Während vielen Menschen im Sudan offenbar seit Monaten klar war, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Armee und den Milizen der Schnellen Eingreiftruppen droht, schienen westliche Experten blind dafür zu sein. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.
Nach erfolgreicher Karriere beim deutschen Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik zog es Volker Perthes in die Politik. So wurde er im Februar 2021 zum UN-Sonderbeauftragten für den Sudan und sollte auf diesem Posten der Weltorganisation schließlich dabei helfen, nach dem Putsch der Armee gegen die damalige Regierung eine zivile Übergangsregierung zu formen.
Mit Perthes hielten sich, wie in Krisenstaaten üblich, Hunderte von UN- und NGO-Mitarbeiter, Experten, Beratern und natürlich Diplomaten im Land auf. Zu Recht fragt man sich, wie sie alle nun offenbar völlig überrascht von den aktuellen Entwicklungen sein können. Eine Frage, die sich auch Journalisten der britischen Tageszeitung The Guardian stellten und beim Versuch einer Beantwortung auf dieses Statement von Volker Perthes stießen:
»›Das ist das schlimmstmögliche aller Worst-Case-Szenarien‹, sagte Volker Perthes. ›Wir haben es sogar mit einem letzten verzweifelten Anlauf von Diplomatie versucht … vergangene Woche und wir sind gescheitert.‹ Ob es denn keine Vorwarnung gegeben habe, fragte ein Mitarbeiter. ›Nein, uns lag keine Vorwarnung vor‹, sagte Perthes laut dem Protokoll des Treffens, das dem Guardian vorliegt.«
Damit gaben sich die Journalisten allerdings nicht zufrieden und hörten sich ein wenig unter Sudanesen um und erfuhren, dass die Eskalation keineswegs besonders überraschend sei, sondern man Ähnliches seit Wochen befürchtet und auch entsprechende Warnungen ausgesprochen habe:
»Einwohner von Khartum sagen, sie hätten schon seit Monaten vor einem solchen Zusammenstoß gewarnt. Beide Fraktionen [die Armee und die Milizen der Schnellen Eingreiftruppen (RSF); Anm. Mena-Watch] hatten für einen Kampf mobilisiert, Munition gehortet, die Rekrutierung beschleunigt, zusätzlichen Treibstoff und medizinische Versorgung, sogar Blut herbeigeschafft. Zwei Nächte vor dem Ausbruch der Gewalt herrschte in den Cafés und Restaurants von Khartum nicht die übliche Hektik eines Abends während des Ramadans.«
Trügerische Ruhe
Shamael el-Noor, eine in Khartum ansässige sudanesische Politikanalystin, sagte, Gespräche mit beiden Fraktionen hätten sie davon überzeugt, dass es zu Gewalt kommen würde. »Ich war mir der Spannungen zwischen RSF und Armee bewusst und sicher, dass es jederzeit zu einer unerwünschten [gewalttätigen] Situation kommen könnte. Ich rechnete fest damit, dass es zu einer Explosion kommen würde [und] wusste, dass, wenn sie irgendwo ausbrechen würde, es sicherlich in Khartum sein würde. … Ich war mir nur nicht sicher über das Ausmaß.«
Viele Einwohner hätten die als mögliche Hinweise auf ein Risiko angesehenen Aktivitäten hochrangiger ausländischer Diplomaten in Khartum beobachtet. »Diese Leute wurden durch die Position der amerikanischen Botschaft beruhigt und meinten, solange die Amerikaner keine Warnungen herausgeben, sei die Situation sicher«, so el-Noor.
Was viele dieser sudanesischen Beobachter damit in einer trügerischen Sicherheit wähnte, war, dass westliche Botschaften weder Warnungen aussprachen noch (selbst) größere Sicherheitsvorkehrungen trafen. Vermutlich vertrauten die westlichen diplomatischen Vertretungen wiederum auf Expertisen wie die von Volker Perthes und waren deshalb bis zuletzt nicht alarmiert.
Das wirft erneut ein Licht auf die Art und Weise, wie solche internationalen Missionen viel zu oft funktionieren: Jene, die eigentlich dem Wohl der Bevölkerung dienen sollen und dafür auch gut bezahlt werden, leben und arbeiten in irgendwelchen Expat-Blasen und pflegen wenig Kontakt zu ganz normalen Bürgern. Stattdessen sitzen sie in gesicherten Compounds und treffen sich, wenn überhaupt, nur mit Regierungsvertretern.
So auch im Sudan, wo Kontakte vor allem zu jenen Generälen und Warlords bestanden hatten, die nun den Konflikt vom Zaun brachen und beide auf eine höchst blutige Geschichte zurückblicken können. In den Worten des amerikanischen Analysten Cameron Hudson lief das so ab:
»US-Kommentatoren weisen darauf hin, dass der Militärputsch im Jahr 2021 nur wenige Stunden, nachdem [Armeechef] Fattah al-Burhan dem US-Sonderbeauftragten für das Horn von Afrika sein Engagement für einen Übergang zu einer zivilen Regierung zugesichert hatte, stattfand. Sowohl der General als auch [der Chef der RSF-Milizen] Hemedti ›erzählten der internationalen Gemeinschaft, was sie hören wollte‹, mit dem Ergebnis, dass die USA ›grundlegend falsch eingeschätzt‹ hätten, mit wem sie es im Sudan zu tun haben. ›Wir glaubten, was Burhan und Hemedti uns sagten: dass sie die Absicht hätten, die Macht an Zivilisten zu übergeben. Das setzte voraus, dass man glaubte, der Leopard habe seine Flecken gewechselt. Aber zu keinem Zeitpunkt konnte man vor Ort irgendetwas vorweisen, das dies bewiesen hätte‹.«
An Demokratie nicht interessiert
Kurzum, man traute den Zusagen von Personen, die vermutlich am Völkermord in Darfur beteiligt waren und wie RSF-Führer Hemedti im Jahr 2019 in friedliche Demonstrationen schießen ließen.
Machte sich jemand die Mühe, die Berichte entsprechender UN-Agenturen aus den letzten Jahren zu lesen, würde er bestimmt herausfinden, dass sie in der ihnen ganz eigenen NGO-Diktion hoffnungsfroh stimmende Prozesse beschreiben und den Eindruck vermitteln, mit der Bildung ziviler Strukturen sei es ständig vorangegangen. Den NGOs und staatlichen Vertretern wurde, fasst Hudson zusammen, einfach erzählt, »was die internationale Gemeinschaft hören wollte«.
Diese ominöse und vielzitierte internationale Gemeinschaft besteht nun wiederum eigentlich aus Europa und den USA. Andere Staaten, allen voran Russland, China auf der einen und Saudi-Arabien und Ägypten auf der anderen Seite verfolgten im Sudan ganz andere Interessen. Und sie alle ziehen es vor, mit »starken Männern« zu kooperieren; an zivilen Übergangsregierungen haben sie dagegen nur sehr beschränktes Interesse. In den Worten von Ahmed Soliman, der für den Londoner Thinktank Chatham House arbeitet:
»Es gab viele verschiedene Besuche, viele Gesandte. … Es gibt viele Akteure, die an einem autoritären Militärregime in Khartum interessiert sind und viel weniger Interesse an einer zivilen Regierung, die demokratische Werte in der Region verbreitet.«
Kurzum: Der Sudan reiht sich nun ein in die lange und leider sehr blutige Anzahl von Ländern in der Region, in denen irgendwelche Friedensmissionen kläglich gescheitert sind. Wie zuvor im Jemen und in Syrien setzt eine Seite auf Verhandlung und Diplomatie, die andere schafft Fakten mit Waffen.
Dass die autoritären Machthaber in der Region kein Interesse an einer Demokratisierung und damit am eigenen Machtverlust haben, ist eigentlich eine Binsenweisheit, die zu verstehen nicht allzu kompliziert sein sollte. Und genau deshalb sind auch Russland und neuerdings China so attraktive Alternativen, denn ihnen geht es bekanntermaßen nicht um Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit.
Umgekehrt wissen nicht nur all jene, die mutig für Veränderung auf die Straße gegangen sind und gehen, sondern eben auch die Machthaber, die auf irgendwelchen Meetings erzählen, was die UNO von ihnen hören mag, dass weder die USA noch Europa es mit ihrem ganzen Gerede sonderlich ernst meinen und ihr Militär, wenn überhaupt, nur noch zur Evakuierung all jener Experten zum Einsatz bringen, die zuvor mit ihren Expertisen so furchtbar falsch lagen.
Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch