System und Erfolg: Die Ruhrtriennale 2016

Ruhrtriennale Intendant Johan Simons, Foto: Ulrike Märkel
Ruhrtriennale Intendant Johan Simons, Foto: Ulrike Märkel

Auch ein großes Festival verträgt Kalauer. Mit „Glückauf Gluck“ verabschiedete Johan Simons bei der aktuellen Medienkonferenz der Ruhrtriennale 2016 seinen renommierten Dirigenten René Jacobs in die gerade anstehende Probe von Willibald Glucks ALCESTE. Von unserem Gastautor Dieter Nellen.

Mit dieser Oper, der Rezeption eines altgriechischen Theaterstoffes von Euripides durch die europäische Aufklärung beginnt das Festival an diesem Freitag in der Bochumer Jahrhunderthalle. Die Regie führt Johan Simons, am Pult steht René Jacobs.

Das Programm kündigt für die nächsten sechs Wochen rund 200 Veranstaltungen an, mit 40 Produktionen, 32 Eigen- und Koproduktionen, 20 Uraufführungen, Neuinszenierungen, Deutschlandpremieren und Installationen an. Das alles kann sich schon quantitativ sehen lassen und mit den großen europäischen Formaten messen.

Unter dem Niederländer ist der zivilgesellschaftliche Auftritt des Festivals ambitionierter geworden. Die Intendanz mag die große Ansage: „Wir können das Nachdenken über unsere Zeit und unsere Kontroversen nicht nur den Politikern überlassen“. Simons bevorzugt zudem das humanistische Narrativ („Seid umschlungen“), will die Werte der europäischen Aufklärung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum bestimmenden inhaltlichen Element des Festivals machen.

Die diesjährige Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, die Journalistin Carolin Emcke hält die Festrede. Der Vorgeschichte der beiden großen Weltkriege im letzten Jahrhundert wird sich Alain Platel künstlerisch mit der Choreographie „Nicht schlafen“ nach der Musik Gustav Mahlers widmen. Platels Kreationen sind seit Gerard Mortier bei der Ruhrtriennale hochgeschätzt.

Was übrigens bei der Nachfolge von Frank Castorf für die Volksbühne Berlin gegenwärtig an der Spree zu großen Debatten führt, hat mit der Ruhrtriennale und all ihren Theaterintendanten im besten Sinne System (und Erfolg): die Erweiterung des (Musik-)Theaters als inhaltlichem Kern zu einem spartenübergreifenden Kunstprogramm und zu einer Matrix ungewöhnlicher Spielstätten quer durch einen urbanen Parcours. In diesem Jahr kommt – nach Dinslaken-Lohberg in 2015 – die Kohlenmischanlage der gerade stillgelegten Zeche Victoria in Marl hinzu. Gut zwanzig Spielorte werden es insgesamt sein.

Auf den Vorplatz der Jahrhunderthalle ist das Kunstdorf des niederländischen Ateliers Joep van Lieshout mit dem „Refektorium“ als zentralem Begegnungsort zurückgekehrt. Es bildet die performative und frei zugängliche Ergänzung zur Jahrhunderthalle als dem baulichen Mittelpunkt des Festivals.

Für die Kraftzentrale des Landschaftspark Duisburg-Nord z. B. hatte der japanische Klang- und Videokünstler Ryoji Ikeda 2013 „Test pattern“, eine beeindruckende raumspezifische Klanginstallation aus Licht- und Schattenspiel realisiert. In diesem Festivaljahr wird man dort Julian Rosefeldts Video-Installation „Manifesto“ mit der australischen Schauspielerin Cate Blanchett als mimisch wandlungsreicher Videodarstellerin erleben können, nach dem Hamburger Bahnhof in Berlin die zweite Station der großartigen medialen Inszenierung.

Den sozialemanzipativen Anspruch des Festivals dürfte am authentischsten die Reihe „Urban Prayers Ruhr“ erfüllen, eine performative Expedition in die Glaubens- und Konfessionswelt der Region. Ein ähnliches Projekt hat Johan Simons bereits als Chef der Münchner Kammerspiele realisiert. Die Veranstaltung ist an sechs aufeinander folgenden Sonntagen in verschiedenen Gotteshäusern zu Gast. Jede Gemeinde ergänzt mit eigenen kulturellen Leistungen die jeweilige Darbietung von fünf Schauspieler/innen und dem ChorWerkRuhr als gestaltendem Ensemble.

Am stärksten nachgefragt sind schon jetzt ALCESTE, MEDEA.MATRIX (in der Regie von Susanne Kennedy mit dem Burgtheater-Star Birgit Minichmayr als mythischer Kindsmörderin) und die „Messe in h-moll“ von Johann Sebastian Bach. Das Collegium Vocale Gent wird dirigiert von dem Bach-Spezialisten Philippe Herreweghe, auch er bei der Ruhrtriennale im letzten Jahr bei der Eröffnung mit Accatone dabei.

Das Gesamtprogramm ist gewissermaßen auf allen Kanälen verfügbar. Der Internetauftritt ist redaktionell und gestalterisch bestens gelungen. Bei den Printmedien würde man sich wieder wie in den früheren Triennale-Zeiten ein konventionelles Programmbuch wünschen, nicht als Ersatz, sondern als Supplement zu den navigatorischen Flyern und der Festival-Zeitung als selbstinduzierendem Feuilletonmagazin.

Die Ruhrtriennale wäre ohne die Mittel des Landes NRW, der EU-Strukturfonds und des Regionalverband Ruhr in dieser qualitativen Tiefe finanziell niemals machbar. Anerkennung verdienen Geschäftsführung und Intendanz aktuell auch für die Leistung, maßgebliche Unternehmen der Ruhrwirtschaft, regionale und nationale Stiftungen, europäische Kulturfonds sowie bedeutende Medienpartner als Förderer gewonnen zu haben. Es geht bei diesem Engagement nicht nur um Geld und materiellen Support, sondern um Bekenntnis und Identifikation maßgeblicher Kräfte mit einem künstlerischen Großprojekt, das wie wenige andere für den kulturellen Identitäts- und Qualitätsanspruch an der Ruhr steht. Denn die Ruhrtriennale soll nicht nur ein kulturelles und künstlerisches, sondern im gut verstandenen Sinne gesellschaftliches Ereignis sein.

Glückwunsch für 2016 und Glückauf für die Zukunft.

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