A local Hero´s Diary III: Sex, Drogen & Godard

Unser Gastautor Carsten Marc Pfeffer berichtet auch im dritten Teil wie seine Local Hero Woche in Bochum gelaufen ist.

Mittwoch, 14 Juli: Eine Ahnung von frisch aufgetragenem Chanel Nr. 5 kommt aus dem Bad. Sie ist also schon aufgestanden. Wenn sie zu Bett geht, dann sagt sie: „Ich mag keinen Kapitalismus, weil er mich ins Bett schickt, obwohl ich noch gar nicht müde bin.“ Jetzt ist sie wach und wuselt durch meine Wohnung, schon halb im Job. „Das ist alles deine Schuld“, hör ich sie rufen. Diesmal also nicht der Kapitalismus. Manchmal frag ich mich, ob ihr Kommunarden-Slang nicht bloß Fake ist. Immerhin hat sie sich in eine der reichsten Familien der Stadt eingeheiratet. Es gibt Orte, an denen bin ich für sie nur ein Schatten. So wie sie wiederum viele dunkle Stellen in meinen Songs markiert. Ein Hinweis, der vielleicht diese Indiskretion entschuldigt.

Mittlerweile habe ich mich auf die Couch begeben und lese ein wenig in Tender Bar von J.R. Moehringer. Ein großartiges Buch, sehr filmisch. Es erzählt meine Geschichte – aber das denke ich immer, wenn ich ein Buch lese. Manchmal sogar, wenn ich einen Film sehe. In der Küche wird ein Laptop heruntergefahren. Jetzt kommt sie rein und schaut mich mitleidig an. Leicht gelangweilt, aber ansprechbar.

„Kommst du Freitag zum Gig?“
„Wir sind doch bis Montag auf…“
„Dann Dienstag?“
„Dienstag.“

Irgendwie scheint die Local Hero Woche in Bochum heute eine Auszeit zu nehmen. Ich überfliege das heutige Kulturprogramm in der Tageszeitung und erkenne den Schwindel. Heute passiert nichts, was nicht auch sonst passiert wäre. Was natürlich nicht stimmt, weil ein imposantes Programm zusammengeschustert wurde, das auch einige Überraschungen bereithält. Doch fehlt zwischen Semesterkonzert und Fiege-Kino-Open-Air der besondere Kick. Herbert Grönemeyer mit Westerngitarre vor dem Bratwursthäuschen – das wär doch mal was. Da fallen mir gleich zwölf Überschriften zu ein. Doch es sieht so aus, als würden die Local Heroes einen Tag lang ihre Kraft sparen wollen, für das, was da noch kommt. Auch ich sollte mich etwas schonen und entscheide mich, bis Montag keine Pressejobs mehr anzunehmen. Immer wieder falle ich zurück in so nölige Phasen, besonders wenn ich Bahn fahre. Das muss an dem vielen Arbeiten liegen. Immer auf der Suche nach einem Thema, und immer wieder muss die größte Skrupellosigkeit mobilisiert werden, um all das zu Papier zu bringen. Dazu dieser nervennagende Zweifel, weil man weiß, dass man von dem Ganzen überhaupt keine Ahnung hat und nur ein Ignorant und ein Wahnsinniger ist. Dabei hatte ich mir doch für meine Songs das Nervenkostüm so sonderbar verzärtelt… – Es wird auch ohne Jobs gehen.

Agenten im Raucherkino

Um mich auf dem Laufenden zu halten, gehe ich ins Konkret. Ich hätte auch ins Tucholsky gehen können; ein Café um die frühe Mittagszeit ist der beste Platz für einen Journalisten. Die Leute wissen, dass man von der Presse ist und erzählen einem alles. Ein verstörender Trend. Aber vielleicht gibt es ein kollektives Verlangen zu beichten. Wie im Fernsehen. Vielleicht. Größer ist allerdings das Verlangen zu petzen. Was auch mir lieber ist, denn nichts schreibt sich besser als Aufreger. Da erscheint auch schon mein Informant. „Soll schwer was los gewesen sein, gestern beim Leo“, beginnt er. „Alles, was Rang und Namen hat in der FIFA hat auf seiner Dachterrasse gefeiert.“ So, so. Aber für solch einen Klamauk hatte ich ihn nicht ins Café bestellt. Nun schweigt er, als gelte es einen Wettkampf zu gewinnen. Für einen kurzen Augenblick muss an etwas ganz anderes denken, dann komme ich zurück zum Thema.

„Was ist mit der Liste?“
„Welche Liste?“
„Na, die Liste!“
„War schwer ranzukommen?“
„Wieviel?“
„War ‘ne Menge Arbeit.“
„Wieviel?“
„Meinen Deckel im Oblomow.“

In Ordnung. Die Liste ist es wert. Sie ist die Inkunabel einer Epoche, die wir alle nicht verstanden haben werden. Es ist der Cateringrider von Revolverheld, Stand 02.2010. Erst gestern hatten die Jungs im Rahmen der FIFA U-20-Frauen-WM ein Konzert auf dem Konrad-Adenauer-Platz gegeben. Hot. Ich liebe diese Liste. Sie ist zwei Seiten lang und besteht ausschließlich aus pointierten Schnullibulli-Wünschen. Ein Parceforceritt: „ab morgens bitte Salat – sehr gerne Antipasti – Rohkost – hochwertiger Käse (Comte, Allgäuer Bergkäse) – 2 Kisten 0,5 Liter EVIAN (Alternativ Vittel, Volvie, etc, wichtig: NULL Kohlensäure) – Abendessen: Grundsätzlich bitte so viel wie möglich Vollwertkost & aus biologischem Anbau! Danke! – 25 Vollkornsandwiches mit Käse und/oder Schinken inkl. Salatblatt (die Hälfte der Sandwiches bitte vegetarisch)“. Wunderbar. Mit der Ernährung fängt es an. Askese für das Ego. Was ist eigentlich aus dem guten alten Rock’n Roll geworden? Wie konnte da bloß die Diskurshoheit verloren gehen. Ich weiß noch, wie Andreas „Bär“ Läsker zur letzten DSDS-Staffel erklärte, dass das wilde Leben im Showbizz nur ein Gerücht sei. Schließlich, so der ehemalige Fanta4-Manager, erfordere es viel Leistungsbereitschaft, ein Popstar zu werden. Er wirkte so unglaublich sympathisch dabei. Das Mantra von Eigenverantwortung, Fleiß und Anpassungsfähigkeit – wer schaltet zuerst die Kiste aus? Wie kann man den Kids nur so einen Scheiß erzählen? Wo bleibt denn da die Verantwortung? Lasst sie doch saufen, kiffen und rumvögeln, verdammt noch mal! Popkultur ist Umbauplan. Muss man denn die letzten Nischen der Freizügigkeit den Parametern der Verwertbarkeit unterziehen? Es verschenkt sich doch von selbst! Es ist flauschig und will gedrückt werden. Auch ich sage mir jeden Tag: Carsten, du solltest mehr Drogen nehmen und dadurch dein gesamtes Bewusstsein verändern. Vielleicht könntest du so dein Herz öffnen und jemanden herein lassen. Dieses ganze Lokalmatador-Tagebuch bekäme den Sound eines brillanten Turbonegro-Songs. Allein, ich bin nicht so. Zog ich vor zehn Jahren noch mit meiner Old-School-Band kreuz und quer durch das Land, so bin ich heute ein alter, müder Mann. Natürlich nicht ganz so alt und müde, wie viele andere Männer in meinem Alter, aber auch kein Jungspund mehr. Was natürlich wunderbar ist. Vieles erübrigt sich in diesem Alter einfach. Das macht den Kopf frei für Wesentlicheres. Ich könnte jetzt beispielsweise eine Karriere starten. Abschlüsse sind vorhanden, die Empfehlungsschreiben anerkannter Professoren liegen vor, aber ach: wozu all das? Alles was ich im Augenblick wirklich will, das ist ein Slush Puppie mit Waldmeistergeschmack. ICE BLAST. Vielleicht schaffe ich mir einen Hund an. Wer weiß das schon? Frauen tragen T-Shirts, auf denen steht „I (Herz) N.Y.“ Dazu Soleil de Sicile, Resette Mediteranee, Perlier und der für Bochum so typische Baustellenlärm. Es ist ein wunderschöner Tag. Ein Hund wäre wirklich super. Ich liebe dieses Leben, und ich liebe den Beat dieser Stadt. Das einzige, was ich bedauere, ist, dass aus mir kein homosexueller Mann geworden ist. Die Homosexualität würde vieles in meinem Leben vereinfachen und außerdem viel besser zu meinem Lifestyle passen. Alles wäre ein großer starker Fluss. Doch so bleibt es kompliziert. Was schade ist. Aber letztendlich immer wieder handhabbar.

Zuhause bei Godard @ Kracauer

Warum sind die Gedanken da? Weil sie uns mitunter einen Spaß bereiten und uns einen magischen Schutz gewähren vor jeglicher Unbill des Lebens; die Hinführung zur ewigen Seligkeit und Amen. – Wenn ich mich jetzt beeile, dann schaffe ich es noch in mein Godard-Seminar. Irre. Ich bin seit Tagen so überdreht, dass mir schwindelt. Ein bisschen so wie Michael Douglas in WonderBoys. Nur ist meine Performanz kantiger, mehr ruhriger. Gleichsam muss ich irgendetwas an mir haben, dass es die Leute so stark zu mir hinzieht. Es ist schon sonderbar, wie sich alles bemüht ist, Wohlklang und Gefälligkeit in meiner Gegenwart auszuströmen. Ich habe das sehr gerne. Und so grüße ich nach links, lächele nach rechts, umarme ein Gauloises-PR-Mädchen und federe mit einem Hopsasa in das baufällige GB-Gebäude. Zum Schaden meiner Kniescheiben. Meine Güte, in zwei Tagen ist der Gig und ich bin gefangen in einem geriatrischen Körper. Wie macht das eigentlich Boris Gott? Ach ja, der ist ja jünger. Komisch, als ich ihn damals in der Dortmunder Nordstadt kennenlernte, wirkte er älter. Das muss ungefähr vor sieben Jahren gewesen sein, ich hatte mich gerade von Sylvia getrennt. Die schöne Zeit mit den Mountain Boys. Dieser Videoklipp, in dem ich einen schwulen Cowboy spiele, schade, dass er niemals ausgestrahlt wurde. Selbst Donata war ja damals noch in Dortmund, bevor sie die Bühne wechselte, um am Köpenicker Stadttheater zu spielen. Boris, weißt du noch? Neujahr, als sich Donata von dir in einem ALDI-Einkaufswagen durch die Nordstadt kutschieren ließ. Martin war dabei. Wer noch? Ich kam, glaube ich, erst gegen Mittag. Oder die Geburtstagparty bei Donata, die ich zu dieser Zeit schon Dolores nannte. Die Polizei hatte uns dreimal verwarnt, danach bekamen wir alle Hausverbot. Los, runter auf die Straße. Und was taten wir? Wir gingen einfach zwei Häuser weiter zu Daniel, wo ich bis in die Mittagsstunden aus Ilma Rakusas Love after love vertrug, bis ich mich schlafend gesungen hatte. Warst du da überhaupt dabei? Ich erinnere mich nicht mehr. Alles liegt übereinander und feilscht um Realpräsenz. Das Ganze hat einen gewissen Rhythmus und ergibt durchaus einen Sinn. Nur komme ich nicht mehr drauf, es fehlt die Tonspur. Die Stimme als Bild des Bewusstseins. Als fehlt der Kommentar von Godard, denkt ein Überleitungs-Junkie und drückt die Türklinke zum Seminarraum. Klopfen geht gar nicht, wenn man zu spät kommt. Auch sollte man sich nicht groß entschuldigen. Das stört nur den Flow. Ganz zu arrogant sollte man sich allerdings auch nicht gebärden, sondern durchaus ein bisschen Schuldgefühl durchblicken lassen und sich still auf seinen Platz setzen. Weitere Eskapaden, wie beispielsweise einen Apfel zu essen oder unter vorgetäuschter Notdurft den Raum zu verlassen, um eine Selbstgedrehte zu rauchen, sollten erst nach mehreren erfolgreichen Wortbeiträgen gewagt werden, wenn das Vertrauen wieder hergestellt ist. Logo, reinpoltern, die Anwesenheitsliste unterschreiben und beim Rausgehen zum Abschied die Tür knallen, ist auch beliebt. Aber nicht mein Niveau. Es ist halt alles eine Formfrage.

Die Kunst der Montage

Nehmen Sie Sergei Michailowitsch Eistenstein, beispielsweise Bronenosec Potemkin: „Kontrast auf allen Ebenen, vom Konflikt der graphischen Linien, Flächen und Bewegungen in der Abfolge der Einstellungen bis zu topologischen und ideologischen Gegenüberstellung“ (Metzler Filmlexikon). Dazu extreme Nahaufnahmen und eine Kamera, die die Gegensätzlichkeit von oben und unten überwinden will, und gerade deshalb diese immer wieder thematisiert. Allein diese Herangehensweise wäre für die Darstellung der Bochumer Local Hero Woche großartig. Aber es macht noch zu viel klick und klack. Alles ist hintereinander montiert. Die Heiligkeit der Bilder. Nehmen Sie dagegen Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinema und sagen Sie mit Deleuze einmal „Zeitkristall“. Es geht hier um Transsubstantion. Ist doch klar, dass Godard von André Bazin beeinflusst war. Und der konnte seinen Katholizismus eben nie ganz überwinden. Bilder: Spur nicht Zeichen. Aber eben auch immer Realpräsens, Turiner Grabtuch und so weiter. Godard flappt nun alles synkopisch übereinander. Na und? – Im Kino stellt sich das Ereignis in seiner Zeitigkeit eben selbst dar. Da darf man am Schneidetisch auch mal ‘ne Nase nehmen und die großen Register ziehen. So wird das Unsagbare sichtbar. Warum Kausalkomplexe pushen? Weltgeist kaputt. Nein, wir wollen keine Opfer übergehen. Hegel war ein Idiot. Schauen Sie sich das ruhig mal an. Hier können Sie was lernen.

Ansonsten lasse ich heute alles ausfallen. Keinen Bock das Set zu proben. Die Songs sind noch nicht fertig und werden es auch nicht. Es ist mir egal. Egal, ob ich mich verspiele, den Text vergesse und mich aufführe wie ein weinerliches Kind. Mir ist nie irgendetwas peinlich. Ich kann überhaupt nicht so denken. Ich will einfach nur dabei sein, wenn es passiert. Ich und Boris Gott, Freitag ab 19:30 im Zacher. Fucking Hell. Ach Boris, du weißt, dass ich nicht Gitarre spielen kann, dass ich nicht singen kann, und dass es mit mir immer ein Abendteuer ist, weil meine Launen sehr stark sein können. Weshalb mache ich das alles überhaupt? Wegen dir, Boris. Ich möchte, dass du in der Brüderstraße ankommst und dich wohl fühlst. Weil wir Freunde sind. Seit Tagen dudel ich deine LPs rauf und runter. Alles deine Songs kenne ich auswendig. Natürlich frage ich mich, wie aus dir so ein großer Liedermacher werden konnte, während ich ein Vormittagsphantast geblieben bin. Aber ich frage mich das ohne Neid. Weil ich dich liebe. Weil ich deine Freundin liebe. Und weil ich die Dortmunder Nordstadt liebe. Boris, sieh doch nur, wie die Sonne untergeht. Die ganze Stadt verwandelt sich in einen Café cortado leche y leche. Ich will doch einfach nur in deiner Nähe sein, wenn du singst: „Engel wie wir sind keine Engel. Große Fresse und schon zu viel Scheiß gebaut. Wir weinen heimlich nur im Kino. Wir haben dickes Fell, darunter dünne Haut.“

Wir werden das alles ganz neu erfinden müssen. Es geht auch nicht mehr mit unseren Wohnungen. Wie kann man nur so leben? Seit Amsterdam habe ich nicht mehr gespült, dazu die Haufen aus Wäsche, CDs und Büchern, die sich in der ganzen Wohnung verteilen. Ein Plakat von Ian Curtis über dem Bett in zweifacher Ausführung, Seriation und so. Ich schaue in den Spiegel und mache Bäh. Dann rufe ich sie nochmal an. Vielleicht kann sie sich ja für einen Augenblick davonstehlen. Unsere Stimmen – ein Flügelschlag: War ein böser Tag heute, ja? Bin ich ein böser Mann, ja? – Komm mach mich müde, Kleines. Komm erzähl mir aus deinem Leben.

A local Hero´s Diary II: Alles in vollem Gange

Unser Gastautor Carsten Marc Pfeffer berichtet wie seine Local Hero Woche in Bochum gelaufen ist.

Dienstag, 13. Juli Nun ist es amtlich: das wird meine große Woche. Da ist nicht nur mein Bochum-Total-Gig mit Boris Gott am Freitagabend im Zacher. Nein, am Sonntagmorgen werde ich zudem im Freien Kunst Territorium an der Diekampstraße einige Gedichte aus meinem Amsterdam-Zyklus vortragen. Außerdem hat die Goldkante angerufen. Die beliebte Wohnzimmerbar befindet sich gegenwärtig in der Renovierung, gleichwohl haben die Betreiber einen Tisch für Sonntag auf der A40 zum Still-Leben Ruhrschnellweg gemietet und lassen nun höflich anfragen, ob ich nicht Zeit und Lust hätte, auf der Autobahn ein paar Songs zu spielen. Ehrensache. Vielleicht zusammen mit dem Liedermacher Unter anderem Max? Von mir aus gerne. Ich rufe Max an und wir verabreden uns für Sonntag um 13.30 Uhr am Tisch der Goldkante. Das läuft doch gut an.

Naturgemäß habe ich verschlafen und nicht die größten Ambitionen, einen Teller sowie ein Messer zu spülen, um mir ein Frühstück zu bereiten. So gehe zu El Toro und gönne mir ein Entrecôte. Was sind schon 20 €, wenn man mit 800 € im Dispo steckt? (Man kann es wenden, wie man will, er bleiben 20 €.) Nach der Hochrippe des Rindes bricht sich der Schweiß seinen Bann. Die ganze Stadt ist in Bewegung. Von überall strömen junge weibliche Fußballfans mit Trikot und Schminkset Deutschland herbei. Selbst die Vuvuzelas (auf Setswana auch gerne Lepatata genannt) ertönen wieder. Was ist hier los? Richtig, die FIFA U-20-Frauen-WM hat begonnen. 22.000 Menschen strömen in das Bochumer Stadium an der Castroper Straße und erleben ein fulminantes 4:2 im Auftaktspiel Deutschland-Costa Rica. Zudem spielen Revolverheld schon heute Abend ihr inoffizielles Eröffnungskonzert für Bochum Total am Konrad Adenauer Platz, wo bereits seit den frühen Mittagstunden die ersten Fans am Bühnenrand ausharren. Wohlfeil wird das Ganze von der Stadt unter dem Logo der Bochumer Local Heroes Woche präsentiert. Logo drauf und fertig. Das ist das Problem. Die Stadt ist pleite und hängt sich in dieser Woche an alles, was auch nur nach Kultur riechen könnte. Die Ordnung des Diskurses parasitär betrieben. Aber irgendwie auch sympathisch. Die Stadt ist pleite, ich bin pleite, beide reden wir über Kultur – so viel Nähe war selten. Es funktioniert. „Wegen des Gesamtpakets“, wie mir Tommyboy aus dem Medienhaus smst.
Schlimm dagegen, wie ich rumlaufe. Ich kann mir das gar nicht erklären. Im letzten Jahr bin ich fast ausschließlich in Anzügen aufgetreten, gerne auch mit Krawatte. Ja, ich hatte sogar einen kleinen Fetisch für Manschettenknöpfe entwickelt. Heute dagegen schleppe ich mich durch die City wie ein Waldschrat. Ich will gar nicht wieder von meinem Schamhaarbart anfangen. Es ist diese bescheuerte Cargo-Hose, die ich trage. Diese albernden Adidas-Sportschuhe mit Good-Year-Sohle. Diese völlig sinnentleerte Tätowierung auf meinem Unterarm sowie meine verfranzten und vom Sonnenlicht gebleichten Haare. Ich sehe aus wie ein Berufsjugendlicher. Ich könnte weinen. Ich trage ein T-Shirt von Nike, nicht von Fortuna. Bereits vor vier Tagen hatte ich es getragen. Ich bemerke es erst in der U-Bahn am Geruch. Da hilft auch kein Axe-Alaska mehr. Warum dauert Bahnfahren eigentlich immer so lange? Und warum kann ich auf meinem BlackBerry immer noch keine Mails empfangen? „Bei Kleist kippt es und bei Kafka fällt es um“, pflegte meine Deutschlehrerin zu sagen. Entnervt erreiche ich das Büro der BSZ.

Konsensorientierte Redaktionskultur

„Ich brauche unbedingt 6.000 Zeichen und ein Foto zur Bochumer Local Heroes Woche. Am besten die ganze Seite 4“, so platze ich mit einen kleinen Verspätung in die Redaktionskonferenz. “Gibt es nicht. Nächste Woche ist das Thema durch und außerdem ist das eh alles Murks“, entgegnet mir der Genosse Hauptsetzer. Um in diesem Klima einer konsensorientierten Redaktionskultur mein Thema doch noch durchboxen zu können, bedürfte es eines längeren Vortrages über die Hintergründe meines Begehrens. Ich habe die Energie und bekomme schließlich 4.500 Zeichen auf Seite 3. Okey dokey. Jetzt aber schnell nach Hause und das Set geprobt. Zuvor noch kurz ins Zacher, den Deckel von letzter Nacht zahlen.

Hier finden sich am frühen Nachmittag so langsam alle wieder ein. Der DJ Renate von Rosen steht am Tresen und speist Audio-CDs in sein Laptop ein. „Schon mal Playlist machen, für die Kopfhörer-Party“, erklärt er. Kibi plant den Einkauf für das Wochenende und Tommyboy trinkt voller Wehmut einen Almdudler. Dr. Love schimpft über das Wetter. „Affenhitze!“ Schweigendes Einverständnis. „Von wem war noch mal Pogo in Togo?“, will Renate wissen. „United Balls, du Spacko“, hör ich mich sagen. Er tippt es in die Playlist. So langsam kommt Leben in die Bude. Renate erzählt, dass er und Dr. Love gestern im t.a.i.b. gewesen wären. In dieser „komischen Raupe vor dem Riff-Gelände“. Mit dieser Bambuskonstruktion sei dem Architekten Jonathan Haehn ein großes Symbol gelungen, so Tommyboy ohne von seinem Amldudler aufzublicken. „Langweilig!“, brüllt Dr. Love und kratzt sich am Bauch. Ich bestelle einen ersten Pastis. Allgemeines Kopfschütteln der Anwesenden. „Wir war es denn im t.a.i.b.?“ „Na ja“, fährt Renate fort, „viel Elektro-Gebrutze und leichtbekleidete Mädchen.“ „Dafür waren die Getränke auf Spendenbasis, hehe“, ergänzt Dr. Love. Der Ventilator zerhackt das Licht der Dachluke. Es hat sich etwas abgekühlt und langsam wird es Zeit, dass wir alle nochmal an die Arbeit gehen. Wir alle haben unsere besten Jahre verschenkt. Aber in dieser Woche sollte ein Local Hero fleißig sein.

Die Einsamkeit der Schildkröte

Die City scheint nun wirklich auseinanderbersten zu wollen. Sehr viele Touristen für einen Dienstag und überall passiert etwas. Als ich am Kurt-Schumacher-Platz vorbeikomme, empfangen mich vertraute Gospelgesänge, krawattentragende Schlauberger präsentieren direkt daneben irgendwelche Automobilmodelle. Charakterpanzer. Fürchterlich. Aber anscheinend unvermeidbar. Egal, ich muss nach Hause, das Set proben, an die Pforte klopfen. Doch heute generiert es sich mühsam. Vielleicht hätte ich den Pastis nicht trinken sollen. Kann mich kaum konzentrieren, fühle mich schrecklich einsam und verbraucht. Wie konnte mein Ausdruck nur so weinerlich werden? Wann war ich das letzte Mal verliebt? Warum kann ich nicht besser für mich sorgen? Blablabla. – Ich nehme jetzt diesen ganzen Seelenmüll und packe ihn in meinen Song. Egal ob C-Dur oder A-moll. Ein letzter Zweifel und dann singe ich: „Spürst du nicht auch diese Wut in dir? Sag, könnten wir das nicht transportieren. Ich würd dich so gern einmal kennenlernen. Ach komm, trockne meine Tränen in der Dunkelheit, schau dort stürzt der Turm jetzt ein. Und der Wecker klingelt um sieben.“

Die Greifhand schmerzt. Ich weiß noch, wie erschrocken Dr. Schröder nach der heutigen Redaktionskonferenz auf den Zustand meiner Fingerkuppen reagierte. „Das sieht aus wie abgefräst“, sagte er. „Einfach nur krank!“ Ich aber vergewisserte ihm, dass das ganz normal sei, wenn man viel probe. Schließlich spiele ich ja auf Stahlsaiten. Die Kunst verlange halt nach einem Einsatz, und wenn mir am Abend die Hand schmerzt und ich ganz in meinem sehnsüchtigen Verlangen nach Liebe aufgegangen bin, dann war es ein guter Tag. Für die Kunst. Vielleicht.

Teil I: Drei Akkorde weiter…Klick

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