Wer eine psychische Störung oder Krankheit hat, der kann meist nichts dafür, braucht aber Hilfe. Zeitnah, so die Erfahrung aus der Praxis, geht da nix. Wartezeiten von einem halben Jahr für einen Psychotherapieplatz sind da keine Seltenheit. Das ist falsch. Wer eine psychische Störung hat, leidet nicht weniger als jemand mit einem eingewachsenen Zehnagel. Ein dummer Vergleich? Selbstredend. Aber mit dem Zehnagel wird man binnen Stunden einen behandelnden Arzt finden, bei einer Depression eben nicht. Es ist Irr-Sinn.
Das Bundesministerium für Gesundheit und sein Minister, der CDU-Freshboy Jens Spahn, sehen das nicht so. Spahn (38) erklärte in einer Rede vor dem Bundestag:
(…) Ja, wir haben das Problem in bestimmten Regionen, auch im Zusammenspiel von ambulant und stationär, dass diejenigen mit psychotherapeutischem Versorgungsbedarf, die dringend behandlungsbedürftig sind, nicht in eine ambulante Therapie kommen und dann möglicherweise in verschlimmertem Zustand stationär aufgenommen werden müssen. Die Wahrheit ist aber: Wenn wir einfach nur 10 000, 20 000 oder 30 000 Psychotherapeuten zusätzlich zulassen, wird das das Problem nicht lösen. Das ist meine feste Überzeugung; das ist die Erfahrung der Vergangenheit. Wir haben so viele Psychotherapeuten wie noch nie in der Zulassung. Wir haben fast so viele Psychotherapeuten in der Versorgung wie Hausärzte. Und trotzdem steigt mit dem Angebot der Bedarf, weil die Versorgungssteuerung nicht funktioniert. Deswegen ist der erste Schritt, dass wir zu einer besseren Versorgungssteuerung kommen, dass nämlich im Zweifel diejenigen, die man vielleicht nicht ganz so gern als Patienten im Wartezimmer sitzen hat, die auch etwas mehr Versorgungsbedarf haben, eher einen Termin bekommen als möglicherweise diejenigen, bei denen es etwas angenehmer ist, die Therapie zu machen. Ich formuliere das alles sehr zurückhaltend, weil ich weiß, dass das mit großen Emotionen verbunden ist und wahrscheinlich gleich der nächste Shitstorm startet. Aber wenn wir das Versorgungsproblem lösen wollen, werden wir über dieses Thema reden müssen.
Nun wird klar, was Spahn damit wohl meinte.
Ein Gesetzesentwurf aus seinem Haus legt auf Seite 25 nahe, dass kontrolliert werden soll, wer da diagnostiziert, bevor dann behandelt wird.
Mit der Dipl.-Psychologen und Buchautorin Esther Bockwyt (33), die sich einschlägig mit Psychotherapie-Richtlinien beschäftigt hat ordnet dies als „absurd“ ein.
Frau Bockwyt, Minister Spahn führt aus, dass es immer mehr Therapeuten gibt, der Bedarf gleichwohl weiter steigt. Wie stehen Sie dazu?
Das Interessante ist ja die Annahme von Herr Spahn, dass eine höhere Anzahl an Psychotherapeuten, die eine Kassenzulassung erhalten, nicht zu einer besseren Versorgung führe. Die Tatsache, dass Patienten nach wie vor zu lange auf einen Therapieplatz warten müssen – an sich schon ein Skandal und eine Zumutung für Patienten – ist aber natürlich darauf zurückführbar, dass die Anzahl an verfügbaren Psychotherapieplätzen schlichtweg zu gering ist. Das ist derzeit der Fall und ist es in der Vergangenheit immer gewesen. Seit vielen Jahren setzen sich Psychotherapeuten und ihre Fachverbände für eine höhere Anzahl an Kassensitzen ein. Die Bundespsychotherapeutenkammer fordert aktuell mindestens 7.000 psychotherapeutische Praxissitze zusätzlich, insbesondere außerhalb der Großstädte.
Das ist ja eine ganz einfache Rechnung und offensichtlich, dass viele Patienten keinen Therapieplatz erhalten, obwohl sie ihn benötigten, weil die Praxen schlichtweg „überlaufen“ sind. Die Zusammenhänge, die Herr Spahn in seiner Rede hier aufmacht, sind überhaupt nicht nachvollziehbar und erscheinen vielmehr konstruiert. Die Annahme, dass ein steigender Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung auf eine unzureichende Versorgungssteuerung zurückführbar sei, ist absurd. Angedeutet wird hier lediglich, dass angeblich schwer kranke Patienten unliebsame Patienten seien und keinen ambulanten Therapieplatz erhielten. Es wird überhaupt nicht erklärt, inwieweit eine Steuerung das Problem beheben könnte. Das sind immer wieder künstliche Versuche, das eigentliche Problem zu verklausulieren und von ihm abzulenken. Erst im Jahr 2017 hat es wesentliche Veränderungen in der psychotherapeutischen Versorgung durch Gesetzesänderungen gegeben. Ziel war es, den Zugang zur Psychotherapie zu erleichtern, was ja an sich sinnvoll und gewollt ist. Es wurden beispielsweise verpflichtende Sprechstunden als niederschwelliger Zugang und Möglichkeiten für Akutbehandlungen eingeführt. Diese und weitere Maßnahmen sind in ihrer Effektivität bislang noch wenig evaluiert, sodass es umso mehr verwundert, dass man nun wieder eine veränderte Praxis einführen möchte, die gerade eben diesem Ziel des erleichterten Zugangs zur Psychotherapie entgegensteht.
Ein steigender Bedarf an Psychotherapie hat viele Ursachen, jedoch nichts mit einer nicht funktionierenden Steuerung zu tun. Das ist dasselbe Lied, das immer wieder gesungen wird, um letztlich Kosten, die ein gedeckter Bedarf beinhalten würde, zu sparen. Es ist letztlich die Sparpolitik in der gesamten Gesundheitsbranche, die natürlich auch bei den Psychotherapeuten zum Tragen kommt. Das ist ungut.
Ist Qualitätssicherung in der Diagnostik psychischer Störungen und Krankheiten nicht grundsätzlich begrüßenswert?
Es geht dabei ja nicht um Qualitätssicherung. Es wäre purer Zynismus, ausgebildeten Psychotherapeuten, die nach ihrem Studium noch eine mehrere Jahre umfassende Ausbildung durchlaufen haben, die Qualifikation für eine valide Diagnostik abzusprechen. Allerdings fragt man sich schon, weshalb es „besonders“ qualifizierter Psychotherapeuten bedarf, die eine Vorab-Diagnostik machen sollen und durch welche „Besonderheiten“ diese dann gekennzeichnet sein sollen. Bei mir entsteht da die Phantasie eines zweiten Gutachterverfahrens für Psychotherapie. Wir haben ja bereits ein Gutachterverfahren, in welchem die Indikation und Zweckmäßigkeit einer Psychotherapie durch Gutachter der Krankenkassen (ebenfalls Psychotherapeuten) geprüft wird. Möchte man mit einer weiteren Art Gutachterverfahren mehr Patienten bereits im Vorfeld abweisen? Ich sehe sonst keinen anderen möglichen Sinn, der hinter einer geänderten Steuerungspraxis stehen könnte. Patienten werden jetzt bereits natürlich vor Aufnahme einer Psychotherapie diagnostiziert und zwar von den Psychotherapeuten, die sie aufsuchen.
Mit Qualitätssicherung hat das alles nichts zu tun. Qualitätssicherung von Psychotherapien müsste man anders umsetzen und das findet bereits auch statt.
Welche Befürchtungen haben Sie mit Blick auf den Gesetzesentwurf?
Ich befürchte, dass hier vor allem weitere Maßnahmen von Begrenzungen ins Leben gerufen werden sollen. Der Zugang zur Psychotherapie wird entgegen der Ziele, die 2017 umgesetzt werden sollten, nicht erleichtert, sondern erschwert. Patienten mit psychischen Schwierigkeiten fällt es ohnehin oft genug schwer, sich an einen Psychotherapeuten zu wenden. Haben sie sich einmal dazu durchringen können, offenbaren sie ihr Innerstes und Intimstes. Das müssten sie dann künftig vor einem Psychotherapeuten tun, der eher eine Gutachter- und „Steuerungs“-Funktion übernimmt, aber nicht ihr künftiger Behandler sein wird. In einer solchen Situation ist auch immer bereits ein Misstrauen angelegt. Der Patient gerät in eine Rolle, in der er seine Behandlungsbedürftigkeit beweisen muss. Es ist eine Art Begutachtungssituation, die eher abschreckende Wirkung hat. Das ist genau das falsche Signal an psychisch kranke Menschen und kein angemessener Umgang mit ihnen. Im Raum steht auch die Befürchtung, dass Patienten dann nicht mehr über ihr Recht auf freie Arzt- bzw. Therapeutenwahl verfügen können, denn es soll ja irgendeine Art von Steuerung geben. Die derzeitige Situation erlaubt es Patienten, sich ihren Therapeuten auszusuchen, auch, wenn diese Wahlfreiheit natürlich relativ weit weg ist von der Realität, dass Patienten in der Regel froh sind, überhaupt einen Therapieplatz gefunden zu haben. Aber diese Freiheit ist gegeben und das muss sie auch sein. Denn es ist vor allem die „Chemie“ zwischen Patient und Psychotherapeut als zwingende Voraussetzung, die stimmen muss, um einen Behandlungserfolg erzielen zu können. Durch eine mögliche Zuweisung zu einem bestimmten Therapeuten wäre dies nicht mehr gewährleistet. Darüber hinaus fördert eine solche Regelung auch eine Hierarchisierung innerhalb der psychotherapeutischen Fachwelt, die wir jetzt auch schon in Form des Gutachtersystems haben, die aber hier noch überschaubar klein ist. Eine Spaltung in besonders begabte und normal begabte Diagnostiker ist nicht wünschenswert.
Das Gravierendste ist, dass das eigentliche Problem des Mangels weiterhin nicht an der Ursache angegangen wird, sondern auf merkwürdige Weise an ihm herumgedoktort werden soll. Patienten müssen im Schnitt 20 Wochen bis zur Aufnahme einer Psychotherapie waren. Das ist das Ergebnis der BPtK-Studie „Wartezeiten 2018“.
In Kurzform könnte man auch sagen: Mehr Bürokratie, um dem Mangel beizukommen. Der Mangel wird verwaltet, wie wir es von der christlich-demokratischen Union in Regierungsverantwortung ja kennen.
Letztlich spiegelt sich hier auch eine Geringschätzung des psychotherapeutischen Berufs und auch der behandlungsbedürftigen Patienten wider, die zumindest der Politik nicht mehr wert zu sein scheinen. Diese Geringschätzung fängt bereits an bei den Psychotherapeuten in Ausbildung (PiA), die während ihrer Tätigkeit in psychiatrischen Kliniken für keine oder wenig Entlohnung arbeiten müssen und zeigt sich seit vielen Jahren in der Tatsache, dass man kranke Menschen monatelang auf eine Behandlung warten lässt. Ich selber arbeite nicht psychotherapeutisch, ich bin als Diplom-Psychologin diagnostisch rechtspsychologisch begutachtend und beratend tätig, ich habe also kein Eigeninteresse, mir geht es darum, den Mangel und eine verkürzte Sparpolitik auf Kosten der Menschen und ihrer Gesundheit anzuprangern. Auch viele meiner Kollegen sind mehr als genervt von solchen politischen Absichten, die an der Realität der Patienten vorbeiregieren.
Die Befürchtungen von Bockwyt teilen viele, sehr viele, Psychologen und andere. Sie haben eine Online-Petition gestartet, die aktuell über 74.000 Unterzeichner hat.
Weder der Autor noch Frau Bockwyt verdienen Geld als Psychotherapeuten.
Der CDU-Freshboy erinnert mich an Jürgen Möllemann, der auch jeden Tag sich mit einem neuen Vorstoß in die Medien gerufen hat.
Bei der Zahl der zugelassenen Psychologen ist außerdem zu bedenken, dass viele Psychologen im Alter von 50-60 sind und in den nächsten 10 Jahren in den Ruhestand gehen werden. Deswegen ist eine Neuzulassung von Psychologen sehr zu begrüßen.
Danke für diesen Artikel! Hier wird sehr gut deutlich, wieviel dagegen spricht und wie irre das ist, was er sich da zusammen"denkt".
Mir fehlt hier der Überblick?
Ich gehe davon aus, dass er hier um gesetzlich Versicherte geht, die auf Kosten der Krankenkasse ihre Krankheit behandeln lassen wollen.
Gibt es in diesem Umfeld einen Engpass? Gibt es ihn allgemein? Bekomme ich Unterstützung, wenn ich selber zahle?
Wenn es einen Engpass gibt, ist eine Vorabprüfung doch sinnvoll. Das ist eben typische Mangelverwaltung. Die Warteschlagentheorie ist hier gnadenlos. Es gibt nur ein paar Schalter, an denen ich schrauben kann.
Ebenso muss eine Gesellschaft entscheiden, welche Leistungen alle von Sozial-Versicherungen gezahlt werden sollen und wie ein Schadenfall geprüft wird. Alternativ bleibt immer noch die Privatwirtschaft mit Versicherungen und Hilfsangeboten.
Man muss da ein wenig Verständnis zeigen, wenn man den ganzen Tag damit beschäftigt ist, denn Rechtspopulisten mit neuen kreativen Ideen den Rang abzulaufen, da kann das eigentliche Hauptschäftigungsfeld schon mal auf der Strecke bleiben.