SPD: Vor 20 Jahren wurden die Weichen Richtung Niedergang gestellt

Gerhard Schröder und Tony Blair Foto Schröder: Olaf Kosinsky Lizenz: CC BY-SA 3.0 de Foto Blair: The Wolrd Affairs Council Lizenz: CC BY 2.0


Mit dem Schröder-Blair-Papier sollten die Weichen für die Zukunft der Sozialdemokraten in Europa neu gestellt werden. Und so kam es auch – allerdings anders, als es sich die Autoren gedacht hatten. Am Beispiel NRW kann man die Gründe für den Niedergang gut sehen.

Am 8. Juni 1999 veröffentlichten der britische Regierungschef Tony Blair (Labour) und Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ein gemeinsames Papier mit dem Titel “Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten”. Geschrieben hatten die beiden Regierungschefs das nach ihnen benannte Schröder-Blair-Papier natürlich nicht selbst. Die Autoren waren der damalige Kanzleramtsminister Bodo Hombach und der frühere britische Minister für Handel und Industrie, Peter Mandelson. Es sollte die Sozialdemokraten in Europa in die Zukunft führen und wirkt im Nachhinein als Vorspiel der 2003 vorgestellten Agenda2010. Das Schröder-Blair-Papier sprach sich dafür aus, den Sozialstaat zu flexibilisieren und gab den Sozialdemokraten die Grundlage für eine Partnerschaft mit Unternehmen der Wissens-, Finanz- und Kreativwirtschaft. Und es war, was damals kaum jemanden auffiel, der Abschied der Sozialdemokraten von der Industriegesellschaft:

“Unsere Volkswirtschaften befinden sich im Übergang von der industriellen Produktion zur wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Sozialdemokraten müssen die Chance ergreifen, die dieser wirtschaftliche Umbruch mit sich bringt. Sie bietet Europa die Gelegenheit, zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen. Sie eröffnet Millionen Menschen die Chance, neue Arbeitsplätze zu finden, neue Fähigkeiten zu erlernen, neue Berufe zu ergreifen, neue Unternehmen zu gründen und zu erweitern – kurzum, ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verwirklichen.”

Ein oberflächlicher Blick auf die Statistiken schien Blair und Schröder Recht zu geben. 1950 arbeitete mit 43 Prozent fast jeder zweite Beschäftigte in Deutschland in der Industrie, dem “verarbeitenden Gewerbe”. 1999, als das Schröder-Blair Papier entstand, waren es in Deutschland nur noch gut 25 Prozent.

In England war die Entwicklung sogar noch radikaler verlaufen: In dem Mutterland der Industrialisierung war nach der Ära-Thatcher nicht einmal mehr jeder fünfte in einer Fabrik oder auf dem Bau beschäftigt. Großbritannien sah seine Zukunft in der Dienstleistungsbranche und setzte vor allem mit Deregulierungen darauf, den Finanzplatz Londons auszubauen.

Mit der Industrie, das war den Autoren klar, würde es in den westlichen Staaten weiter bergab gehen. Die Unternehmen und die Beschäftigten musste sich also fit machen für die Zukunft und mit ihnen die Sozialdemokraten.

Doch der Zeitgeist war eben, was das Wort ja schon andeutet, ein Geist: 2008, keine zehn Jahre nach dem Schröder-Blair-Papier, kam Deutschland relativ glimpflich durch die weltweite Finanzkrise, weil es noch eine stabile und vor allem mittelständische Industrie hatte. 2010 lag der Anteil der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe bei 23 Prozent. Und von damals 5.6 Millionen stieg er im Laufe des langen Booms bis auf 7,4 Millionen im Jahr 2018, 5,6 davon in der Industrie.  Das von Blair und Schröder beschworene Ende des Industriezeitalters ist bislang in Deutschland nicht eingetreten. Und andere Staaten wünschen sich eine so hohe Industriequote wie die Bundesrepublik: Die US-Regierungen unter den Demokraten Barack Obamas als auch die seines Nachfolgers, des Republikaners Donald Trump, wollen die Zahl der Industriebeschäftigten in den USA steigern. Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier will den Industrieanteil in Deutschland nicht nur halten, sondern ausbauen. Angesichts immer höherer Sozialausgaben, schlechter Infrastruktur und steigenden Energiepreisen ein kühn anmutendes Unterfangen.

Verwundert stellten viele Prediger der Deindustrialisierung fest, dass die Zahl der Beschäftigten in der Industrie in den vergangenen Jahrzehnten kaum zurückgegangen war und der Wohlstand Deutschlands nach wie vor auf seiner Exportwirtschaft beruht. Technische Innovationen finden fast nur in Industrieunternehmen statt, die Branchen mit den meisten Patenten waren 2018 Transport, Elektrotechnik, Maschinenbau und Messtechnik. Auch zahlreiche Dienstleistungen hängen an einer leistungsfähigen Industrie: Ob Ingenieurbüros oder Logistik – wo Deutschland wohlhabend ist, hat es eine starke Industrie.

Die Unionsparteien im Süden und Osten der Republik, in Sachsen, Baden Württemberg und Bayern wären damals nie auf die Idee gekommen, der Industrie pauschal die Zukunftsfähigkeit abzusprechen. In diesen Ländern war Industrie High-Tech und Zukunft. Aber der Mülheimer Bodo Hombach, geprägt von dem Niedergang der traditionellen Schwerindustrie im Ruhrgebiet, kam zu einem anderen Schluss und ging davon aus, dass das, was im Revier und auch in Großbritannien schon geschehen war, die nahe Zukunft der anderen Industriestandorte sein würde.

Während er am Schröder-Blair-Papier schrieb, setzte sein Parteifreund Wolfgang Clement erst als Wirtschaftsminister und dann als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen auf Medien und Call-Center als neue Job-Motoren der Zukunft.

Für die SPD in Deutschland hatte das Schröder-Blair-Papier aber nicht nur wirtschaftspolitische Bedeutung. Es verfestigte auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den Grünen. Die Dienstleistungs- und Medien-SPD, das war klar, würde weniger Konflikte mit den Grünen, dem damaligen Regierungspartner, haben, als die alten Industrie-Sozis. Der Streit vor der Bundestagswahl 1998 zwischen dem angehenden “Autokanzler” Schröder und den Grünen mit ihrer Forderung nach 5-Mark für einen Liter Benzin saß allen noch in den Knochen.

Wie in Großbritannien und nahezu allen anderen Staaten Europas, bedeutete dies aber auch den Bruch der Sozialdemokratie mit den Arbeitern. Galt die Industrie als absterbender Wirtschaftszweig, so galten die Arbeiter nun als Schicht, die langsam verschwinden würde.
Auf sie würde es in Zukunft nicht mehr ankommen. Warum noch Rücksicht auf sie nehmen?
Der naheliegende Gedanke, sich vermehrt um Freiberufler und Beschäftigte im Dienstleistungsbereich zu kümmern, kam den Genossen indes nicht.

Die SPD öffnete sich postmaterialistischen Positionen, die bei den Grünen so modern wirkten. Sie näherte sich damit auch ideologisch ihren Mitgliedern an, die seit den 70er Jahren immer häufiger einen akademischen Hintergrund hatten, im Öffentlichen-Dienst arbeiteten und mit der alten, schon damals oft nur noch folkloristischen von den Genossen gepflegten Arbeiterkultur fremdelten. Das Schröder-Blair-Papier lieferte nicht nur die Grundlage für die Agenda2010, es half auch die SPD für die bunte Welt der Postmoderne zu öffnen und die Werkshallen und Fabriken hinter sich zu lassen. Schaut man sich an, wo heute die SPD und ihre Schwesterparteien in fast ganz Europa stehen, wurde das gegebene Aufbruchsversprechen in eine bessere sozialdemokratische Zukunft nicht eingelöst.

Die Verachtung gegenüber den Arbeitern, die im Stauss-Papier zur Analyse der verlorenen Bundestagswahl 2017 zum Ausdruck kommt, hat hier ihre Wurzeln. Die SPD gab die Arbeiter auf, sah sie als Schicht ohne Zukunft und Bedeutung und öffnete sich den neuen, ökologisch gesonnenen Eliten in den Großstädten. Heute stellt die SPD mit Erschrecken fest: Am Ende des Regenbogens befinden sich nur 12 Prozent der Wähler.

Bayern und Baden-Württemberg sind heute die wichtigsten Industrieregionen Deutschlands, in Nordrhein-Westfalen sind das Sauerland und Westfalen deutlich stärker von der Industrie geprägt als das Ruhrgebiet. Und überall, wo sich eine starke Industrie findet, sind die Einkommen höher, ist die Arbeitslosigkeit niedriger und sind die Städte nicht so heruntergekommen und verarmt, wie es im Ruhrgebiet der Fall ist.

Aber Clement und die SPD sahen in NRW nicht moderne Industriebetriebe als Kerne des künftigen Wohlstands an und auch für neue Technologien interessierte man sich nur bedingt. Die Mühe, sie zu verstehen, gab man sich erst gar nicht.

Der ehemalige Journalist Clement setzte auf die Medienwirtschaft: RTL und Viva in Köln,

Der längst vergessene Musiksender Onyx in Dortmund und der 1996 in Bottrop eröffnete Warner Film Park, der auch über kleine Studiokapazitäten verfügte, waren damals die Hoffnungsträger.

Das Land wurde von einer Medienhysterie erfasst. Die Stadt Köln investierte über ihre Sparkasse in Filmstudios, die so viel kosteten und so wenig erwirtschafteten, dass am Ende nur eine Fusion der Kölner Sparkasse mit der Bonner das Unternehmen vor dem Ruin retten konnte.

Selbst im beschaulichen Marl träumten sie davon, eine TV-Stadt zu werden. Anlässe für die Hoffnung auf ein kleines TV-Wunder in der Chemiestadt waren das Grimme Institut des Volkshochschulverbandes, das jährlich den renommierten Grimme Preis für Fernsehsendungen vergibt, und der Offene Kanal, der von einem Verein betrieben wurde. Jeder, der wollte, konnte über den Offenen Kanal TV-Sendungen verbreiten. Die zum Teil mehrstündigen Sendungen über muntere Insekten auf Marler Feuchtwiesen und Vereinssitzungen erreichten jedoch auch in besten Tagen nur ein sehr eingeschränktes Publikum.

Doch auch Marl bekam etwas vom großen Medienkuchen ab. Statt Medienstadt wurde Marl zur “Stadt der Medienkompetenz” ernannt. Der ansonsten eher glücklose Marler-Bürgermeister konnte 1997 die Ansiedlung des Europäischen Zentrums für Medienkompetenz (ECMC) vermelden. 2010 wurde das ECMC nach mehr als einem Jahrzehnt weitgehend folgenlosen und unbemerkten Handelns in das Grimme Institut integriert.

Teurer wurden die High Definition Oberhausen (HDO) Pläne von Clement. 100 Millionen Euro verschlang das Trickfilmstudio bei gerade einmal 25 geschaffenen Arbeitsplätzen. Auch dass über den PDS-Funktionäre Lothar Bisky wohl auch viel Schwarzgeld des ehemaligen SED-Vermögens versenkt wurden, tröstet da wenig.

Die SPD in NRW hatte aufgehört, sich um neue Industrien zu kümmern und verplemperte Millionen über Millionen in Clements Medienprojekten.

Zeitweilig erfolgreicher war Clement mit der Ansiedlung von Call Centern – doch die Billigjobs, die entstanden, sorgten dafür, dass man den Industriearbeitsplätzen mit ihren guten Tariflöhnen noch mehr nachtrauerte.

Und ganz im Sinn eines grünen Koalitionspartners setzte Clement auf die Solarenergie. Das Ruhrgebiet sollte zum „Solar Valley“ werden, eine kühne Anspielung auf das „Silicon Valley“ in Kalifornien, Sitz vieler IT-Unternehmen in den USA.

Von diesen Träumereien ist nichts übriggeblieben.

Teile des Artikel erschienen bereits auf Cicero

 

 

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Werntreu Golmeran
Werntreu Golmeran
5 Jahre zuvor

Hallo Herr Laurin,

wie ein Fähnchen im Wind. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Sie seinerzeit einer der "Zeitgeistverbreiter" waren. Nur exemplarisch einen Kommentar von Ihnen aus 2008:

https://www.ruhrbarone.de/schwan-und-die-rote-ruhr/627#comment-1509

Der Niedergang der SPD setzte faktisch schon mit Helmut Schmidt ein, der erste große Fehler wurde schon unter Brandt gemacht, als man den sog. Adenauer-Erlass durch den Radikalenerlaß erneuerte, was Brandt später auch als einen seiner größten Fehler bezeichnete. Ab da wurde die fortschrittliche Jugend weitgehend aus der Partei herausgehalten und zu den linken Splittergruppen und später zu den Grünen getrieben.

Eine wichtige Wegmarke war für Deutschland ganz klar das sog. Lambsdorff-Papier, in dem die FDP die den neoliberalen Zeitgeist in die damalige "Sozialliberale Koalition" einbringen wollte. Das Papier war pikanterweise von Helmut Schmidt in Auftrag gegeben worden und führte dann zum Bruch der Koalition, da es von der damals noch klassich sozialdemokratisch geprägten Mehrheit der SPD als Affront empfunden wurde. Unter Kohl, der nach heutigen Vorstellungen wohl als linker kommunistischer Spinner beschimpft würde, weil er Frauen mit 60 und Frührentner mit 58 Rente zahlen ließ, von nationalen und internationalen Konzernen Steuern einforderte, die überhalb der Nachweisbarkeitsgrenze lagen und einen Spitzensteuersatz von 56 Prozent bei Einkommen über 65.000,– Euro erhob, ja unter Kohl wurde von dem neoliberalen Zeugs nur wenig umgesetzt, da er fürchtete, sonst Wahlen zu verlieren. Erst durch das neoliberal Geschreibsel von Leuten wie Ihnen und die Überzeugungsarbeit diverser Think-Tanks wurde über die Jahre hinweg der Virus des Neoliberalsismus auch in die ehemals linken Milieus eingeimpft. Im Jahr 1998 brach dann die Krankheit ungehemmt aus, da sich das Virus ganz tückisch des Mantels der Sozialdemokratie bediente.

aawirth
aawirth
5 Jahre zuvor

Nicht wenn Sarah den Kurs bestimmt-

Gerd
Gerd
5 Jahre zuvor

@1:

Ja, die entscheidenden Fehler wurden in den späten 60ern und frühen 70ern gemacht. Man hat nicht genug nicht in die Partei gelassen. Die ganzen Vertreter des linken Bildungsbürgertums sind der Arbeiterpartei schlecht bekommen. Die hatten keinen Bezug zur Welt der Arbeiter und machten deswegen auch nicht Politik für sie. Was den Arbeitern nach einiger Zeit immer klarer wurde.

Psychologe
Psychologe
5 Jahre zuvor

"Der naheliegende Gedanke, sich vermehrt um Freiberufler und Beschäftigte im Dienstleistungsbereich zu kümmern, kam den Genossen indes nicht."

Wie wahr! Wie wahr! Auch jetzt, wo Zersplitterung der Gesellschaft und Niedergang des Proletariats als Gründe für den Niedergang der SPD herangezogen werden, so wird doch vollkommen außer Acht gelassen, dass sowohl Freiberufler, als auch Dienstleistungs-Beschäftigte und prekäre Akademiker noch reichlich Schnittmengen einen:
Alle wollen essen. Alle wollen ein Wohlstandsversprechen. Alle wollen eine sichere Zukunft. Keiner will Altersarmut. Keiner will ab 50 Jahren "vermittlungsbehindert" sein. Und die wenigsten, deren Jobs bedroht sind, profitieren von "Start-Ups" (wie viele der "Schlecker-Frauen" wohl dort eine neue Perspektive gefunden haben?…).
Die Tröte des politischen Zeitgeistes jedoch posaunt: Gendertoiletten, Inklusion, Feinstaub, Energiewende, und seit neuestem werden wir auf den Wohlstandsverzicht zu Gunsten des Weltklimas eingestimmt.
Die Themen lägen also auf dem Silbertablett, man ist sich nur zu fein oder orientierungslos für diese.

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