Völker hört die Signale, auf zum anderen Geschlecht!

Feuer ist Erneuerung. Die Welt muss brennen. Wirtschaftsimperien zerbrechen, Milliarden verpuffen, Ängste zerfressen das Volk. Wo schlägt das Herz der Rebellion? Tanzt es nicht auf dem Trümmerfeld des Kapitals? Erhebt Euch, ihr Massen! Auf zur Revolution! Lodernde Villen, barbusige Frauen, Sex, Gewalt und Freudenfeste. Doch halt: Manch Revoluzzer versucht den Umsturz auch gesitteter – beim Klammerblues im Schmusetakt. Glauben Sie uns. Wir haben es erlebt – im Wochenend-Camp der Sozialistischen Deutschen Abeiterjugend (SDAJ). Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Kleine Fachwerkhäuschen, grüne Fensterläden, Begonien in den Blumenkästen. Wenn Sie irgendwo Frieden finden – dann in Leichlingen, der "Blütenstadt". Rund 27 000 Einwohner fasst das idyllische Dorf im Rheinland. Seit Jahren SPD-Hochburg. Auf den Straßen grüßt man sich.

Schlange und Joswig irren durch eine malerische Fachwerk-Siedlung auf der Suche nach der Revolution. Die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) campiert am Stadtrand, auf der Wiese des Naturfreundehauses Leichlingen. Eine kleine, romantische Pension – die perfekte Tarnung. Umsturz im Spießertum, Terrorzellen unterm Pavillion, brennende Gartenstühle und lodernde Sonnenschirme. Niemand vermutet das Inferno im Paradies.

Einmarsch der Freizeit-Revoluzzer

"Wacht auf, Verdammte dieser Erde,

die stets man noch zum Hungern zwingt."

(Aus: Die Internationale)

Die Revolution schläft noch. Es ist Samstagmorgen 9 Uhr. Als die zwei Reporter von einem Grüppchen Rocker, die wie die SDAJ bei den Naturfreunden zelten, an einigen Harleys vorbei zum Sozialisten-Camp geschickt werden, liegt der Umsturz noch in den Federn. Totenstille auf dem Campingplatz. Kein Sozialist im Anmeldezelt, kein Funktionär beim Kaffeekochen, kein Rock’n’Roll, kein FKK und keine freie Liebe.

Joswig trottet geknickt über den Platz, Schlange schleppt sich, das Igluzelt und seinen Schlafsack hinterher. Es ist heiß, die zwei haben bereits Schlagseite und Tränensäcke. Vier Stunden Schlaf und drei Bier im Zug fordern ihren Tribut.

Zelt aufbauen – Schlange im Feinripp, Joswig am Boden. Erste revolutionäre Zellen formieren sich am Küchenzelt und begaffen die Neuankömmlinge.

Joswig: „Ich brauch n Kaffee.“

Schlange: „Ich nehm n Müsli.“

Die beiden Wochenend-Revoluzzer schmeißen ihre Klamotten ins Zelt und steuern zur Essensausgabe. Ein rundlicher Genosse mit blondem Pferdeschwanz und flauschigem Kinnbart schaut die zwei Unbekannten kritisch an.

Joswig: „Kaffee.“

Schlange: „Och, ich würd mich schon mit nem Müsli zufrieden geben.“

Der Kamerad: „Wo sind eure Festival-Bändchen?“

Joswig fasst sich an den Kopf: „Oh Mann, ich will doch nur n Kaffee. Stell dich nicht so an.“

Der Kamerad verschränkt die Arme und hebt sein Kinn empor. „Ohne Bändchen gibt’s keinen Kaffee.“

Blöder Diktator. Bevor Joswig was sagen kann, beschwichtigt Schlange: „Alter, im Ordnerzelt sitzt noch keiner. Komm, wir haben grad aufgebaut. Meinst du wir wollen dir deinen Kaffee klauen und wieder verschwinden?“

Der Bursche verzieht keine Miene. „Kennt ihr denn jemanden, der für euch bürgen kann?“

„Waaas?“ Joswig taumelt. „Bürgen?“

Schlange: „Wir holen uns gleich n Bändchen. Das kann doch nicht dein Ernst sein. An dieser albernen Bürokratie ist schon die DDR gescheitert.“

Genervt und mit leerem Magen drehen sich die zwei um und schlurfen zurück zum Zelt.

„Wartet kurz. Ich frag ma eben nach.“ Der Frühstücksbürokrat schiebt sich an einer Schüssel Obst und drei Paletten Joghurt vorbei, läuft zu einem Essenstisch und berät sich mit seinem Vorgesetzten. Dann winkt er die zwei heran.

Der stattliche Vorgesetzte, Marke behaarte Ska-Type, dreht sich um und mustert die neuen Genossen.

Ihr Festival-Outfit: ein Punk-T-Shirt mit amerikafeindlichem Motiv und eine 30 Jahre alte Jeans (Joswig), eine verschlissene Schlaghose mit Band-Aufnähern und eine geflickte Gürteltasche (Schlange), dazu ein entschlossener Gesichtsausdruck (beide).

Der Vorgesetzte: „Jungs, ihr seht so geil abgewranzt aus – wie die Sixpack Lovers.“

Joswig guckt sich Schlanges Plauze im Feinripp an. „Bitte? Die Sixpack Brothers?“

„Nein, Lovers, ne ziemlich schlechte Punkband“

„Ach so. Nö, kennen wir nicht. Gibt’s Kaffee?“

Lässig lehnt sich der Ska-Typ zurück und mustert die Neuankömmlinge. „Schon okay. Eure Gesichter kann ich mir merken. Wenn ihr heute Abend kein Bändchen habt, fackel ich euer Zelt ab.“ Wie reaktionär.

Das gesamte Camp fasst vielleicht 40 Zelte, davon ein Küchen-, ein Anmelde-, ein Infozelt und die große Veranstaltungsjurte. Die zwei Reporter lassen den Mann stehen und besorgen sich Frühstück. Der Kommunismus hat gesiegt – Kaffee für alle.

„Wir sind nicht aktiv.“

Kaffee treibt. Um halb sechs heute Morgen hieß es für die beiden Freizeit-Revoluzzer aufstehen, keine Zeit für Toilettengang. Also nach dem Essen Sanitäranlagen checken. Auf einem Familiencamp wie diesem muss es vernünftige Klos geben.

Hinter dem Essenszelt an einer Feuerstelle und einem idyllischem Kinderspielplatz vorbei erreichen die zwei ein kleines Häuschen. Groß stehen dort die Worte Duschen und Klos auf einem Pappschild. Joswig geht vor. Die zwei haben nur ein Paar Flip-Flops dabei, Schlange bleibt barfüßig am Eingang zurück.

Im ersten Raum des weiß-gekachelten Ganges fällt Joswigs Blick auf drei nackte Bolschewisten, die sich vor den Spülbecken trocken rubbeln. Im nächsten findet er die Klos. Zwei Kabinen ohne eine einzige Brille. Er stöhnt: „Oh, Mann. Zustände wie aufm Festival.“ Ein Paar Flip-Flops und keine einzige Kohle-Tablette gegen den Stuhlgang. Miserable Vorbereitung von den zwei Haudegen.

Schlappentausch am Eingang, auch Schlange wird nur Bier wegbringen. Der Kommunismus ist verinnerlicht, Scheiße wird unterdrückt.

Während Joswig wartet, kommt ein kleiner dicker Südländer zum Toilettenhäuschen und versucht in dem Wasserbottich an der Hauswand sein Frühstücksgeschirr zu spülen. Joswig: „Cooles T-Shirt, Genosse.“ Der Mann grinst. „Antifascista“ steht quer über seiner Brust. Er heißt Niko.

Niko ist Grieche, Fotograf und Kommunist aus tiefster Überzeugung. Während er seine Teller abwischt, schwadroniert er über die faulen und unfähigen Genossen aus Deutschland und über die lange und glorreiche Tradition seiner Heimat.

Schlange kommt zurück und unterstützt seinen Zeltgenossen. Die zwei nicken, bestätigen und befürworten jedes Statement des reaktionären Griechen. Selten scheint er Funktionäre auf Augenhöhe zu treffen und redet sich immer mehr in Rage. Soll das für ihn echte Völkerverständigung sein?

"Brüder in eins nun die Hände

Brüder das Sterben verlacht

Ewig der Sklaverei Ende

Heilig die letzte Schlacht."

(Aus: Brüder zur Sonne zur Freiheit)

Genug Polit-Propaganda, zurück zum Zelt. Es ist Viertel nach zehn. Schlange verzieht sich ins Iglu und zückt zwei Plastikbecher aus seiner Tasche. Ein roter mit einem Froschkönig, ein himmelblauer mit einem Entchen – clever gekauft bei KiK. Schlange füllt die erste Mischung Wodka-Grapefruit ein. Frosch und Ente werden an diesem Tag Joswigs und Schlanges treue Begleiter sein.

Über Megaphon kündigt ein schmächtiger Bursche mit mächtiger Afro-Frisur den ersten Programmpunkt des Tages an: Kennenlernrunde der engagierten Schüler im Veranstaltungszelt und Erfahrungsaustausch der Gewerkschaftler bei den Frühstücksbänken unterm Verdi-Schirm. Schüler wären sicherlich interessanter, doch Gewerkschaftler mehr alterskonform. Schlange macht noch einmal die Becher voll und schlurft mit dem roten Frosch, Joswig und dem blauen Entchen zu den Gewerkschaftskämpfern.

Illustere Runde – Aktive aus der gesamten Region. Wache Augen, geballte Fäuste, Wohlstandsspeck und Themenshirts. Die verschiedenen Gesellschaftsgruppen haben zu Tisch gebeten: zwei Jugendbetreuer, eine Journalistin, ein Arbeitsloser, ein Maurer und als Gesprächsleiter Thomas, ein zierlicher Schlosser und Campwart an diesem Wochenende.

Fürs Kennenlernen stellt ein Genosse einen Kasten Billig-Bier auf den Tisch. Felskrone. Auf den zwanzig Pilsflaschen sind zehn Vita Malz gestapelt. „Aber nur für die Vorstellungsrunde“, sagt er. Die Malzbiere gehen weg wie warme Semmeln. Schlange und Joswig greifen als Einzige zum Pils. Ganz die Sixpack Lovers.

Joswig gibt den Langzeitstudenten und Verdi-Mann: „Ich hab versucht bei Verdi aktiv zu werden. Mich wollte aber niemand wählen.“

Schlosser-Thommy hakt nach: „Ach, und was waren die Probleme bei euch?“

„Joah.“ Joswig holt tief Luft. Schlange beobachtet ihn amüsiert. Bereits 90 Minuten nach Ankunft in die Ecke gedrängt. Joswig weiter: „Ähm, Ihr kennt das doch. Es sind immer dieselben Probleme. Die da oben, wir da unten et cetera pp….“ Dreieinhalb Minuten biergeschwängertes Schwadronieren ohne Ecken und Kanten. Geschafft. Die Genossen sind zufrieden, wahrscheinlich auch nichts anderes gewohnt.

Dann ist die Journalistin an der Reihe. Voller Leidenschaft spricht sie vom Leid der Freiberufler, von den Kürzungen und Kündigungen, von schlechten Bedingungen und frustrierten Verlagen. Selbstverliebt wischt sie sich eine blonde Strähne aus der Stirn, räuspert sich demonstrativ und beendet ihren Vortrag mit: „Und darum hoffe ich auf Verdi.“ Sie schenkt der Runde ein Lächeln.

Anerkennend nickt ihr Schlange zu. Er ist der nächste: „Ach, zu 80 Prozent kann ich mich meiner Kollegin anschließen. Einziger Unterschied: Ich bin nicht aktiv und nur bei Verdi gelandet, weil man dort den günstigsten Presseausweis bekommt.“ Die Genossen lächeln müde, die Journalistin guckt entrüstet.

Vorstellung beendet, die Fronten sind geklärt, die zwei bekennenden Freizeit-Revolutionäre schnappen sich die nächsten Biere.

Der alte Mann und die DDR

Das Mittagessen ruft. Es gibt Nudeln und Tomatensoße mit Zwiebeln. Dazu Salat aus Wäschekörben ohne Dressing. So schmeckt also der Aufbruch – fad.

"Und weil der Mensch ein Mensch ist

Drum braucht er was zum essen, bitte sehr!

Es macht ihn kein Geschwätz nicht satt,

Das schafft kein Essen her."

(Aus: Das Einheitsfrontlied)

Die zwei Reporter schlingen sich eine Grundlage runter. Gleich geht das Trinken weiter. In 30 Minuten steht Geschichtsstunde mit Rolf Priemer an, Ex-Chefredakteur der linken Zeitschrift Elan, Mitbegründer der SDAJ und ehemaliger Vizevorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Thema des Vortrages: Kurras – Die ganze Wahrheit.

Zurück am Zelt: Wieder füllen Schlange und Joswig ihren Frosch- und Enten-Becher. Für die Kurras-Debatte müssen sie gewappnet sein. Mit dem tödlichen Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg hatte der West-Berliner Polizist Heinz Kurras bei den Studentenunruhen am 2. Juni 1967 das Fass zum Überlaufen gebracht, eine ganze Nation gespalten. Die Studenten radikalisierten sich. Die zweite Welle der RAF rechtfertigte als "Bewegung 2. Juni" seine Gewalt mit dem Tod Ohnesorgs. Die Geschichtsschreibung der BRD fußt auf diesen vermeintlich faschistoiden Polizisten, der einen wehrlosen Studenten erschoss. Nun kam ans Licht: Karl-Heinz Kurras war SED-Mitglied und Stasispitzel. Die Grundfesten der gesamten 68er-Bewegung geraten ins Wanken. Für echte Sozialisten müsste ein Weltbild zusammenbrechen.

Die Holzbänke in der großen Veranstaltungsjurte sind im Rondell aufgestellt. Schlange und Joswig kommen zu spät, der Vortrag läuft bereits. Sie stellen Entchen und Frosch beiseite, schleppen eine Holzbank ins Zelt und setzen sich direkt hinter den DKP-Veteranen Priemer.

Die meisten Gesichter in der Runde sind noch mit Pickeln übersät. Fünf ergraute Altkommunisten haben sich zwischen den Zwölf- bis Zwanzigjährigen verteilt – bereit ihnen die Welt zu erklären. Joswig schnippt zwei Kippen aus seiner Schachtel und reicht eine an Schlange weiter. Nervennahrung.

Die erste halbe Stunde liest Priemer mit monotoner Stimme Zeitungsartikel aus dem Jahre 67 vor. Joswig gähnt. Von einem derart „hohen“ Tier wie Priemer hätten sich die zwei mehr Feuer erwartet. Um die Flamme nicht ganz erlöschen zu lassen, steht Joswig auf, um an der kleinen Bar in der hinteren Ecke der Jurte Bier zu holen. Zwei Tapeziertische, ein Sandwichmaker, ein Kühlschrank – beeindruckend.

Ein Mädchen mit Dreads und drei Piercings im Gesicht lächelt ihn verlegen an: „Bier gibt’s erst ab drei.“

„Was!?“ Joswig schnappt nach Luft.

„Sorry, da kann ich echt nichts machen.“

Gefrustet nimmt er wieder Platz. Während Priemer mit leiernder Stimme Zitat für Zitat runterbetet, verschwinden Schlange, Frosch und Entchen zu ihrem Zelt. Joswig hält die Stellung.

Als die drei zurückkehren, ist die Diskussionsrunde bereits eröffnet. Hilfesuchend blickt Joswig seinen Mitstreiter an. „Boar, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so n Scheiß gehört habe.“

Eine Verbindung zwischen Kurras Tätgkeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) der DDR und dem tödlichen Schuss wird angezweifelt. Priemer erklärt, dass Kurras unter gigantischem Druck stand, der Schuss eine reine Affekthandlung war. Schlange versteht das Leid seines Kameraden und reicht ihm einen Becher mit frischem Grapefruitsaft. „Hier, das hilft.“

Immer mehr Kinder melden sich zu Wort. Ein Fünfzehnjähriger mit Sommersprossen, Metal-Shirt, und dreiundzwanzig Festivalbändchen am Arm stimmt Priemer zu. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, das die SED je gegen uns gearbeitet hat.“ Der Satz verhallt unter anerkennendem Nicken der Alt-Kommunisten. Schlange und Joswig beißen in ihre Becher. Das kann doch nicht wahr sein.

Echte Revolutionäre denken im großen Maßstab. Sie führen Kriege, um die Welt zu verändern. Echte Revolutionäre opfern sogar ihr eigenes Leben für die Idee. Fragt die Mauer-Toten. DDR-Kuschelromantik gab es – wenn überhaupt – bei den Nackedeis an den FKK-Stränden der Ostsee.

Joswig räuspert sich. „Was ist nun…“ Er gestikuliert. „die Konsequenz aus der Tatsache, dass Kurras Stasi war und kein verhasster Faschist?“

Eisige Stille.

Er setzt hastig nach: „Also für uns als SDAJ-ler.“

Priemers Ehefrau, eine marxgraue, Eminenz mit strengen Gesichtszügen, greift ein. Sie hatte während der gesamten Diskussion die beiden Wochendend-Kommunisten misstrauisch beobachtet. „Ob Kurras wirklich als IM tätig war, sei mal dahingestellt. Außerdem musst du das einfach im Kontext der damaligen Zeit sehen.“ Prima. Und die Objektivität der Birthler-Behörde wird von ihr ebenfalls angezweifelt.

Ein weiterer Alt-Kommunist fügt väterlich hinzu: „Ihr müsst außerdem verstehen, die Aufgabe der heutigen Massenmedien ist, die Demokratie des Westens zu verherrlichen. Alternativen werden nicht zugelassen.“

Schlange steckt eine neue Kippe an und krallt sich an seinen Becher. Der einzige Auftrag der Massenmedien ist es Geld zu verdienen, um am Kacken zu bleiben, seniler Sack.

Nach 60 Minuten Märchenstunde versuchen die zwei Undercover-Journalisten Rolf Priemer abzufangen und an brisanten Punkten nachzuhaken. Der DKP-Veteran wird sich doch noch besser um Kopf und Kragen reden können. Bevor man ins Gespräch kommt, funkt die Ehefrau dazwischen. Verächtlich blickt sie Schlange und Joswig an: „Der Rolf muss jetzt zu unserem Bücherstand.“

Schlange und Joswig fühlen sich durchschaut. Antiautoritäre Keimzellen im sozialistischem Nährboden des Ausbildungslagers. Die Frau wusste von Anfang an Bescheid. Jetzt gilt es für sie wenigstens die bolschewistische Bastion und ihren gutmütigen Ehemann zu schützen.

"Und wenn ich mal groß bin,

damit ihr es wisst, dann werde ich auch so ein Volkspolizist.

Ich helfe den Menschen, ich bin mit dabei,

beschütze die Heimat als Volkspolizei!"

(Aus: Der Volkspolizist)

Sommersprossen, Trägertop und Titten

Seele baumeln lassen. Zeit für Festival. Sonne, Kippen, Alkohol. Herrlich. Nur volljährige Frauen fehlen. Joswig liegt unter dem Vorzelt des Iglus, Schlange spannt einen Knirps-Schirm auf und stellt ihn als Sonnenschutz übers Gesicht.

Links von den beiden öffnet sich ein Zelteingang. Niko, the Greeco, kommt zum Vorschein. Er grinst. „Man was hab ich denn hier für Nachbarn. Das geht ja gar nicht.“

Schlange schiebt seinen Kopf unter dem Schirm hervor. „Was solln wir denn sagen. Wir wohnen direkt neben so’m Ausländer.“ Niko lacht, schießt ein paar Fotos von den angetrunkenen Sonnenanbetern und verschwindet.

Zwischen den Zelten spielen Jugendliche mit Diabolos. Frisbees sausen durch den Himmel. Elfmeter werden geschossen. Rumtollen und Kinderlachen. Süße kleine Mädchen huschen an den Party-Revoluzzern vorbei. Joswig zieht interessiert die Brauen hoch, Schlange schmeißt ihm eine leere Zigarettenschachtel an den Kopf. „Lass das! Bei 90 Prozent hier machst du dich nur strafbar.“

Das Lockenköpfchen vom Frühstück hat sein Megaphon zur Seite gelegt und spannt mit einem Genossen bunte Party-Lichterketten über den Platz. Schrebergartenromantik beim Widerstand.

Joswig brüllt ihm zu: „Ey, geiles Shirt.“

Schlange zu Joswig: „Was stand drauf?“

Er: „Keine Ahnung.“

Der Afro freut sich trotzdem. Die beiden Reporter lehnen sich zufrieden zurück. Freude schenken kann so einfach sein. Frischgeduschte Frauen in Frottee-Handtüchern laufen über den Platz. Leider ausnahmslos fett wie Haufen. Hier verzichten die Jungs aufs Freudeschenken.

Beinahe ist Schlange weggenickt, als er eine Frauenstimme hört. Im selbstbewusstem Tonfall: „Jungs, ihr seht mir aus, als ob ihr Grillen könntet. Habt ihr Lust heute Abend noch eine Schicht zu übernehmen.“

Joswig: „Joah, naja also…“

Genervt klappt Schlange den Schirm zusammen, schmeißt ihn ins Zelt und erblickt eine wahre Kupfergöttin, die neben seinen Beinen kniet. Wie lodernde Flammen glühen ihre roten Haare im Sonnenlicht. Sommersprossen, Trägertop und Titten.

Er stemmt sich auf die Ellenbogen. „Von wie viel Uhr heute Abend redest du denn?“

„Zwischen halb zehn und halb elf fehlt uns noch die Grill-Aufsicht.“

Joswig prustet los. „Glaub mir, du wirst uns um diese Zeit nicht mehr in die Nähe von Feuer haben wollen.“ Dann nimmt er einen Schluck Grapefruit plus X und lächelt die rote Zora an.

Lydia heißt der Rotschopf. Sie hat das diesjährige SDAJ-Lager organisiert, entstammt einer Kommunisten-Familie. Ihre Mutter leitet das Camp in Kiel. Ein schweres Los. Wer wünscht sich schon als Erbe, die Welt in einen Arbeiter-und Bauernstaat zu wandeln.

„Meine Mama hat mich vorhin angerufen. In Kiel steht gerade mal das Küchenzelt. Guckt euch im Gegenzug unser Camp an. Alles fertig!“

„Gut gemacht.“ Schlange und Joswig nicken anerkennend. Die rote Zora hat bereits zehn Jahre Kommunisten-Camp auf dem zarten Buckel – immer aktiv dabei gewesen. Lydia ist 22.

Joswig grinst Schlange an: „Mit zwölf hab ich dir noch deine Legosteine geklaut.“

„Stimmt.“ Schlange klettert ins Zelt und füllt die Becher nach.

Dekollete und feurige Mähne sind leider nicht alles. Die schnuckelige Lydia hält zähe, ellenlange Monologe über ihre Zeit in Cuba. Bereits drei Mal war sie dort. Immer politische Reisen mit Abgesandten der Partei. Nach einer zähen halben Stunde steht der Rotschopf auf und verschwindet zum Info-Zelt. Joswig und Schlange versuchen zu schlafen. Propaganda macht verdammt müde.

"Der rote Stern an der Jacke, im schwarzen Bart die Zigarre.

Jesus Christus mit der Knarre – so führt dein Bild uns zur Attacke."

(Aus: Commandante Che Guevara)

Mehr Geld für alle – eine Podiumsdiskussion

„In fünf Minuten beginnt die Podiumsdiskussion Was tun in der Krise.“ Die zwei schrecken aus ihrem Dämmerschlaf. Das Lockenköpfchen hat seine Flüstertüte wiedergefunden und läuft proklamierend über den Platz. „Macht euch fertig Genossen für die Lösungen aus der Finanzmisere.“

Der erste Nachmittagskater hämmert hinter ihren Schläfen. Joswig zückt Froschkönig und Entenküken, und die beiden Sixpack Lovers schlurfen schwankend zwischen den Zelten hindurch zur Podiumsdiskussion. Es ist halb drei.

Die beiden Bänke in vorderster Front sind frei. Der Sitzkreis ist aufgelöst. Schlange und Joswig setzen sich in zweiter Reihe vor dem Podium und stecken zwei Kippen an.

Hinter dem Rednerpult warten: ein Kuschelsozi mit Brille und fuseligem Kinnbart (Vertreter der SDAJ), die Moderatorin (Schlange und Joswig waren ihre undefinierten Kurven aufgefallen, als sie vom Duschen kam), ein Bursche mit Dreadlocks (Vertreter von solid, der Jugendorganisation der Linken) und ein Mensch mit Migrationshintergrund (vermutlich ein Vertreter irgendeines Studentenbundes, Notizen hierzu unleserlich).

In der großen Veranstaltungsjurte hat sich das gesamte Camp versammelt, die Kids der Märchenstunde, die Gewerkschaftler, die alten Trotzkisten, ein paar Gasthörer und Verirrte. Alles interessierte Zuhörer beim Hauptevent.

Die globale Finanzkrise ist dabei schnell erklärt: Schuld sind natürlich die USA und der verdammte Kapitalismus. Das US-Immobiliendebakel entstand nur aus der Gier irgendwelcher Bänker. Der Ursprung der Finanzkrise ist viel grundsätzlicher. Die Wogen, die derzeit die Wirtschaft erschüttern, müssen als Symptom gesehen werden – vergleichbar mit Fieber. Ein Symptom für die eigentliche Krankheit, an dem die Gesellschaft seit Jahrzehnten leidet – dem Kapitalismus. Seit über dreißig Jahren wird Geld in gigantische Spekulations-Blasen gestopft. Solche Blasen müssen – wie der Name impliziert – irgendwann platzen. Plopp. Darum die Panik an der Börse, die Panik bei den Reichen, darum Massenentlassungen und Insolvenzen. Von den horrenden Managergehältern gar nicht zu sprechen. Auf die Rettungsversuche von Seiten der Politik kann man nicht setzen: „Wenn die irgendwas reparieren, dann nicht in unserem Sinne.“

Die jungen Burschen auf der Bühne stammeln, sind unsicher und kriegen sich gegenseitig in die Haare. Coole Kampfreden sehen anders aus. Goebbels hätte hier die Krise bekommen. Schlange zu Joswig: „Was wäre wohl gewesen, wenn Hitler gestottert hätte?“ Joswig fängt an zu glucksen.

Unbeeindruckt von den Unruhen in der zweiten Reihe erteilt die Moderatorin Schlosser-Thommy das Wort. Er hat sich wie ein amerikanischer Marineoffizier in der letzten Reihe aufgebaut und die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. „Wir müssen uns doch fragen, wer hat das Geld? Die wirklichen Verantwortlichen sitzen in der Karibik und fahren Wasserski.“ Thommy plustert seine Brust auf. „So kann das doch alles nicht weitergehen. Man muss den Staat zwingen, diesen Leuten das Geld wegzunehmen.“

Zustimmendes Raunen frisst sich durch das Stoffzelt. Entstehen so totalitäre Regime? Joswig prustet los. Das war eine Phrase zu viel. Tränen laufen ihm über die Wangen. Schlange schickt ihn raus. Hinter dem Zeltstoff hört man den Querulanten kichern.

Es geht weiter mit den revolutionären Forderungen. Arbeiterlöhne müssen gnadenlos erhöht werden, Arbeitslose kriegen saftige Pauschalen. Geld für alle, damit wieder Kaufkraft auf den Märkten existiert. Ob Staat und Unternehmen pleite sind, ist völlig nebensächlich.

Währenddessen vor dem Zelt: Joswig wischt sich das Gesicht trocken. Durchatmen. An der Zeltplane vorbei sieht er die Gesichter der Genossen, wie sie gebannt zur Bühne starren. Wie kann dieser gestammelter Agitprop nur so fesselnd sein? Er schaut aufs Handy. Ah, nach drei. Endlich Bier. An den hinteren Reihen vorbei schiebt er sich zur Bar.

„Zwei Pils, bitte.“

Dieses Mal steht ein Typ hinter der Theke und schaut Joswig dumpf an. „Bier gibt es erst ab fünf.“

„Vorhin hieß es: Bier ab drei. Außerdem hab ich bitte gesagt.“

„Nein, erst ab fünf. Dann ist das Fußballturnier, dann können die Genossen auch trinken. Ansonsten geraten die politischen Diskussionen hier aus dem Ruder.“ Leider verständlich. Joswigs Kopf sackt zwischen seine Schultern, er nickt einsichtig und trottet zurück zur zweiten Reihe.

Die Diskussion geht weiter: Auch für Opel haben die Genossen eine Lösung parat. Der Autobauer muss komplett verstaatlicht und die Produktion auf umweltfreundliche Fahrzeuge umgestellt werden. Schlange platzt der Kragen.

„Sag ma, du redest da von einer Verstaatlichung von Opel, damit die dann Öko-Kutschen bauen? A la Trabbi Reloaded? Ist das dein Ernst?“

Der Mann mit den Dreads nickt freundlich. Bevor Schlange nachsetzen kann, erteilt ihm die Moderatorin einen Dämpfer. „Nächstes Mal meldest du dich bitte erst mit Handzeichen. Hier melden sich auch noch andere.“ Schnell gibt sie das Wort an einen kleinen Jungen in den hinteren Reihen.

Hallo? Seit wann wartet die Revolution auf Handzeichen? Verdammte Seminarmarxisten. Wo bleibt die unbändige Wut? Niemand leitet eine neue Ära ein, wenn er aufzeigt und mit zitternder Stimme nach der Revolution verlangt.

Schlange schnappt sich Entchen und Frosch und stampft zum Iglu, um die Becher zu füllen. Bei seiner Rückkehr ist die Diskussion vorbei. Joswig sitzt mit einem älteren Herren und einem Rocker, rasierter Kopf, Metal-Kutte und Lederhose, in der letzten Reihe und unterhält sich.

„Endlich.“ Joswig greift nach dem Entenküken. „Du wirst nicht glauben, was hier abgelaufen ist.“ Er nickt dem älteren Herrn zu, der daraufhin eine ganze Reihe verfaulter Zähne bleckt. „Der Mann hier wollte wissen, wie die Trottel auf der Bühne die Arbeiterklasse verstehen – also definieren. Schließlich sitzen hier nur noch die wenigsten hinterm Stahlofen. Als Antwort kam: Interessante Frage, die könnt ihr ja jetzt im kleinen Kreis besprechen. Wir machen hier Schluss. Punkt.“

Der Rocker, der sich vom Nachbar-Camp verlaufen hat, ergänzt: „Die komischen Typen da auf der Bühne hatten doch keine Ahnung, was die da reden, haben nur mit irgendwelchen Fremdwörtern um sich geworfen. Was soll so’n Scheiß. Die haben noch nie gearbeitet, die sitzen nur in ihrer Uni und lernen Bücher.“

Schlange kocht noch immer, er prostet dem Rocker zu und zieht seinen Froschkönig zur Hälfte leer. „Ach was, die Jungs haben doch super argumentiert: Konsumption, Akkumulation und Produzentenkollektive. Was willst du mehr?“

Der Rocker blickt ihn leer an. Ironie scheint nicht sein Steckenpferd. Er dreht sich weg und nuckelt an einem Bier. Woher hat der Mann Bier?

Versorgungsengpässe: die schwarze Wurst

Zurück zum Zelt, genug recherchiert, Kräfte sammeln für Achim Bigus. Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende des insolventen Autozulieferers Karmann pilgert seit Jahrzehnten von einem Liederabend zum nächsten und unterhält die Genossen mit Arbeiterliedern.

Während die zwei Hobby-Sozen versuchen etwas Schlaf zu finden, wandert das halbe Camp zum Bolzplatz ab. Fussballturnier und Bierausschank. Joswig verschiebt seinen Fassanstich, Kuba geht auf Kuschelkurs mit der US-Regierung und Nordkorea darf mit Raketen spielen. Keiner hat mehr Lust zu kämpfen.

Dämmerung. Joswig haut gegen den Zelteingang, es ist vielleicht acht. Schlange reibt sich durchs Gesicht. Aus der Veranstaltungsjurte schallt Musik. Mit zusammengekniffen Augen schaut er seinen Mitstreiter an, der mit einem Bier in der Hand vor dem Zelt sitzt. Woher hat dieser Mann Bier?

Schlange mit schlechtem Atem: „Boar, was für Mukke. Ist das nicht Right said Fred?“

„Jaaa. I’m too sexy for my shirt und so. Und davor lief Sasha mit This is my life.“

Schlanges Kopf fällt wieder nach vorn. Oh Mann, der sozialistische Liederabend beginnt mit Right said Fred. Die beiden schnappen Becher und Bier und raffen sich auf, um was Essbares zu organisieren. Ein offizielles Abendbrot gibt es nicht. An der Bar im Veranstaltungszelt reihen sich gut zwanzig Jungsozialisten um den Sandwichtoaster – in freudiger Erwartung auf Vollkornscheiben mit Tomatenmark und Plastikkäse. Widerlich. Schlange und Joswig suchen den Grill. Irgendwo muss es doch Fleisch geben. Ihre Mägen knurren.

Abseits des Camps, in einem kleinen gemauerten Unterstand werden die zwei fündig. Wurst ein Euro, Nackensteak 2,50. Als Beilage Brot und der Salat aus dem Wäschebottich.

„Zwei Mal Fleisch, bitte.“

„Gibt’s nicht.“ Der Typ, der den beiden antwortet, sieht satt aus, wohlgenährt, zufrieden. Lange Haare zum Zopf gebunden, Brille. Auf seinem Shirt steht: Komunismus ist machbar, Herr Nachbar.

Joswig: „Cooles Shirt. Aber warum gibt’s nichts zu essen. Wir haben Hunger!“

Der Typ erklärt den beiden, dass die Kohle alle ist. Schlange und Joswig sind geschockt. Wie wollen diese Menschen das Feuer der Revolution entfachen, wenn sie nicht einmal einen popeligen Grill anschmeißen können?

Hungern ist grausam. Schlanges Magenproblem meldet sich, seine Säure dreht durch. Nur Kippen und Grapefruit. Das schreit nach Reflux. Er geht zum Zelt zurück, mixt zwei neue Wodka und schüttet mit dem ersten Schluck eine Omeprazol (Magentabletten) runter. Joswig streunt über den Platz auf der Suche nach Essen.

Aus einer Kiste im Frühstückszelt lugt eine Rolle Alufolie – vermutlich Volkseigentum. Er schnappt sich die Rolle und winkt Schlange zu sich. Die Diktatur des Hungers muss ein Ende haben. Zwei rohe Würste für den vollen Preis gekauft, in Alufolie gewickelt und ins Lagerfeuer geschmissen. Ergebnis: nahrhaftes Acrylamid. Improvisation wurde schon in der DDR groß geschrieben.

Revolution Rock

Nach dem Essen beginnt der Megaphon-Terror von Neuem. Lockenköpfchen stolziert an den Zelten vorbei und kündigt Bigus an, den DKP-Barden, den EX-IG-Metall-Vertrauenskörperleiter, den Top-Act des Abends. Die bunte Lichterkette erstrahlt.

Das Veranstaltungszelt ist gerammelt voll. Endlich tanzt die Revolution. Jeder Rotgardist ist erschienen. Bier fließt, und Cocktails werden ausgeschenkt, Mojito und Cuba Libre. Was auch sonst?

Schlange und Joswig schwanken bereits und finden Platz in den hinteren Reihen. Bigus rockt die Massen: Bella ciao, Das Lied vom SA-Mann, Solidaritätslied und Commandante Che Guevara.

Das Volk tobt. Joswig heizt den Personenkult weiter an. „Achim“, kreischt er immer wieder. Die Genossen folgen ihm. Begeisterungs-Schreie durchschneiden von allen Seiten die Luft. „Achim, wir lieben dich!“ Fäuste recken sich in die Höhe, Tanz, Schweiß und Alkohol.

Zustände wie auf einer Teenie-Party. Pärchen finden einander, Geknutsche in den Ecken. Nur die zwei betrunkenen Reporter bleiben allein. Keine Revolution, keine Frauen, kein Sex. Ihre persönliche Revolte hätten sich die zwei anders vorgestellt. Romantik und Nostalgie erfüllen ihre Herzen.

SDAJ ist wie Pfadfinderlager, wie Klassenfahrt mit ideologischem Anstrich. Gesitteter Schmuserock. Klammerblues ohne Drogen, Kotze und Toilettenficks. Da kann auch ein Achim Bigus nichts dran ändern. Der Liederabend ist nur ein kastrierter Ausflug in den ungezügelten Aktionismus irgendwelcher Punkkonzerte. Trotzdem, irgendwie schmeckt’s nach Jugend: Linke Freidenker schauen in eine Richtung, ein Auftrag, ein Gedanke, Gemeinschaft, Solidarität und lautes Gegröhle.

Schlanges Magen dreht sich endgültig um, er ist definitiv zu alt für solche Abende. Auch Joswig sitzt immer teilnahmsloser zwischen den tobenden Revoluzzern. Entweder ist man Zyniker an der Flasche oder wütender Freiheitskämpfer. Im Alter muss man sich für eins von beidem entscheiden. Soviel alkoholgeschwängerte Melancholie überfordert Schlange und Joswig. Sie lassen Nostalgie Nostalgie sein und die Revolution der SDAJ geschehen. Torkelnd verschwinden sie in der Dunkelheit.

"Wenn ich sterbe, oh ihr Genossen,

bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao.

Bringt als tapferen Partisanen mich sodann zur letzten Ruh‘.

Bringt als tapferen Partisanen mich sodann zur letzten Ruh‘."

(Aus: Bella Ciao)

Am Zelt knallt das Vordach runter, mit letzter Mühe schieben sich die zwei in ihre Schlafsäcke. Als Schlange den Eingang zuzieht erklingt aus dem Festzelt die Internationale. Die Jungsozialisten brüllen die Revolution in die Nacht, die Möchtegern-Revoluzzer schließen ihre Augen. Danach kann nichts mehr kommen. Die zwei Haudegen werden die Revolution verschlafen.

Solidarische Grüße, Ihre Wattenscheider Schule.

Für eine heile Welt – Porsche Day am Tag der Arbeit

Die Welt von Porsche ist die Welt im Kleinformat. Es gibt die Malocher, die ihr Leben für einen Sitz im Sportsessel opfern, es gibt die Typen, die ihren Arsch von Vati vergolden lassen. Es gibt Champagner, Bier und Streuselkuchen. Ein bisschen Porsche ist jeder. Glauben Sie uns. Wir haben es erlebt – auf dem weltgrößtem Porschetreffen in Dinslaken. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

„Hey!“ Ein kleiner, dicker Typ schmeißt sich Herrn Schlange und Herrn Joswig in den Weg. „Ihr könnt hier nicht durch. Falscher Eingang. Hier ist nur für Porschefahrer.“
Joswigs Halsschlagader pocht. Es ist heiß. Der erste Mai in Dinslaken ist ein herrlicher Tag. Joswig macht einen Ausfallschritt Richtung Ordner. Schlange greift ein.
„Nein, nein. Ist schon okay. Presse. Wir sind akkreditiert.“
„Oh, das ist was anderes.“
Der Securitymann lächelt die zwei Journalisten an. Joswig schnaubt. Schlange greift nach seinem rosafarbenen Poloshirt und zieht den wütenden Hitzkopf hinter sich her, wird beinahe von einem Porsche überfahren. Schöner Luxus-Tod.
Die Sonne brennt.

Fast einen Kilometer hatten sich die zwei Freunde zur Trabrennbahn geschleppt, zum „8. internationalen Club-Day der Porschefreunde“. Die Stadt ist zugeparkt. Golf, Corsa, Fiesta und Corolla säumen die Straßenränder.
Direkt vor dem Eingang hatte den beiden ein Möchtegern-Porsche, ein silberner Mazda, den Parkplatz geklaut.
Ein Wagen scherrte aus. Knapp hundert Meter entfernt. Joswig setzte den Blinker und drückte das Gaspedal durch, fuhr dabei fast einen kleinen Jungen im Rollstuhl über den Haufen, der von seinen Eltern zum Porschetreffen geschoben wurde. Zentimeter vor dem Ziel zog der Mazda in die Lücke.
„Ey!“
Der Typ ließ die Scheibe runter. „Was denn? Das ist meine Seite.“
Joswigs Finger krallten sich in das Lenkrad seines Berlingos, währenddessen splittern in Berlin die ersten Schaufenster.
Ein zehnjähriger Rotzlöffel in dem Wagen hinter dem Prekariats-Porsche schiebt seinen Kopf durchs Seitenfenster.
„Ha ha!“ Das Nelson-Imitat gibt Joswig den Rest. Simpsons um diese Uhrzeit? Seine Zähne knirschen. Doch die Reporter halten still.
Der Parkplatz-Dieb hat ein beeindruckendes Kreuz, auch sein Beifahrer ist eine Kante. Memo für den Rückweg: In die Lüftung pissen.

——————————-ZUR FOTOSTRECKE——————————-

Die Arena der 140 Millionen

Fast 6000 Menschen tummeln sich auf der Trabrennbahn. Schlange und Joswig kochen. Der feine Sand wabbert in dicken Wolken über der Rennstrecke. Ozon, Feinstaub und Bierdurst liegen in der Luft.

Über 2400 Wagen sind geparkt, 140 Millionen Euro im Rondell. Die Wirtschaftskrise blieb in der Waschanlage. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Besucher picknicken und sonnen sich, Präsentationsstunde und Ersatzteilhandel. Baseballkappen, mit den Logos berühmter Automarken, werden verkauft: Mercedes, VW, Bentley, BMW je acht, die Porschekappe zehn Euro.

Joswig lockert seinen türkisen Schal über dem rosa Shirt – original C&A, Schlanges Brust schwillt unter seinem weißen Lacoste Hemd – made in Abu Dhabi. Der gemeine Porschefahrer trägt Polohemden, Ralph Lauren, Hilfiger, Lacoste und Porsche himself – Original natürlich.

Die Reporter verschaffen sich Überblick: Um eine Schnecke im schulterfreien Top scharrt sich der Society-Nachwuchs. Der Blick der beiden Oberschichten-Touris bleibt zwischen ihren Schulterblättern hängen. Zwei Engelsflügel sind auf die zarte Haut gestochen. Joswig rammt seinen Ellenbogen in Schlanges Seite.
„So stell ich mir ne Porsche-Perle vor!“
Die reichen Jungspunde drehen sich um und schauen finster. Zu laut. Schlange und Joswig lassen sie zurück – obwohl die Jungs kleiner sind als die Parkplatzdiebe.

Auf der anderen Seite der Trabrennbahn startet ein Weltrekordversuch der neun-vierundsechziger Jubiläumsporsche. Jubi-Parade kurz gesagt. 66 der auf 911 limitierten Sondermodelle, Baujahr 83, fahren im Schritttempo durch die Arena. Ihre „viola-metallicfarbenen“ Karosserien glänzen schwarz in der gleißenden Sonne. Fanatisch schmeißen sich Porsche-Fetischisten wie Kriegsberichterstatter in den Staub. Joswig schnappt seine Nikon D 70, ist heute der offizielle Fotograf und läuft in die Schusslinie. Einem Konkurrenten liegt in James-Nachtwey-Stellung die halbe Ritze frei. Kriegsstimmung. Schlange ruft zu seinem Bilderschützen.
„Die Kimme will ich haben. Schieß die ab!“
Der Typ schaut verstört auf und zieht sich die Buchse hoch. Wieder zu laut. Undercover-Journalismus sieht anders aus.
Nach zwei Minuten verliert die Parade an Reiz. Schwarze Autos, Schritttempo und bedeckte Ärsche. Joswig und Schlange desertieren und machen sich auf dem Weg zum nächsten Bierstand. Der Durst obsiegt in der Schlacht des Lebens.

Eine Diva unterm Sonnenschirm, mondän auf einem Campingstuhl. Ein Pärchen kommt hinzu. Sie begrüßt die beiden.
“Schön Euch zu sehen, seid Ihr auch mit Eurem Porsche hier?“
„Klar, aber der steht draussen.“
„Riskant“, findet Joswig, schließlich ist 1. Mai.

German Gemütlichkeit

Szenenwechsel, Parallelwelt Porsche-Diesel, das Reservat der antiken Porschetrecker. Eingepfercht in Absperrband stehen in der Mitte der Trabrennbahn 69 Oldtimer. In einem Planwagen wird Bier gezapft, unter Gartenpavillions sitzen Kerle in Karo-Hemden und Blaumännern. Grillgut duftet und Frauen verkaufen selbstgebackenen Bienenstich und Cremetorten. Spielende Kinder machen die Dorf-Idylle perfekt.

Gerstensaft im Plastikbecher ein Euro. Eine echte Alternative zum Prosecco der Rennbahnschickeria. Schlange sorgt für Erfrischung.
Ein Typ mit Schnäuzer sitzt vor seinem Zapfhahn, reicht dem durstigen Journalisten zwei Bier. Kondenswasser perlt vom Plastik, unter den Fingernägeln des alten Knackers steht schwarz der Dreck. Der junge Bursche, der haldolgedämpft das Geld entgegen nimmt, hat genauso ranzige Pfoten. Als hätten sie einen Acker mit ihren eigenen Händen umgegraben. Schlange nimmt zufrieden die Becher und geht. Hier im Treckerland können Männer noch echte Männer sein.

Beim Bier unterm Pavillion, den Hinterm auf ehrlichem Holz, den Duft von Fleisch in der Nase kommen die Reporter ins Gespräch.
In den 50er- und 60er-Jahren stellte Porsche als „Porsche-Diesel Motorenbau GmbH“ Traktoren her. Nichts für Polohemden und Leinenschuhe. Die Liebhaber der Touren-Trecker engagieren sich auch sozial. Der Ortsverein Ennepetal restauriert mit „arbeitslosen Berufsschülern“ die antiken Zugmaschinen. Klasse.
Schlange und Joswig lassen am Planwagen ihre Becher füllen und ziehen weiter zum Hauptevent.

Im Datenrausch

Auf dem Weg zur ADAC-Bühne, dem Austragungsort der röhrenden Drecksschleudern, stoppen die zwei Schreiberlinge bei einem grasgrünen Ralley-Flitzer. Auf dem Dach prangt ein goldener Pokal, im Inneren schützen Überrollbügel und Drei-Punkt-Gurt. Autogrammkarten stecken in den Seitenfenstern. Ein blonder Typ, drahtig, Anfang vierzig, der neben dem Porsche auf und ab stolziert, lauert auf Autonarren. Ein Jäger. Eine Muräne in der Felsspalte – bereit augenblicklich zuzuschnappen.
Schlange und Joswig wechseln Blicke. Der Plan ist klar, der Mann wird eingetütet.

Joswig bewundert den Wagen: „Ein echter Prachtporsche.“
Schlange genervt – dieses Mal gewollt zu laut: „Komm jetzt. Das kannst du dir von deinem Fotografengehalt eh nicht leisten.“
Joswig mault, die freundliche Muräne lacht. Kontakt hergestellt.

Der Wagen habe Geschichte, sei Rennen gefahren, habe etliche Preise geholt. Vor zwei Jahren sei er dann für 100 Mille in seinen Firmenbesitz gegangen. Die zwei Autolaien werden mit Technik-Details überschüttet. Bremsen aus Alu oder Keramik oder Alu-Keramik-Porzellan, Leichtmetallfelgen, Doppelendrohr. Der Vortrag verliert sich immer mehr in einem angenehmen Rauschen. 272 Spitze, Sechs Zylinder, 280 PS bei einem Sauger. Die zwei Reporter zucken aus ihrer Trance. Sauger? Nicht alles scheint wie Wasser von ihrem KFZ-imprägnierten Verstand abzuperlen.

Keine Gnade – der Mann referiert weiter. Der Weg zum eigenen Porsche war lang und hart:
„Früher hatte ich einen 360 GTC.“ Er hebt bedeutungsvoll die Brauen und schaut in die Gesichter seiner Zuhörer. Keine Reaktion. Leere könnte nicht offensichtlicher sein.
Er setzt nach: „Ein Ferrari.“
„Ach, stimmt.“
„Das Problem war nur: Die Leute gönnen’s einem nicht. Bei Porsche habe ich das nicht mehr.“
Schlange und Joswig nicken verständnisvoll. Im Angesicht des Sozialneids muss man kleinere Brötchen backen.
Abschluss: Schlange darf Probesitzen, Joswig schießt Fotos, der Mann ist zufrieden.

Ein silberner Porsche mit dem Aufkleber: „Man gönnt sich ja sonst nichts“ fährt vorbei. Endlich ein Statement.
Weiter geht’s zur Bühne.

Partnerlook

Lagebesprechung unter gelben ADAC-Bannern. Veranstaltungsmoderator Volker Küster, Sendergesicht bei Hamburg TV, Sänger, Dichter und Allroundgenie. Infos werden eingeholt, die weitere Planung besprochen, Tipps getauscht.

2001 entstand die Idee zum Porschetreff, der erste Mai sei das ideale Datum gewesen. Soziale Unruhen interessieren auf der Trabrennbahn nicht. Dann, 2008, erreichte der Porsche Day seinen Zenit. Eintrag ins Guiness Buch der Rekorde. 2325 Porsche in der längsten Parade der Welt. Legendär.

100 Kilo bayerisches Fleisch in ein grünes Polohemd gehüllt poltern plötzlich ins Gespräch. Er mit schwerem Dialekt: „Wie bekomme ich denn hier einen Pokal. Ich bin gerade angekommen.“
In Hamburg setzen Randalierer einen Porsche in Brand.
Küster: „Ähm, aber Sie haben einen Porsche?“
„Steht da hinten.“
Küster erklärt ihm das Prozedere: Vorfahren, Motorenkreischen, Pokal bekommen. Der Bayer verschwindet.
Menschen sammeln sich vor der Bühne, Digitalkameras werden ausgepackt, Kinder und BHs in Position gebracht. Der Höhepunkt des Events naht. Die ersten Nobelkarossen fahren vor. Trophäen werden inflationär verteilt. Die zwei Journalisten verlieren schnell den Überblick: ein Preis für die weiteste Anreise (laut Küster Schweden), ein Preis für die dicksten Schlappen, das dickste Endrohr, die dickste Frau.

Der Bayer mit dem grünen Polohemd ist zurück, steigt aus seinem grünen Porsche. Ein Sahneteil mit Liebe zum Detail, das Amaturenbrett überzogen mit Leder zieren karosserie-grüne Nähte. In bester Journalisten-Manier schnappt sich Schlange den Mann. Eine ehrliche Haut: 38, KFZ-Sachverständiger, arbeitet mit Porsche zusammen, hat sein Leben geschuftet, um in einem 150.000 Euro-Schlitten zu sitzen.
„Ist das Ihr Auto?“ Ingo Ruebener gesellt sich dazu. Der Bajuware nickt verwirrt. Ruebener , der Veranstalter des Events, ist ein freundlicher kleiner Zausel mit Catweazle-Bart und Steppjacke. Das zu tropischen Temperaturen. Absurd sich diesen Menschen hinter dem Lenkrad eines Nobelflitzers vorzustellen.
„Dann kriegst du gleich einen Sonderpokal.“ Der Kauz reckt seinen Daumen in die Höhe und verschwindet.

Das grüne Polohemd völlig durcheinander: „Wer war das denn?“
Schlange: „Der verteilt hier anscheinend die Pokale.“
„Hm ein ziemliches Alkoholproblem scheint der zu haben.“
Schlanges Atmung wechselt vom Mund zur Nase. Der Veranstalter scheint nüchtern. Soll er Ruebener reinreißen oder zur eigenen Fahne stehen? Er entscheidet sich für den Kollateralschaden.
„Kann gut sein“, presst er mit zusammengebissenen Zähnen hervor und dreht sich zu Joswig. Die Frau des Bayers tritt an die Seite ihres Mannes. Eine halbwegs attraktive Mittvierzigerin mit – selbstverständlich – grüner Bluse. Wie der Herr so’s Gescherr.

Der Fotograf im rosa Shirt fängt an den grünen Porsche zu knipsen, fragt über die Schulter: „Was ist das eigentlich für n Gefühl, so n Porsche?“
Markus Augen glänzen. „Wenn ich die Tür zu mache, lebe ich in einer anderen Welt, dann ist mir alles egal.“ Seine kleine grüne Fee steckt sich eine Kippe an. Er lächelt sie milde an. „Das ist einfach mein Laster. So wie andere Zigaretten rauchen.“ Die Ehefrau kichert: „Aber doch nur drei am Tag.“ Sie schauen zu Joswig und Schlange. Beide rauchen.

Schlange schnippt seine Kippe weg und hakt bei der Dame nach: „Ist bestimmt ein zeitaufwändiges Hobby. Braucht man da viel Verständnis?“
„Gar nicht: Mich hats ja auch gepackt. Ich fahr nen Cheyenne.“ Sie grinst. „Irgendwie müssen die Einkäufe ja nach Hause kommen.“ Recht so.
Schlange braucht Bier, bleibt jedoch hart. Nicht angebracht, lieber Imagepflege. Er zu Joswig – bewusst zu laut: „Ich könnte jetzt n Wasser vertragen.“ Joswig nickt und macht sich auf den Weg.

Den „Aristoclass“-Stand für „edle Pflegesysteme“ lässt er links liegen, rechts gibt’s nur Energydrinks der Marke „Kalaschnikow“. Joswig ignoriert den schwarzen Block. Es kippt die Stimmung in Berlin, am Kottbusser Tor fliegen Molotov-Cocktails. Dann, fünf Getränkestände später die Gewissheit. Porschefahrer leben gesund. Überall ist das Wasser ausverkauft. Verdammte Asketen.

Götterdämmerung

Joswig kehrt mit einem Becher Cola und einem Becher Saft zurück. Als er zu Schlange und dem grünen Pärchen stößt, gefriert die Zeit. Ein Götterwagen fährt vor. Den Zuschauern stockt ihr Atem. Autos ermatten. Martialisch lässt der Fahrer den Motor heulen, komponiert die eigene Siegeshymne zum Triumph. Sonnenstrahlen reflektieren auf seinen gebleckten Zähnen.
Die Reporter greifen zur Sonnenbrille.
Dicke Reifen, Karre im Seventies-Orange, schwarze Ralleystreifen, Carbon-Spoiler. Es ist Soundwettbewerb.

Der Fahrer, Ende zwanzig, Kai Diekmann-Frisur, Drei-Tage-Bart und Perlweiß-Grinsen, hält den Kopf aus dem Fenster. Müsste man sich den Chef der Bild-Zeitung vor 20 Jahren vorstellen, er wäre es. Der Mann schreit: „Hey, macht Platz! Wo ist mein Pokal?“
Er setzt ein selbstsicheres Grinsen auf. Der Mann hat ein Spitzbubengesicht mit viel zu kleinen Augen, sein Ralph Lauren-Hemd ist lässig aufgeknöpft.

Küster bleibt freundlich, geht um den Wagen und hält das Mikro an den Auspuff. Der Wagen brüllt. Der König ist da und lässt die Savanne erzittern.
Küsters Kommentar: „Unmessbar. Liebes Publikum, ihr werdet es nicht glauben der Sound hier sprengt jede Dezibel-Skala.“
Das junge Diekmann-Double strahlt, spitzt die Zunge und zieht sie genüsslich über die Schneidezähne, tastet jede Kerbe im gebleachten Zahnschmelz ab.
Schlange zu Joswig: „Spitzentyp. Der gehört uns. Wir müssen ihm nur n bisschen die Eichel putzen.“

Küster ist wieder hinter der Auspuffwolke aufgetaucht und hält einen Pokal in der Hand.
Diekmann springt aus dem Wagen. Zwei zehnjährige Mädchen überreichen den Preis. Charmant gibt er der ersten rechts und links einen Schmatzer auf die Wange. Ein echter Gentleman. So viel Herzlichkeit überfordert die Kinder. Das Mädchen bleibt verstörrt zurück, die andere macht einen Satz nach rechts. Keine Chance. Diekmann schnappt sie. Dann reckt er den Pokal über den Kopf und strahlt in die Menge. Tosender Applaus.
Eine aufgestylte Porschetouristin steht verzückt vor seinem Wagen und knipst ein Foto nach dem anderen.

Mit röhrenden Motor verlässt Diekmann den Platz. Der Fotohase hinterher. Kurzer Plausch am Seitenfenster. Casting ohne Besetzungscouch. Diekman kurbelt die Scheibe hoch. Die Maus senkt den Kopf – kein Recall. Schlange und Joswig würden sich gern ihrer annehmen, doch der Job geht vor. Der Wagen ist beinahe verschwunden. Die Haudegen nehmen Fährte auf. Am Rennbahnausgang stellen sie den anspruchsvollen Frauenheld.
„Wir schreiben übers Event. Hasse n Moment für n paar Fotos.“
Seine Zungenspitze wischt über die Lippen. „Na klar, Jungs. Ich fahr da vorne ran.“
Keine Nachfrage, kein Interesse, Hauptsache Fotoshoot. Echte Egos setzen Prioritäten.

Ein zweiter Porsche hält neben Diekmann, seine Mundwinkel zucken, er reagiert sofort.
„Fahr mal weiter. Hier geht s nur um mich.“
Die Rollen sind verteilt: Joswig fotografiert, Schlange wird investigativ:
„Ne geile Karre. Echt super.“ Schlange grinst. „Aber komm, das Ding ist doch n Perlenmagnet. Die Schnecken sind ja vorhin förmlich durchgedreht.“
Die Zunge schnellt wieder raus.
„Ja, hier war gut. Aber das lag auch an mir.“ Der Typ grinst. Schlange nickt annerkennend.
Diekmanns Zunge berührt sanft die Oberlippe.
„In Düsseldorf, auf der Kö klappt das nicht immer. Da finden es die Mädels blöd, wenn ich mit dem Porsche vorfahre.“ Das Hollywood-Grinsen erstrahlt wieder. „Mit dem Golf meiner Mama ist das besser.“

„Ist das denn dein Wagen?“ fragt Joswig.
Die Zunge bleibt drinnen.
„Ähm, ist der Wagen unserer Firma. Wir fahren Rennen mit dem. Monacco, Spa. Letztens sind wir in Spa gefahren.“
„Cool. Die Farbe ist echt der Hammer.“
„Auf jeden Fall.“ Diekmann lacht. Er schaut Schlange an und streicht mit der Hand über die Mundwinkel. „Obwohl du mit deinem Schnäuzer hier auch gut reinpassen würdest.“
„Och, ich bin eher der Manta A-Typ.“
Diekmann gnädig. „Auch nicht schlimm, auch nicht schlimm.“ Auch? – Selber!

Joswig hat die Bilder im Kasten, Diekmann den Tag gerettet. Ohne dieses blasierte Arschloch wäre der Termin nur halb so gut gewesen.
Man verabschiedet sich und er düst von der Trabrennbahn.

Epilog

Die Story ist rund – es geht nach Haus. 479 Polizisten werden in Berlin verletzt, einer hat während der Unruhen die Seiten gewechselt und seine Kollegen vertrimmt. In Dinslaken bleibt die Welt in Ordnung. 2418 Porsche sind in die Geschichte eingegangen. Schlange und Joswig holen an der Tanke eine Flasche Billigwodka (10,99 Euro) und beim Griechen zwei Gyrosteller mit einer Extraportion Tzatziki.

Man gönnt sich ja sonst nichts, Ihre Wattenscheider Schule.

 

Die Zeugen Jehovas sind die besten Menschen der Welt

Vergessen Sie Benedetto, vergessen Sie Luther, vergessen Sie Gandhi, Buddha und den Rest. Die Zeugen Jehovas sind die besten Menschen der Welt – das versichern wir Ihnen; wir haben es erlebt. Am Gründonnerstag im Königreichssaal in Dortmund Hombruch beim Abendmahl des Herrn. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Zur Vorgeschichte:

Zum wichtigsten Fest des Jahres, dem Tode unseres Heilands, sollten die Menschen sich ihrer Wurzeln besinnen. Nur durch das Opfer Jesu haben wir das göttliche Geschenk empfangen, uns von der Erbschuld, dem Sündenfall im Paradies, reinwaschen zu können.

Verständlich, dass in den Wochen vor dem Osterfest die Zeugen Jehovas armen Sündern ihre Hand reichen und Einladungen an Haustüren, Straßenecken und Billardtischen verteilen.

Herr Schlange fand die Option auf Erlösung am Dortmunder Hauptbahnhof – auf den ersten Treppenstufen zur Innenstadt. Seine schlafverklebten Augen erblickten in der Morgensonne zwei zierliche Beine, die unter einem knielangen Rock hervorlugten. Sein Blick blieb hängen, wanderte hoch, und ein zartes Mädchenlächeln strahlte ihn an wie ein Stern am aufklarenden Nachthimmel. Eines kam zum anderen: der Frühling, die Röcke, Müdigkeit, Testosteron und Vogelgezwitscher. Herr Schlange lächelte zurück und das zarte Geschöpf mit ihrem verführerischen Rock streckte ihm einen Zettel entgegen.

„Darf ich dir eine Einladung geben?“

„Sicher.“

Dass diese unschuldige Schönheit eine Zeugin Jehovas war, begriff er erst, als er die letzten Stufen zum Paradies erreicht hatte. Auf dem Plateau standen sieben schöne Menschen in Maßanzügen und Businesskleidchen – aufgestellt wie Spinnen im Netz an jedem Eingang und Winkel. Zielsicher sprachen sie Fußgänger an – Weiblein zu Männlein, Männlein zu Weiblein. Sex sells – das schien selbst in Jehovas Reich angekommen, und Schlange war an den klebrigen Fäden aus Hoffnung, Begierde und Gratis-Broschüren hängen geblieben.

Er steckte an einem Informationsstand den aktuellen Wachturm in die Tasche und zog weiter in die Redaktion.

Siebzehneinhalb Zigaretten später kam ihm die Eingebung. Es war abends, er saß Zuhaus und hörte Musik. Sexuelle Unmoral, Trunkenheit, Lügen, Habgier, unanständiges Reden, Missbrauch von Blut (in Form von Blutwurst), Genuss von Tabak „und so genannten Freizeitdrogen“ (Was lehrt die Bibel wirklich? S. 122) – sieben von 14 Todsünden der Zeugen erfüllt. Es war Zeit für eine Waschung.

Herr Schlange goss sich ein neues Glas Glas Whisky ein, griff zum Telefon und rief Herrn Joswig an. Dessen erster Kommentar zur Aussicht auf Vergebung aller Sünden: „Geile Scheiße.“ (unanständiges Reden)

Joswig kicherte, und beide steckten sich eine Kippe an. Damit war es besiegelt. Touri-Fahrt zum Abendmahl. Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle schlagen Haken ins Paradies.

Gründonnerstag, die Anfahrt ins Himmelreich

Kurz nach 19 Uhr, Treffpunkt Redaktionsräume: Herr Joswig betritt das Großraumbüro gewappnet, um Gott auf eine neue Partie Mensch ärgere Dich nicht zu fordern – dunkle Stoffhose, blauer Pullunder, weißes Poloshirt und ein Scheitel, der jeder Brisk-Werbung geschmeichelt hätte.

Hinter zwei Flachbildschirmen entdeckt er Herrn Schlange. Ebenfalls gläubig gestylt: weißes Hemd, schwarzer Cord-Anzug, Rasur, nettes Lächeln. Joswig ist beruhigt. Wenn man Erlösung versprochen bekommt, sollte man sich auch in Schale werfen.

„Durch regelmäßige persönliche, aber unaufdringliche Besuche wollen wir erreichen, dass Medienvertreter erkennen, dass … wir keine grauen Mäuse sind, sondern durch schickliche Freizeitkleidung uns so geben, wie wir wirklich sind: nett, adrett und weltoffen (…); wir wie ‚Heintje’ sind – die netten Jungs und Mädels von nebenan.“ (Wachturm 15. Aug. 2000 S. 4)

Nach einer halben Stunde der Aufbruch. Vom Hauptbahnhof bis Hombruch per Auto gut zwanzig Minuten. Angespannte Heiterkeit erfüllt Joswigs Bulli. Erste Bedenken keimen auf.

Mit straff organisierten Drückerkolonnen lege man sich da an, hartnäckig und überzeugend. 20 Stunden macht ein Zeuge pro Woche auf Klingelmännchen. Jede Energiereserve wird der Verkündung der Wahrheit geopfert. Einmal in die Organisation gerutscht werden die sozialen Kontakte auf die eigenen Reihen beschränkt, der Ausstieg so immer weiter verbaut. Die Zeugen Jehovas werden Sinn, Zweck und Inhalt deines Lebens.

Ein Zigarettenstummel nach dem anderen landet im Aschenbecher oder auf dem vorbei ziehenden Asphalt. (Genuss von Tabak)

„Hilf den Brüdern zu erkennen, dass die Beteiligung am Verkündigen der guten Botschaft eine heilige Pflicht ist, ein Erfordernis, von dem unser Leben abhängt…“ („Gebt acht auf Euch selbst und auf die ganze Herde“ – Lehrbuch für die Königreichsdienstschule, Wachturmgesellschaft: 1991, S. 35)

Sie sind fast da. Schlange bekommt feuchte Hände, Joswig trommelt auf dem Lenkrad. An diesem Abend geht es um Leben und Tod, oder um 23 Besuche der „Verkünder“ vor der Haustür. Missionierung ist die Existenz eines jeden „Auserwählten“. Und die zwei verlotterten Tausendsassa sind auf direkten Wege in die Kommandozentrale der religiösen Staubsaugervertreter.

Ihr einziges Schutzschild gegen die ambitionierten Glaubensjünger: eine ausgefeilte Geschichte und zwei neue Identitäten (Lüge): Martin Glotz (Herr Schlange), trockener Alki, sucht Halt im Leben. Als ihm die süße Maus am Bahnhof wie ein Engel vom Himmel herab erschienen war und ihn zur Feier einlud, erfüllte ihn Hoffnung. Er ist auf der Suche. Als getretenener Hund natürlich auch vorsichtig. Deswegen die Begleitung durch seinen guten Freund Marcel Natas (Herr Joswig).

Aus anschwellender Paranoia wird ihr Wagen 750 Meter entfernt vom Königreichssaal geparkt. Die Zeugen dürfen niemals ihr Kennzeichen erfahren oder Flugblätter hinter die Scheibenwischer klemmen. Als sich die Wagentüren öffnen, steigen schwere Rauchschwaden in den milden Abendhimmel. Joswig hustet und steckt sich die nächste Kippe an, Schlange zieht nach. Dann Contenance, Jackett zuknöpfen, Ruhe finden – kein Lachen während der Zeremonie und kein Käsedipp zu den Oblaten.

An der Behringstraße 9, dem Hort der Königsreichskinder, steht ein massiger Typ, hellgrauer Anzug, gelbe Krawatte, Axel Schulz in zwanzig Jahren – nur besser gekleidet. Er entdeckt die zwei verunsicherten Gestalten an der Straßeneinfahrt, nimmt Blickkontakt auf. Die Schlinge zieht zu.

Kein Entrinnen, nur noch Hoffnung auf Erlösung.

Schlange und Joswig tapern wie eingeschüchterte Köter zum himmlischen Tor.

„Satan behauptete interessanterweise: Alles, was ein Mensch hat, wird er für seine Seele geben“ (Was lehrt die Bibel wirklich? S.120; Hiob 2:4)

Das Abendmahl des Herrn, dem Himmel so nah

Durch die Milchglastüren zum Königsreichssaal klingen gedämpft Gebete.

Joswig zu dem Türsteher mit der gelben Krawatte: „Oh, schon angefangen. Dürfen wir überhaupt noch rein?“

„Selbstverständlich“, antwortet er mit sonorer Stimme und schiebt die zwei Sünder sanft ins Königreich.

Am Kopfe des Saales steht am Rednerpult ein Bruder mit Halbmond-Brille und feinen Gesichtszügen und erklärt in einleuchtender Klarheit, dass Wir alle Sünder sind und sich niemand davon selbst befreien kann. Der vollkommene Mensch ist nur eine Illusion der Werbeindustrie, niemand ist rein und perfekt. Der einzige Ausweg der Menschheit: Jehova. Logisch.

Schlange und Joswig schauen sich um. Auf den Stühlen, die den kleinen Saal füllen, sitzen rund 70 Personen jeglichen Alters und lauschen den Worten, die von vorn auf sie eindringen. Die Luft ist rein und sündenfrei.

Auf der rechten Seite sind die ersten beiden Stuhlreihen in vorderster Front unbesetzt. Offensichtlich die Besucherplätze. Die verirrten Himmelhunde schlurfen mit gesenktem Haupt über den beigefarbenen Teppichboden – vorbei an Drei-Generationen-Familien in perfekt sitzenden Anzügen und Kostümchen.

Die Präsenz der Zeugen schüchtert ein und beeindruckt zugleich. Eine junge Generation von Alpha-Menschen wächst hier heran. Athletische Körper, selbstbewusste Blicke, makellose Gesichter. Frauen in genetischer Schönheit und durchtrainierte Männchen, denen man unterwürfig die Kehle präsentieren will. Vielleicht ist ein Leben nach Gottes Wille doch förderlich für die Gesundheit von Körper und Geist.

Die zwei Ungläubigen umgibt eine Dunstwolke, als hätten sie in Aschenbechern gebadet. Im Antlitz der Designerstoffe wirkt Schlanges Cord-Jackett, das zerknitterte Hemd (beides H&M) und die ausgewaschene Cord-Hose (C&A) erbärmlich, Joswigs Pullunder gar indiskutabel. Obwohl die zwei auf alles vorbereitet schienen, kamen sie sich selten so deplaziert vor, zwei Hippies spielen auf dem Golfplatz Hacky-Sack.

Als sie sich setzen, steht an der gegenüberliegenden Seite ein dunkelhaariger Bursche mit breiten Schultern und kräftigen Oberschenkeln auf und verschwindet im Hinterzimmer. Wenig später kehrt er auf seinen Platz zurück, und ein freundlicher Teddybär setzt sich mit einem väterlichen Lächeln neben die beiden. Bei jeder Bibelstelle schlägt er die geheiligte Schrift auf, zeigt auf die richtige Stelle und hält das Buch der Weisheit in der ausgestreckten Hand den Unwissenden rüber, damit sie lesen können.

„Als Du zum ersten Mal gehört hast, was die Bibel wirklich lehrt, hat da dein Herz vor Freude, Begeisterung und Liebe zu Gott auch Feuer gefangen?“ (Was lehrt die Bibel wirklich? S. 188)

Die weisen Worte hallen durch den Saal. Das Ende allen Lebens steht kurz bevor, die endzeitliche Entscheidungsschlacht im Krieg des Allmächtigen, das biblische Armageddon, bei den Zeugen das Harmagedon, bei den beiden Wölfen im Schafspelz in der ersten Reihe das unvermeidliche Karmageddon.

„Harmagedon nicht auf die leichte Schulter nehmen – Die Frage ist, auf welcher Seite jeder Einzelne in diesem entscheidenden Konflikt letztlich steht.“ (Wachturm 1. April 2008)

Nur 144 000 geistgesalbte Wesen gesammelt seit Anbeginn der Zeit wird ein Leben im Himmel gewährt. Bedingung u.a.: ein jungfräulicher Abgang. Joswig und Schlange senken ihre Häupter zu Boden. „Drecksscheiße“, hämmert es in ihren Köpfen. „Das kam zwei Jahrzehnte zu spät.“

„Wer flucht, missachtet den Schöpfer der Sprache. Angenommen, du hast einem Freund ein Hemd geschenkt oder einer Freundin eine Bluse. Was würdest Du denken, wenn er oder sie dein Geschenk als Fußabtreter missbrauchen würde? Was denkt wohl unser Schöpfer, wenn wir sein Geschenk – die Sprache – missbrauchen?“ (WTG März 2008, S.20)

Den besten Zeugen gehört der Himmel, den Rest (laut Wachturmgesellschaft leben derzeit 6,5 Millionen Zeugen Jehova auf der Welt) erwartet ewiges Leben auf Erden in der Kolchose der Glückseligkeit, den übrigen Rest (rund 6,75 Milliarden) der endgültige Tod.

Das Abendmahl: Der einzige religiöse Feiertag der Zeugen Jehovas ist das Abendmahl des Herrn, das auch Gedächtnismahl oder Feier zum Gedenken an den Tod Christi genannt wird. Dieses Fest wird einmal jährlich am 14. Nisan, dem Tag des alt-jüdischen Passahs, nach Sonnenuntergang gefeiert. Während der Feier wird eine Ansprache gehalten. Anschließend werden die Symbole, ungesäuertes Brot und Rotwein, herum gereicht. Nur eine Minderheit mit himmlischer Hoffnung (144 000) nimmt von den Symbolen. Die anderen geben sie weiter, ohne davon zu nehmen. (Was lehrt die Bibel wirklich? S. 206)

Der Höhepunkt des Abends: Die Symbole werden gereicht. Das stattliche Alpha-Männchen mit den kräftigen Oberschenkeln und ein nicht minder attraktiver Bruder Ende zwanzig stehen auf und reichen den ersten Reihen Schüsseln mit trockenem Brot. Richtige Heintjes hatten sich die zwei Sünder anders vorgestellt.

Schlange beobachtet Joswig, wie er nervös auf das Brot stiert, nach der Schüssel greift und sie schnell weiter reicht. Bei dem bauchigen Rotweinglas, in dem verführerisch der Traubensaft schwenkt, denkt er länger über eine Kostprobe nach. Als er das Glas schließlich aus der Hand gibt, atmet Schlange durch. Die Weinrebe der Erkenntnis hätte ihnen fast ihren Platz im Paradies gekostet. Geschafft. Nichts gegessen, nichts getrunken. Eine ziemliche scheiß Party so ein Abendmahl.

Nach fünf Minuten hinkt ein älterer Herr zum Gabentisch und stellt Brot und Wein zurück. Kein Krumen wurde angerührt, kein Schluck genippt. In Hombruch gibt es keine Auserwählten – und keine Jungfrauen.

Auszug aus dem Paradies

Zum Abschluss wird noch ein Liedchen geträllert, die zwei Himmelhunde bekommen ein eigenes Gesangsbuch. Die Gemeinde hat sie aufgenommen.

Nach einer Stunde und fünfzehn Minuten löst sich das Fest der Feste. Die Kinder dürfen wieder rumtollen, es wird gelacht und geredet. Joswig beobachtet, wie die zwei jungen Vorzeige-Zeugen nach vorn gehen und die Weingläser abwischen. Er entspannt sich wieder. Er würde bei den Zeugen keine Fingerabdrücke hinterlassen.

Schließlich beugt sich der hilfsbereite Teddy rüber und fragt die beiden Sünder zu seiner Rechten, wie es ihnen gefallen habe.

Joswig von der Last der Paranoia befreit reagiert als Erster: „n bisschen viel auf einmal.“

Schlange schweigt betreten und reibt sich die Handknöchel. Irgendwann stammelt er mit belegter Stimme: „Es ging ziemlich an die Substanz. Kann ich mich denn auch – unabhängig von der Erbsünde – von all den Sünden befreien, die ich im Leben begangen habe?“ (Sexuelle Unmoral, Trunkenheit, Lügen, Habgier, unanständiges Reden, Missbrauch von Blut (Grützwurst und Blutwurst), Genuss von Tabak „und sogenannten Freizeitdrogen“)

Der Teddy: „Jesus hat sein Leben als Lösegeld für unsere Sünden gegeben.“

Joswig immer unbeschwerter: „Also quasi als zweite Chance.“

Der Teddy: „Ähm, quasi. Kein Mensch ist frei von Sünde, müsst ihr wissen. Niemand kommt als vollkommener Mensch auf die Welt.“

Ein wohliges Gefühl macht sich breit. Es scheint nicht alles für die zwei Sünder verloren. Immer mehr Zeugen scharren sich um die beiden, lächeln sie an, reichen ihre Hände, stellen sich vor. Wie eine himmlische Familie. Kleine Kinder werden von ihren Müttern geschickt, die verirrten Lämmer zu begrüßen. Auch die Frau des Teddys gesellt sich zu den ärmlichen Gestalten, eine adrette Mittfünzigerin mit eingeschnittenem Rock und straffen Waden (Schlanges Blick blieb an ihrem Oberschenkel hängen, als ein kleiner Junge sich an ihr vorbei zwängte und ihr rosiges Fleisch bis weit übers Knie freilegte, (Sexuelle Unmoral)).

Sie zieht ihre Tochter an die Seite, damit sie sich ebenfalls vorstellen kann. Den Sündern bleibt der Mund offen. Eine göttliche Blondine im strengen Rock, hauteng, der ihr knapp übers Knie reicht, dünne Nylons und schwarze Stilettos. Eine Frau zum Schänden und Niederknien (Sexuelle Unmoral). Zwei Sünder ein Gedanke – so schön könnte das Paradies sein.

Nachdem sie ein kleines Büchlein (Was lehrt die Bibel wirklich?) zugesteckt und jede erdenkliche Hilfe zugesichert bekommen haben, und ihnen der sympathische Teddy diskret und zurückhaltend eine Nummer für mögliche Bibelbesprechungen gereicht hat, werden die zwei aus dem himmlischen Reich geführt. Die Ferien auf der Paradiesinsel sind vorüber.

Sie schreiten vorbei an bezaubernden Frauen in provokanter Strenge (Sexuelle Unmoral), an Männern, die hinter ihren Rücken die Sonne verdunkeln könnten, Lächeln werden ihnen entgegen gebracht, Hände gereicht – Herzlichkeit wie Jesus bei seiner Ankunft in Jerusalem am Palmsonntag.

Epilog

Und die zwei Sünder haben, nachdem sie das göttliche Licht erblicken duften, nichts besseres im Sinn als die nächste Kneipe anzusteuern und den verschmähten Rotwein mit einem Glas Bier zu vergessen, feixend das Buch der Weisheit zu zerreißen und nachts den himmlischen Geschöpfen in ihren Röcken zu gedenken.

„Die Sünder werden von der Erde beseitigt werden; und was die Bösen betrifft, sie werden nicht mehr sein.“ (Psalm 104: 35)

See you in Hell, ihre Wattenscheider Schule.