Literarische Welthungerhilfe für den Pott


Rainer Osnowski von der lit.COLOGNE wies neulich  in der Vorankündigung zur lit.RUHR zu Recht auf die prekäre Lage der Alphabetisierung im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern hin und malte seine Vision, dass dort „erstmals Autoren auftauchen, die bislang daran vorbeigegangen sind.“ Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist.“

Literatur und Alphabetisierung im Ruhrgebiet

Sucht man nach den Gründen für die Situation des Ruhrgebiets als Diaspora der Literatur, fällt zunächst ins Auge, dass diese Ansammlung von Steinkohletagebausiedlungen von Beginn an stark migrantisch geprägt war, was den Pütt in der Alphabetisierungsquote generell an das untere Ende der Pisa-Skala zurückwarf, sogar bereits, als es die Pisa-Studie noch gar nicht gab. Der polnische Zechenarbeiter liest nämlich am liebsten die Bibel (AT), spätere Generationen haben sich auf reich bebilderte  Bedienungsanleitungen zum Kurzschließen von deutschen Personenkraftwagen im Hochpreissegment verlegt. Spätere Wellen von Gastarbeitern wie Italiener, Jugoslawen und Türken bereicherten zwar ebenfalls die hiesige Küche, leisteten jedoch – abgesehen von italienschen Schlagertexten und den gesammelten Schriften von Mustafa Kemal Atatürk – ebenfalls keinen nennenswerten Beitrag zur Literarisierung. Was die eigeborenen Ruhrstädter angeht, so lässt sich festhalten, dass diese aufgrund ihres Soziolekts „Ruhrpott“[i] sehr in der Rezeption von Texten des Hochdeutschen behindert sind.

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Literarischer Leuchtkäfer, Jungfernflug

Die deutsche Vizemeisterin der U20-Poetry-Slammer von 2014 Zoe Hagen nimmt in ihrem Debütroman den Leser mit auf die Achterbahnfahrt einer Jugendlichen zwischen Selbstekel,  Kloschüssel und Lebenshunger.

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Die Erzählerin Antonia ist 15 Jahre alt, wird von ihren Freunden Gandhi genannt und schreibt Briefe an Gott, an den sie eigentlich im katholischen Sinne gar nicht glaubt, sondern eher als Energie, die alles zusammenhält. Kraft ist ihr wichtig, zum Beispiel um die Widersprüchlichkeit des Lebens auszuhalten, das erinnerte Glück ihrer Kindheit mit ihrem aktuellen Gefühl von Leere, Einsamkeit und innerlichen Wunden, ihre Wahrnehmung der Schönheit der Welt und ihr gleichzeitiges Unvermögen, diese zu realisieren und der Gegensatz zwischen Realität und Illusion:

„Ich glaube nicht mehr an dich. Du existierst nicht. Aber ich schreibe dir trotzdem. Denn manchmal ist die Illusion weitaus schöner, als die Realität, die Realität nichts als die schlechte Kopie der Vorstellung.“

Gandhi stellt die illusionistische Realität der imaginären Vorstellung als Idee über die vordergründige Realität der Welt.

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