Streitet euch!

Krippe im St. Patrokli-Dom, Soest Foto: Stefan Tsingtauer Lizenz: CC BY-SA 4.0

 

Nach dem Attentat von Magdeburg erklingen Rufe nach Zusammenhalt. Die große gesellschaftliche Einigkeit wird als Abwehrzauber gegen Extremismus angepriesen. Irrtum! Gerade diese staatlich verordnete Harmonie ist es, die Andersdenkende radikalisiert. Von unserem Gastautor Michael Miersch.

Jetzt appellieren sie wieder. Der Kanzler ruft die „Menschen in Deutschland“ dazu auf „zusammenzustehen“. Bundespräsident und Kirchenvertreter beschwören die „Einigkeit“ und TV-Kommentatoren warnen vor einer „Spaltung der Gesellschaft“. Deutschland liebt den Konsens. „Vertragt euch Kinder, nur nicht streiten!“ – die weihnachtliche Mahnung, den viele von ihren Müttern kennen, ist zur Ideologie geworden. Als ob die Lösung der großen gesellschaftlichen Aufgaben im alternativlosen Konsens läge.

Gerade der von Politik und den Publikumsmedien beschworene Konsens hat dazu geführt, dass sich Menschen ausgegrenzt fühlen und verbittert werden. Bis vor Kurzem wurde jeder aus Konsensdeutschland verstoßen, der skeptisch gegenüber der „Willkommenskultur“ und der unbegrenzten Aufnahme von Migranten war. Hinweise auf religiösen Fanatismus, totalitäre Gesinnung und Antisemitismus vieler Neuankömmlinge aus muslimischen Ländern wurde als fremdenfeindlich und faschismusverdächtig abgetan. Nur kein Streit! Eine kontroverse politische Debatte fand nicht statt. Wer sie einforderte, gehörte nicht mehr in die Gemeinschaft der Weltoffenen und Toleranten.

In der Klima- und Energiepolitik ist es bis heute so. Die eiserne Konsensfront lässt jedes unbequeme Argument abprallen. Statt eine Debatte zu ermöglichen, in der um das Für und Wider der Maßnahmen gestritten wird, verbreitete nahezu das gesamte Mediendeutschland die apokalyptischen Visionen der heiligen Greta. Wer nicht in die Endzeitgesänge einstimmte, störte den kuscheligen Zusammenhalt. Von produktiver Kontroverse keine Spur. Die „große Transformation“ darf nach Ansicht der Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und Kultururbetrieb keinesfalls in Frage gestellt werden.

Hätte nicht ein öliger Konsens jeglichen Streit um die Prämissen und Ziele verhindert, wären Fehlentscheidungen vielleicht früher erkannt worden. Offensichtlich falsche Weichenstellungen hätten neu zu justiert werden können, Womöglich wäre dabei eine funktionierende Einwanderungspolitik und eine bezahlbare und wirkungsvolle Umstellung der Energieinfrastruktur herausgekommen. Stattdessen übernahmen alle deutschen Regierungsparteien des vergangenen Vierteljahrhunderts die grüne Ideologie von den für jedermann offenen Grenzen und der toxischen Kombination aus Klimapanik und Atomangst. Manche mehr, manche weniger – doch weder CDU/CSU, noch FDP oder SPD stellten die grünen Prämissen grundsätzlich in Frage. Dies überließ man den Parias von AfD, deren Wähler man im Ton moralischer Überlegenheit beschimpfen konnte, bei gleichzeitiger Dauerbeschwörung von „Einigkeit“ und „Zusammenhalt“.

Es ist wie in dem britischen TV-Klassiker „Fawlty Towers“. Als Gäste aus Deutschland erwartet werden, schärft der von John Cleese gespielte Hotelbesitzer allen Mitarbeitern ein, keinesfalls den Krieg zu erwähnen („Don’t mention the war!“). Was am Ende dazu führt, dass die unterdrückten Affekte mit aller Gewalt durchbrechen. Sämtliche Alle-Deutschen-sind-Nazis-Klischees prasseln auf die verblüfften Hotelgäste nieder. Freud hätte seine Freude daran gehabt.

Reale Probleme lassen sich nicht verdrängen, und schon gar nicht mit Kirchentagsrhetorik. Wer wollte bestreiten, dass durch die Einwanderungspolitik und die Energiewende der Regierungen Merkel und Scholz vieles schlechter wurde. Wer jede Kritik daran gleich unter AfD-Verdacht stellt, betreibt Wahlkampfhilfe für die AfD. Politische Streit – auch um Grundsätzliches – ist das Lebenselixier liberaler Demokratien. Wer ihn vermeiden will, fördert den Extremismus.

Der Text erschien bereits auf dem Blog von Michael Miersch.

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