Jahres“ für ausländische Ärzte sein, wie es in der medizinischen Ausbildung bereits bewährt ist. Leitende Ärzte könnten dann eine verbindliche Berufsausübungsgenehmigung erteilen.
Während bei Ärzten Sprachkenntnisse unerlässlich sind, stellt sich in anderen Bereichen die Frage nach dem Sinn zeitraubender Sprachkurse. „Je qualifizierter der Job, desto weniger wichtig ist Deutsch, wenn man Englisch kann“, erklärt Koch. „Unsere türkischen Mitbürger haben Opels und VWs auch ohne Sprachkurs zusammengebaut und sind dank ihrer Arbeit in die Welt der deutschen Sprache hineingewachsen.“
Das neue Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung, das seit dem 1. Juni 2024 in Kraft ist, bringt zwar Verbesserungen, doch die Umsetzung bleibt schwierig. „Hier wird es jetzt gerade an den Unternehmen liegen, lieb gewordene Mindestanforderungen über Bord zu werfen und unkonventionelle Angebote zu machen“, fordert Koch. „Dass der Gesetzgeber die modernen Wege für die Zeitarbeit ausgeschlossen hat und weiterhin sehr starre Mindestausbildungszeiten und aufwendige staatliche Anerkennungen verlangt, zeigt wieder unsere germanische Regelungswut.“
Deutschland müsse die Hürden für ausländische Arbeitnehmer dringend senken, um Wertschöpfung zu generieren und den Bezug von Bürgergeld zu reduzieren. „Das ist wirklich nicht nur die Schuld von Betroffenen“, so Koch abschließend. „Vielmehr gilt an vielen Stellen der alte Spruch: Man kann es auch übertreiben.“