Immer wieder tauchen neue Berichte und Videos über Verbrechen auf, die Syriens neue Machthaber in der Vergangenheit begangen haben soll. Die sollten nicht ungeprüft geteilt werden, denn gerade gibt es viele, denen es vor allem um Delegitimierung der Übergangsregierung in Damaskus geht. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.
Wer über die Entwicklungen in Syrien berichten will, ganz besonders aber über die neuen Machthaber von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), befindet sich oft in einem Dilemma. Nicht etwa, weil es sich bei ihnen um Islamisten handelt, die früher unter dem Namen Jabhat al-Nusra der syrische Flügel von Al-Qaida waren, sondern weil von interessierter Seite gerade förmlich eine Flut von Fake News über sie verbreitet wird, deren Ziel recht ersichtlich ist: Die Delegitimierung der neuen syrischen Regierung.
Nur stecken hinter den Accounts, die gerade allerhand Schauergeschichten – teils wahre, teils erfundene – über HTS verbreiten, oft keine säkularen Warner vor einer Islamisierung Syriens, sondern die Verlierer der jüngsten Umwälzungen: Iran, Russland und Anhänger des gestürzten Regimes.
Iran warnt vor Islamisierung …
Dass ausgerechnet etwa dem Iran oder der Hisbollah nahestehende Akteure vor Islamisierung und Scharia warnen, ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Denn das tun sie recht erfolgreich in Syrien schon seit Jahren, schließlich handelt es sich bei HTS um sunnitische Islamisten.
Zudem weiß man auch in Teheran oder bei der ebenfalls schiitischen Hisbollah in Beirut, dass im Westen mit Islamismus weit eher die doch meist etwas brachialer auftretende sunnitische Richtung assoziiert wird, die mit Kopfabhacken und Selbstmordattentaten medial auch präsenter war als die schiitische, von der Islamischen Republik Iran vertretene Variante, die sich nach außen meist etwas moderater zu inszenieren pflegt.
Und dann wären da die Anhänger des gestürzten Regimes, unter denen Alawiten und Christen überproportional vertreten sind und es schon während der Assad Diktatur geschafft hatten, der Welt vorzumachen, das Regime sei säkular, kämpfe gegen Islamisten und schütze Minderheiten. Warum mit etwas aufhören, was früher so gut funktionierte? Also macht man weiter – unterstützt von Troll-Fabriken in St. Petersburg, die ebenfalls seit über einem Jahrzehnt erfolgreich auf dieser Klaviatur spielen.
Nun klingen Warnungen vor Scharia und Übergriffen auf Minderheiten und Frauen angesichts einer Truppe, die sich früher nicht nur zu Al-Qaida bekannte, sondern sich eben auch wie selbige aufführte, keineswegs unplausibel. Nach all den Verbrechen, die Dschihadisten in Syrien und umliegenden Ländern in den vergangenen beiden Jahrzehnten begangen haben, mag eigentlich niemand, der halbwegs bei Verstand ist und über einen minimal funktionsfähigen moralischen Kompass verfügt, dieser Miliz einfach so glauben, dass sie meine, was sie sage, wenn sie erklärt, ihrer Vergangenheit abgeschworen zu haben.
Und doch sind viele der Meldungen, die gerade aus Syrien kommen und nur zu bestätigen scheinen, was zu befürchten war, aus oben genannten Gründen mit äußerster Vorsicht zu genießen, stammen sie eben doch von Internetseiten, die früher ganze Hetzkampagnen etwa gegen die White Helmets genannten Zivilschutzeinheiten geführt haben, denen sie etwa unterstellten, mittels False Flag-Aktionen für die Giftgasangriffe verantwortlich gewesen zu sein.
Umso wichtiger also ist es zu prüfen, welche Meldungen stimmen und wo sie herkommen. Damit beschäftigt sich eine Organisation namens Verify-Syria, die akribisch solchen Fragen nachgeht. Deshalb lohnt es auch, bevor man gewisse Inhalte ungeprüft teilt, dieser Seite einen Besuch abzustatten.
Sie bestätigt nämlich auch, wenn Meldungen richtig sind, an deren Authentizität Zweifel aufkamen. Dies etwa war der Fall bei einem Video, das den neuen Justizminister Syriens, Shadi Al-Waisi, im Jahr 2015 als Scharia-Richter und Jabhat-al-Nusra-Mitglied in Nordsyrien zeigt, der Todesurteile gegen Frauen verhängen ließ: »Die Plattform ›Verify-sy‹ führte einen gründlichen Verifizierungsprozess durch, bei dem mithilfe spezieller technischer Tools die Merkmale und der Tonfall, die in mindestens einem der Videos deutlich zu hören waren, mit den Merkmalen und der Stimme von Minister Shadi Al-Waisi abgeglichen wurden, der kürzlich in mehreren Interviews aufgetreten war. Die Ergebnisse zeigten eine hohe Übereinstimmung, trotz der schlechten Qualität der verbreiteten Aufnahmen.«
Vergangene Phase?
Interessant ist weniger, was der neue Justizminister in der Vergangenheit, welche die HTS ja weder abstreitet noch schön zu reden versucht, getan hat, sondern was in Folge der aktuellen Veröffentlichung des Videos geschehen ist. Verify Syria kontaktierte nämlich die neuen Machthaber und fragte nach, ob es sich in dem Video tatsächlich um Al-Waisi handelte und ob man dazu ein Statement bekommen würde. Das kam, wenn auch der Offizielle namentlich nicht genannt werden wollte:
»Der Inhalt des uns vorgelegten Videos dokumentiert die Durchsetzung des Gesetzes zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort, wo die Verfahren in Übereinstimmung mit den damals geltenden Gesetzen und im Rahmen einer Verfahrensvereinbarung durchgeführt wurden. Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass dieser Prozess eine Phase widerspiegelt, die wir angesichts der aktuellen rechtlichen und verfahrenstechnischen Veränderungen hinter uns gelassen haben, was es unangemessen macht, ihn zu verallgemeinern oder zur Beschreibung der aktuellen Phase zu verwenden, da die Umstände und Bezugspunkte unterschiedlich sind.
Wir bekräftigen unser starkes Engagement für die neuen Regeln und Grundsätze, auf die sich die Syrer geeinigt haben und die Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit garantieren, sowohl in rechtlicher als auch in verfahrenstechnischer Hinsicht. Im Zusammenhang mit der Abkehr von der dokumentierten Phase und unseres Engagements für Transparenz und Glaubwürdigkeit kündigen wir an, dass alle in diesem Zeitraum ergriffenen rechtlichen Maßnahmen einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden, um die Gültigkeit der Urteile und ihre Übereinstimmung mit den Standards der Gerechtigkeit und Fairness sicherzustellen.
Wir sind uneingeschränkt bereit, die volle Verantwortung in einer Weise zu übernehmen, welche die Schaffung von Gerechtigkeit gewährleistet, das Klima der Fairness verbessert und die Rechtsstaatlichkeit als grundlegenden Eckpfeiler eines modernen Staates garantiert, der den Erwartungen aller Syrer gerecht wird.«
HTS übernimmt in seiner Reaktion also die Verantwortung für die Exekutionen, erklärt aber zugleich, ganz der offiziellen Linie entsprechend, solch ein Prozedere sei nun Vergangenheit, in der andere Regeln gegolten hätten; man sei sogar bereit, das Geschehene irgendwie aufzuarbeiten und erklärt dann, wenn auch recht vage, künftig solle anders vorgegangen werden.
Ungewöhnlicher Vorgang
Verblüffend an dem Recherchevorgang ist schon, dass überhaupt jemand auf solch eine Nachfrage antwortete und der Fragesteller nicht für lange Zeit in einem Kerker verschwand. Das Ablegen einer Rechenschaftspflicht ist in Syrien im Besonderen und in der Region im Allgemeinen keineswegs die Regel; ganz im Gegenteil: Kritische Journalisten leben in ständiger Gefahr, entweder ihr Leben, zumindest aber ihre Freiheit zu verlieren.
Noch allerdings ist die Herrschaft von HTS alles andere als stabil und noch, so der keineswegs ungerechtfertigte Verdacht, zeigen die neuen Machthaber freundliche Gesichter, um, sitzen sie richtig fest im Sattel, ihre Masken fallen zu lassen.
Ob das geschehen wird oder die Erklärungen wirklich ernst gemeint sind, weiß niemand. Misstrauen ist deshalb mehr als angebracht. Ebenso aber sollte man auch Fälle wie oben genannten zur Kenntnis nehmen, allein schon, weil sie doch ein etwas differenziertes Bild von der Lage zeichnet als die Propagandakanäle, denen es nicht etwa um Bekämpfung von Islamismus geht, sondern um die Destabilisierung Syriens und Delegitimierung aller – nicht nur von HTS und Konsorten –, die jetzt in Damaskus eine Rolle bei der Bildung einer neuen Regierung spielen.
Wer, ob ungewollt oder absichtlich, Inhalte von Webseiten und -kanälen aus St. Petersburg, Teheran oder Beirut verbreitet, hilft deren Agenda und nicht etwa dem unterstützenswerten Ziel, äußerst kritisch zu verfolgen, was die neuen Machthaber und ihre Gefolgsleute in und mit Syrien tun.
Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch