Mitten in der Neustadt im Gelsenkirchener Süden liegt die Backstube von Ägidius Krause – hier wird seit über 100 Jahren nicht nur Brot gebacken. Berühmtheit über die Stadtgrenzen hinaus haben die Apfeltaschen des 66jährigen erlangt, die von den zufriedenen Kunden auch schon mal als „Mutantentaschen“ oder „Apfelkoffer“ bezeichnet werden. Die Teilchen sind nicht nur besonders groß, sondern sie schmecken auch besonders gut.
Wer das Ladenlokal an der Ecke Wiehagen/Mühlenbruchstraße betritt, fühlt sich in einen Tante-Emma-Laden der 50er Jahre zurückversetzt. Die Ladeneinrichtung entstammt nämlich dieser Zeit. An der Wand hängen die Meisterbriefe der Mitglieder des Familienbetriebs, der älteste stammt aus dem 19. Jahrhundert. Bereits am frühen Morgen ist hier schon viel los: Jugendliche einer nahegelegenen Ausbildungseinrichtung holen sich ihr Frühstück, ältere Stammkunden warten auf das frisch gebackene Brot, und Pendler kaufen Teilchen für die Pause, um im Büro mit den Riesen-Apfeltaschen für Aufsehen zu sorgen.
Das eigentliche Geheimnis findet sich allerdings in den hinteren Räumen des Hauses. Hier steht der Steinofen der Firma Mohr von 1938, der heute noch im Einsatz ist. „90 Brote werden hier in der Woche gemacht – vor ein paar Jahren waren es noch 270“, sagt der 66jährige. „Morgens beginnen wir mit 12 Sorten Hefegebäck, dann kommen Weizenmischbrot, Stuten, Schweineohren und am Ende das Feingebäck.“ Seit etwa 1 Uhr nachts steht Ägidius Krause in der Backstube, und erst gegen 9 Uhr morgens ist Feierabend. Nach einem kleinen Schläfchen geht die Arbeit am Nachmittag dann im Verkaufsraum weiter. Viele Jahre lang hat der Bäcker alleine gearbeitet, seit einiger Zeit hat er Mitarbeiter für die Backstube und den Verkauf.
Die Bäckerei Krause gibt es seit 1897 in der Neustadt, sie wurde damals vom Großvater des heutigen Inhabers gegründet. Ganz am Anfang stand hier noch ein sogenannter Königswinterofen, der direkt mit Kohle beheizt wurde. Inzwischen sorgt eine Öl-Anlage für die entsprechende Energie. „Ich kann nur hoffen, dass der Ofen noch eine Zeitlang durchhält und nichts kaputt geht“, wünscht sich Ägidius Krause. „Wahrscheinlich gibt es heute keine Ofenbauer mehr, die so etwas reparieren können.“
Eine lange Zukunft hat die Bäckerei in der Neustadt wohl nicht, denn die beiden Söhne haben kein Interesse daran, die Tradition fortzusetzen. „Ich habe dann mit meiner Frau beschlossen, weiterzumachen, bis wir aufhören und auf Modernisierungen zu verzichten“, erklärt Ägidius Krause. So hat sich der Charme des Ladenlokals bis heute erhalten – und die handgemachte Qualität hat sich herumgesprochen. Seine Kunden stammen nicht nur aus der Neustadt und nicht nur aus Gelsenkirchen. Und wenn am Ende des Tages etwas übrig bleibt, dann bekommt die Gelsenkirchener Tafel die Backwaren. In der Neuzeit ist die Bäckerei inzwischen dennoch angekommen: Auf der Internetseite der Gelsenkirchener Geschichten diskutieren die Forumsteilnehmer angeregt über die geschmacklichen Vorzüge von Mohnstrietzel und Streuselplätzchen mit Puddingfüllung.
Fotos von Andreas Weiss