Syrien. Ein Land ohne Krieg.

In Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ berichtet ein Ich-Erzähler von seinem Leben und thematisiert dabei den gedanklichen Vorgang des „Sich-Erinnerns“. „Verlorene Zeit“ meint hier die Zeit, die unwiederbringlich vergangen ist, wenn sie nicht in der Erinnerung oder in einem Kunstwerk konserviert wird.

2017 erschien im Malik Verlag der Bildband „Syrien. Ein Land ohne Krieg“ der deutsch-syrischen Autorin Lamya Kaddor mit 200 Fotos des renommierten Fotojournalisten Lutz Jäkel. Die Nürnberger Zeitung schrieb dazu in ihrer Rezension: „In dem schönen Bildband zeigen Fotograf Lutz Jäkel, Lamya Kaddor und andere Autoren, wie dieses aussehen könnte – eben wie vor 2011.“

Der Krieg in Syrien mit inzwischen geschätzten 500 000 Todesopfern und Millionen Flüchtlingen im Libanon, der Türkei und in Europa ist inzwischen sehr in den Hintergrund geraten, spätestens seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine am 24. Februar 2022. Von der Ukraine sehen wir nun täglich die immer gleichen Bilder von zerbombten Wohnhäusern, ausgebrannten Panzern, Rauchwolken von Detonationen, den gesamten Irrsinn des Krieges und mit den Wochen, die dieser Krieg andauert und kein Ende zu nehmen scheint, stumpfen wir ab. Deshalb interessiert mich „Syrien. Ein Land ohne Krieg“. Ich möchte wissen, was das mit mir als Leser macht, diese Bilder und Texte vor dem Hintergrund des inzwischen über zehn Jahre währenden Krieges zu sehen und zu lesen. Was sagen die Bilder des „Davor“ aus über die verlorene Zeit Syriens und der Syrerinnen und Syrer, der in den Ländern verstreuten Exilanten und was erzählen die Texte über ihre Gedanken an ihr Land vor dem Krieg? Was kann das „Davor“ bedeuten für das „Jetzt“ und das „Demnächst“?

Ein Selbstversuch

Im Vorwort legt die Autorin Lamya Kaddor ihre Beziehung zu Syrien offen:

„Eine tiefe Verbundenheit zu dieser Natur und zu diesem Land gehören fest zu meiner Kindheit und Jugend. Der Großteil meiner weiteren Familie lebt bis heute in Syrien. Dieses Land ist eine zweite Heimat für mich. Umso mehr schmerzt mich sein jetziger Zustand. Der elende Krieg hat auch in meiner Familie bittere Spuren hinterlassen. Drei meiner Cousins wurden getötet. Bekannte aus der Nachbarschaft umgebracht. Mein Onkel und zwei Tanten sind in der Zwischenzeit verstorben, ohne dass wir uns von ihnen hätten verabschieden können. Seit nunmehr sieben Jahren war ich nicht mehr in Syrien. Die Hilflosigkeit ob dieses äußerst brutalen Kriegs und des Versagens der internationalen Politik, die trotz großer Worte Tod und Leid weder zu stoppen noch zu lindern vermag, verfolgen mich bis in meine Träume.“

Als Lutz Jäkel ihr die Idee für das Buch vorschlug, war sie zunächst wenig begeistert, sie befürchtete einen Abgesang auf das Land. Doch als sie seine „atemberaubenden Fotos sah, die die Schönheit dieses Landes und seiner Menschen wie kaum jemals zuvor eingefangen hatten, war es um mich geschehen.“ Und so wurde „Syrien. Ein Land ohne Krieg“ zu einem politischen Manifest:

„Dieser Bildband erzählt von Syrien ohne Krieg. Wir möchten den grausamen Bildern und Nachrichten, die seit 2011 unsere Vorstellungen von diesem historisch und kulturell so reichen Land prägen, etwas entgegensetzen. Die Bilder sollen unsere Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass es mit Syrien weitergehen wird.“

Kaleidoskop

„Weil die zwei Sichtweisen von Lutz und mir so gar nicht ausreichen würden, um die Vielfalt dieses Landes auch nur annähernd einzufangen, haben wir Syrer, Deutsch-Syrer und deutsche Syrien-Freunde gebeten zu jeweils drei Bildern ihrer Wahl einen kleinen Text zu schreiben und uns mitzunehmen in ihre Gedankenwelt.“

schreibt die Herausgeberin und Autorin Lamya Kaddor in ihrem Vorwort und damit wird spätestens deutlich, dass es nicht um eine Perspektive auf das Land geht, sondern um eine multiperspektivische Sichtweise.

Die geografische Struktur des Bandes beginnt mit der Hauptstadt Damaskus und arbeitet sich dann vom Norden des Landes über den Osten, Süden bis zum Westen als Rundreise durch das Land.

Die Autoren

Den Beginn der Texte macht für Damaskus Aladin El-Mafaalani, seit 2019 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück. Er wurde im Ruhrgebiet geboren, seine Eltern kommen aus Dara’a und Damaskus. Die weiteren Texte stammen neben den Herausgebern Lamya Kaddor und Lutz Jäkel von den Autoren Ibrahim Alawad, Firas Alshater, Larissa Bender, Mamoun Fansa, Ahlam Gandura, Susan Halimeh, Kristin Helberg, Aiman Mazyek, Nahla Osman, Christoph Reuter, Elias Hanna Saliba, Maya Albasti und Khaled el-Ostah. Im Anhang des Bandes findet sich zu jedem Autor eine Kurzvita: Hier versammelt sich eine Textredaktion in einer fulminanten Mischung aus syrischen, deutschen, deutsch-syrischen und migrantischen Autoren aus den verschiedensten beruflichen Bereichen und dementsprechenden Perspektiven. Das oben zitierte Textkonzept der Vielfalt geht auf; die Autoren nehmen die Leser mit aus der globalen  Außenperspektive „Syrien“ hinein in eine spezielle  Binnenperspektive, ihre jeweilige biografische Nische der persönlichen Erfahrung und Erinnerung an „ihr“ Syrien.

Die Fotografien

Lutz Jäkel, Jahrgang 1970, ist Fotograf, Autor, Islamwissenschaftler und Historiker und hat in Hamburg, Damaskus und Sana’a studiert. Aufgewachsen in Istanbul, bereist und fotografiert er seit vielen Jahren die Welt und schreibt darüber. Jäkel hat nicht nur einen großartigen Blick für Motive und Situationen. Er hat auch die Gabe, mit den Menschen, die er fotografieren möchte so zu kommunizieren, dass sie das zulassen und dabei auf den Fotos ganz bei sich sind, nicht posen. So gelingen ihm sehr private Aufnahmen, die so wirken, als wäre der Fotograf gar nicht da. Seine Entscheidung für die jeweilige Nachbearbeitung entweder in Farbe, schwachfarbig, sepia Schwarzweiß oder einer Mischung daraus, geht sehr behutsam mit der jeweiligen Location um und erzeugt beim Betrachter ganz unterschiedliche  Zeitgefühle, Zeitlosigkeit oder des Aus-der-Zeit-Gefallen-Seins.

Beispielsweise das Foto auf den Seiten 12/13: Wir befinden uns in Damaskus im Al-Hamidiay-Souq aus der osmanische Epoche; 600 Meter lang, 15 Meter breit, zehn Meter hoch, bedeckt durch eine Metallbogenkonstruktion aus der Zeit des Jugendstils. Das Foto ist ein Querformat, die Perspektive um etwa 15 Grad nach links gekippt, sepiafarben mit schwachfarbigen Elementen, es herrscht geschäftiges Treiben, der Souq ist sehr belebt. Im Vordergrund mit dem Rücken zum Fotografen rechts eine Frau in einem floralen Hijab und vor ihr mit dem Gesicht Richtung Fotograf ein Mann in einem offenen Hemd, der ein Glas mit Tamaridensaft in der Hand hält. Der Mann schaut konzentriert die Frau an, so als existiere der Fotograf in dem Moment nicht, oder als würde er ihn nicht wahrnehmen. Links im Bild sehen wir den Tamaridensaft-Verkäufer, der einem anderen Kunden zugewandt ist, der wiederum gerade aus einem Glas trinkt und mit dem Verkäufer im Gespräch zu sein scheint. Der Mann rechts im Bild ist vollkommen auf die Frau ihm gegenüber fokussiert, links sind der Verkäufer und der Trinkende im Gespräch und so entstehen zwei sehr private, teils fast schon intimen Szenen an einem der öffentlichsten Plätze der  Millionen-Metropole. Diese Ambivalenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in ein und derselben Situation macht die besondere dramaturgische Spannung des Fotos aus.

Die Vielfalt des ausgewählten Fotokonvoluts zieht sich durch alle denkbaren Lebensbereiche; wir sehen Totalaufnahmen im Café, Paare, kleine Gruppen, Portraits, Architektur, Kioskbetreiber, Schafherden, Landschaften, Bäckereien, Straßen, Gassen, und Menschen jeglichen Alters vom Kleinkind bis zu Greisen. Lutz Jäkel hat auf seinen zahlreichen Syrien-Reisen ein fotografisches Vademecum über das Land zusammengetragen, das den Syrien-Kenner zustimmend nicken lässt und den Leser, der es bislang noch nicht bereiste, traurig darüber werden lässt, die Erfahrung dieses ganz besonderen Landes bislang versäumt zu haben. Wer nach der Lektüre nicht genug von den Bildern bekommen kann, dem sei in diesem Zusammenhang Lutz Jäkels Live-Reportage „Syrien. Erinnerungen an ein Land ohne Krieg“ (Termine unter: (lutz-jaekel.com)) empfohlen, für diejenigen, die nicht auf Termine in ihrer Nähe warten möchten, ist die Reportage auch unter dieser Adresse auch als DVD zu beziehen.

So verschieden die Texte in ihrem jeweiligen literarischen Stil und der ihnen eigenen Welterfahrung sind, so atmet doch jeder von ihnen auf seine eigene Weise den Odem der Liebe zu diesem besonderen Land, seinen Menschen, seiner Geschichte und Kultur. Weitere Texte der einzelnen Autoren finden sich in jeder gut sortierten Buchhandlung.

Fazit

Im nun über zehn Jahre währenden Krieg eines machtbesessenen Despoten gegen sein eigenes Volk wurden unzählige Kulturdenkmäler zerstört, was traurig ist, die Geschichte des Landes in einer Weise fortgeschrieben, die tragisch ist und über 500 000 Menschenleben ausgelöscht, was unfassbar schrecklich ist.  Millionen Menschen wurden im Kampf um ihr nacktes Überleben in die Flucht in den Libanon, die Türkei und andere Länder vertrieben, wo sie seitdem leben. Vielleicht können sie dort so etwas wie eine zweite Heimat finden, doch ihre ursprüngliche Heimat Syrien aus ihrer Erinnerung zu löschen, wird nicht möglich sein, soll und darf es auch nicht sein. Lutz Jäkel beschließt sein Vorwort mit den Sätzen:

„Diese Einheit, diese Vielfalt existieren wahrscheinlich nicht mehr. Dieser Gedanke schmerzt. Aber ich habe eine Hoffnung, dass die Syrer gerade aus ihrer reichen historischen und kulturellen Erfahrung die Kraft ziehen, ihrem Land diese Einzigartigkeit zurückzugeben. Lamya Kaddor und ich haben beide, trotz der verheerenden Bilder, die uns in diesen Zeiten erreichen und unsere Wahrnehmung prägen, die Hoffnung, dass diese Einzigartigkeit nicht verloren geht. Denn: Syrien lebt, natürlich. Und Syrien muss lebendig bleiben. Auch und gerade mit Erinnerungen an die Zeit vor dem Bürgerkrieg. (…) Wir möchten Syrien und vor allem Syrerinnen und Syrern eine Stimme geben. Daher sind die Texte in  Arabisch und Deutsch verfasst. Verbunden mit dem Wunsch, dass Syrien wieder seinen Frieden findet. Und seine Schönheit zurückerlangt.“

Diesem Wunsch der Herausgeber schließe ich mich vorbehaltlos an: Frieden und Schönheit sind unzertrennbar miteinander verbunden, im Krieg gibt es nur die Hässlichkeit von Gewalt, Zerstörung und menschlicher Auslöschung. Ich wünsche mir vor dem Hintergrund des Kriegs in Europa dasselbe für die Ukraine. Vielleicht kann „Syrien. Ein Land ohne Krieg“ als Blaupause für ein ähnliches Buchprojekt zur Ukraine dienen, das wäre schön.

Der Malik-Verlag, die Herausgeber Lutz Jäkel, Lamya Kaddor und ihre Autoren haben mit „Syrien. Ein Land ohne Krieg“ einen opulenten Bild-Textband geschaffen, dessen Texte in der Vielfalt und Qualität jeder einzelnen Miniatur literarisch sind und dessen Bilder die hervorragenden Arbeiten eines zu Recht vielfach preisgekrönten Fotokünstlers zeigen, die man sich auch sehr gerne  im Großformat einer Ausstellungshalle anschauen wird. Bis dahin freuen wir uns auf weitere, mutige Bildbände aus diesem sehr ambitionierten Verlag. Uneingeschränkte Lese- und Anschauempfehlung!

Lutz Jäkel, Lamya Kaddor: Syrien. Ein Land ohne Krieg.
Malik Verlag, München 13.07.2017
200 Seiten Hardcover mit Schutzumschlag
Texte: Zweisprachig: Deutsch und Arabisch.
EAN 978-3-89029-493-3, € 45 (D), € 46,30 (A)

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