Prostituierte demonstrieren für den Erhalt ihres Straßenstrichs, Kommunalpolitiker wollen in ihr mit dem eisernen Besen kehren und junge Künstler lieben sie: Die Dortmunder Nordstadt. Sie ist Problembezirk, Zufluchtsstätte und Hoffnungsträger zugleich. In keinem Stadtteil des Ruhrgebiets prallen die Gegensätze stärker aufeinander. Und über keinen wird mehr gestritten.
Sie trugen Schilder mit Aufschriften wie „Wir sind nicht kriminell“, „Wir haben Angst um unsere Sicherheit“ und „Die Polizei soll mich schützen, nicht jagen“. 60 Prostituierte zogen am Donnerstag von der Nordstadt aus zum Dortmunder Rathaus, um gegen das geplante Verbot des Straßenstrichs an der Ravensberger Straße zu protestieren. Das wird der Rat auf seiner Sitzung am 31. März wahrscheinlich beschließen: SPD, CDU, Oberbürgermeister und Polizeipräsident sind sich weitgehend einig: Der Straßenstrich soll weg.
600 Prostituierte arbeiten hier über das ganze Jahr verteilt. Bis zu 80 Damen bieten ihre Dienste hier Abends an und ziehen Besucher aus dem ganzen Ruhrgebiet an. In Stoßzeiten stauen sich die Wagen der Freier und hindern Familien am Besuch der benachbarten Baumärkte, Discounter und Gartencenter.
Die meisten Prostituierten kommen aus der bulgarischen Stadt Plovdiv. Viele von ihnen sind Roma-Frauen, die häufig von ihren Männern oder Väter zur Prostitution gezwungen werden. Die Polizei geht davon aus, dass ein Großteil des Geldes, das sie in Dortmund auf dem Strich verdienen, in ihr Heimatland zurückfließt. Dort leben die Roma in unbeschreiblichem Elend: Heruntergekommene Häuser, Viertel ohne Kanalisation, Kriminalität, mangelhafte medizinische Versorgung: Berichte über Plovdiv erinnern stärker an einen Slum aus der dritten Welt als nach Beschreibung der zweitgrößten Stadt eines Mitgliedstaates der europäischen Union. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Prostituierten in Dortmund gestiegen – und mit ihnen kamen ihre Männer. Viele von ihnen sind kriminell: Vor allem von 2009 auf 2010 ist laut der Statistik des Landeskriminalamtes die Zahl der tatverdächtigen Bulgaren in Nordrhein-Westfalen von 1291 auf 2026 gestiegen. Die allermeisten dieser Tatverdächtigen kamen aus Dortmund. Die Hoffnung der Kommunalpolitiker fasst die Vorsitzende der Nordstadt-SPD, Dr. Marita Hetmeier zusammen: „Wir wollen mit dem Verbot des Straßenstrichs, aber auch mit mehr Kontrollen auf den Straßen, ein Zeichen setzen: Hier ist es nicht mehr nett und gemütlich, wir dulden keine Kriminalität mehr. Wenn dann weniger von ihnen kommen und mehr gehen, haben wir unser Ziel erreicht.“
Für Hetmeier ist vor allem der männliche Anhang der bulgarischen Prostituierten das Problem: Kriminelle, die Tag und Nacht an der Mallinckrodtstraße in der Nähe des Strichs herumstehen und schon durch ihre bloße Anwesenheit eine bedrohliche Atmosphäre schaffen. Die führe dazu, sagt die Maklerin und Immobilienbesitzerin, dass sich viele Menschen nicht trauen, in die Nordstadt zu ziehen. Schlagzeilen von heruntergekommenen Häusern, 60 sogenannte Problemhäuser hat die Stadt festgestellt, sorgen dafür, dass der Stadtteil zusätzlich in Verruf geraten ist. Einige dieser Häuser wurden tatsächlich von Bulgaren besetzt. In den allermeisten jedoch werden ihnen Wuchermieten abgepresst, werden keine Wohnungen vermietet sondern Zimmer oder Matratzen. So lassen sich Mieteinnahmen erzielen, die auf dem normalen Wohnungsmarkt in der Nordstadt unvorstellbar sind.
Denn der Wohnungsmarkt ist entspannt. Die Nordstadt ist ein preiswertes Viertel und in weiten Teilen ein ausgesprochen schönes. Nur ein kleiner Teil ist schlagzeilenträchtiges Problemquartier. Nirgendwo im Ruhrgebiet finden sich so viele Häuser aus der Gründerzeit. Wer sich die Zeit nimmt, durch die Nordstadt zu gehen, entdeckt überall liebevoll restaurierte Fassaden, Programmkinos, Szenekneipen, kleine Parks, Restaurants. Vor allem jetzt, wo die Tage wärmer werden, wird es auf den Straßen lebendig. Kinder spielen draußen auf den Gehsteigen.
Und hier lebt auch Gott. Sein Vorname lautet Boris, er ist Musiker und hat viele Stücke über die Nordstadt geschrieben. Er singt über die Gegensätze des Quartiers, seine Härte und seine Schönheit. Seit zehn Jahren wohnt und arbeitet er hier, er organisiert Festivals, Konzerte, und seine eigene Plattenfirma heißt nach dem berühmtesten Platz des Viertels: Nordmarkt-Records. „ Sicher, es gibt hier Drogen und Gewalt, aber das spielt sich innerhalb dieser Milieus ab. Wer nichts mit diesen Leuten zu tun hat bekommt davon nichts mit.“ Für Gott ist die Nordstadt das Ruhrgebiet in klein: „Hier gilt: Leben und leben lassen. Die Nordstadt ist ein liberaler Schmelztiegel. Die Floskel, dass Multi-Kulti tot sei stimmt nicht. In der Nordstadt gibt es über 100 verschiedene Ethnien, und die sprechen miteinander deutsch, weil sie sich sonst nicht verständigen können.“
Sicher, die Arbeitslosigkeit ist hoch, der Migrantenanteil auch, aber das war schon immer so in der Nordstadt, nur, dass die Migranten früher aus Bayern oder Polen kamen. „Die Nordstadt war schon immer ein Bezirk mit Problemen, aber ein Slum ist sie nicht. Wir haben hier auch Probleme mit Kriminalität, aber eine Verbrechenslawine kann ich nicht erkennen.“ Bastian Pütter stört die Aufgeregtheit, mit der die Politik über die Nordstadt diskutiert. Pütter ist Chefredakteur des Obdachlosenmagazins Bodo und hat als Student in der Nordstadt gewohnt. Wie viele zog er später, als er Vater wurde, mit seiner Familie ins schicke Kreuzviertel in den Süden Dortmunds. „Die Politiker konstruieren hier ein Bedrohungsszenario, das es so nicht gibt. Klar ist: Wir haben ein Problem mit einer neuen Form der Armutsmigration, auf die wir nicht vorbereitet sind. Gegen Kriminalität muss natürlich vorgegangen werden. Aber wird dürfen auch nicht vergessen, dass die Roma Opfer der großen sozialistischen Menschenexperimente in Osteuropa waren. Sie sind dort wie hier die Unterschicht, aber die meisten von ihnen sind Opfer, und keine Täter. Sie sind Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution und auch Mietwucher. Wir müssen die Opfer schützen und ihnen Perspektiven geben. Diese Menschen sind EU-Bürger und haben die entsprechenden Rechte.“
Auch Wilhelm Steitz, der grüne Ordnungsdezernent, setzt nicht auf Vertreibung: „An der Integration führt kein Weg vorbei.“ Steitz hat heruntergekommen Häuser räumen lassen und wollte den Bewohnern, wie es das Gesetz vorschreibt, Ersatzwohnungen anbieten. „Wir haben aber keinen Kontakt zu diesen Menschen. Viele trauen dem Staat nicht. Sie sind in einer Diktatur und einem korrupten Staat groß geworden. Die wenigsten glauben, dass der Staat ihnen Hilfe anbieten wird. Die meisten Bulgaren beantragen noch nicht einmal Kindergeld.“
Steitz Mitarbeiter bemühen sich um Kontakte zu den Roma. Es scheitert nicht an der Sprache, die meisten von ihnen sprechen türkisch und gehören damit in Bulgarien gleich zu zwei ungeliebten Minderheiten. Es scheitert an der Verschlossenheit der Roma: „Sie bleiben unter sich und wollen keinen Kontakt. Wir kennen auch ihre Strukturen nicht.“ Damit ist Steitz nicht alleine: Auch die Dortmunder Polizei erklärt auf Nachfrage dieser Zeitung, dass sie keine Einblicke in die internen Strukturen des bulgarischen Milieus habe.
Steitz ist sich sicher, dass es zu früh war, Bulgarien in die EU aufzunehmen: „Das Land hätte erst einmal seine sozialen Probleme in den Griff bekommen müssen. Aber das ist nicht der Fall. Und noch heute kommt Hilfe aus der EU dort doch nicht bei denen an, die sie benötigen, sondern versandet in einer korrupten Verwaltung.“ Die Roma fliehen aus dem bulgarischen in das Dortmunder Elend, das immer noch besser ist als ein Leben in Plovdiv. Steitz weiß, dass Dortmund seine Probleme nicht alleine lösen kann und will Kontakt zu einem kommunalen Netzwerk von Beneluxstaaten aufnehmen, das sich mit den gleichen Problemen, wie er sie in Dortmund hat, auseinandersetzt.
Die Demonstration der Prostituierten wurde von Kober, der Prostituiertenberatung des Sozialdienstes Katholischer Frauen, unterstützt. Sozialarbeiterin Christina Stodt ist gegen das Verbot des Straßenstrichs. 2000 sei der von der Stadt eingerichtet worden, damit die Prostitution in dxen Wohngebieten der Nordstadt zurückgeht und die Frauen sicher arbeiten können. In den Verrichtungsboxen an der Ravensberger Straße, in die sie mit ihren Freiern fahren, gibt es Alarmanlagen. „Früher, in den Wohnungen, wurden viele Frauen Opfer von Gewalt.“ Wenn der Strich aufgelöst wird, da ist sich Stodt sicher, kehren die alten Verhältnisse zurück. Die Gewalt wird zunehmen, die Nordstadt nicht ruhiger werden. Denn ruhig – das war sie nie, die Dortmunder Nordstadt.
Der Artikel erschien in ähnlicher Form bereits in der Welt am Sonntag
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Links anne Ruhr (31.03.2011)…
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Zum Thema Plovdiv, das in der Presse immer nur mit extrem negativen Bildern dargestellt wurde:
– Kulturhauptstadt Europas 2019
– Auf der Liste "52 Places to Go in 2019" der New York Times auf Platz 48:
https://www.nytimes.com/interactive/2019/travel/places-to-visit.html