Letzte Woche ist mir aufgefallen, dass ich in dieser Kolumne schon wieder diesen marktschreierischen Ton angeschlagen habe. Vielleicht dachte ich, das macht man hier so. Vielleicht wollte ich auch nur darauf aufmerksam machen, dass ich „wieder da bin“. Jedenfalls ging und geht mir permanent das Thema nicht aus dem Kopf, wie speziell im Ruhrgebiet eng miteinander verknüpft ist, dass Menschen vor allem fremder Herkunft hier Fronarbeit geleistet haben und dass ein gewisses Maß an Verwirrung und Entfremdung dem über viele Jahrzehnte zugespielt hat. Und dann fragte ich mich: Was ist heutzutage anders? Die Antwort ist: wenig.
Ich habe dann einmal in einem Klassiker der Cultural Studies nachgelesen, namentlich bei Stuart Hall. Sein Aufsatz „Kulturelle Identität und Globalisierung“ enthält die schöne Fragestellung: „Werden nationale Identitäten homogenisiert? Kulturelle Homogenisierung lautet der angstvolle Schrei derjenigen, die davon überzeugt sind, dass die Globalisierung unsere nationalen Identitäten und die ‚Einheit‘ der Nationalkultur zu unterminieren droht. Dieses Bild ist jedoch als eine Sichtweise der Identitäten in einer spätmodernen Welt so zu einfach, vergröbert und einseitig.“ Genau. Wobei „nationale Identitäten“ ja wohl nur für Leute interessant sind, die bestimmte Probleme haben. Ich hab dann direkt das Buch weggelegt und mir „Auf verlorenem Posten“ von Slavoj Žižek zugelegt.
Ein alter Studienfreund von mir hat mal bei Žižek gearbeitet. Ich muss den mal fragen, ob dieser Mann vielleicht Marxist, aber kein Kommunist ist. Vielleicht sieht er sich ja als Sozialist oder so etwas. Er schreibt sogar an einer Stelle etwas, das man so auslegen könnte, dass er unter bestimmten Umständen auch einem national orientierten Sozialismus nicht abgeneigt ist – natürlich nur als eine „historische Übergangsphase“. Und er sagt auch (indirekt) etwas über Tunesien und all die anderen Staaten, um die es letzte Woche und diese Woche geht. Nämlich: „Wenn Schwellenländer ‚vorzeitig demokratisiert‘ werden, kommt es zu einem Populismus, der in die wirtschaftliche Katastrophe und zu einem politischen Despotismus führt – kein Wunder, dass die derzeit wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Dritten Welt (Taiwan, Südkorea, Chile) die Demokratie erst nach einer Zeit der autoritären Herrschaft ganz angenommen haben.“ Und dann erklärt er uns noch ein wenig, was China da eigentlich gerade macht. Diese distanzierten marxistischen Analysen helfen ihm anscheinend gut dabei, mit der Jetztzeit klarzukommen. Und ich weiß jetzt auch, was die immer alle mit „Neo-Liberalismus“ meinen.
Neo-Liberalismus ist nämlich, wenn alle sich so frei fühlen, dass sie das den anderen auf jeden Fall auch aufzwängen müssen. Und das kommt natürlich, seit das Private politisch ist und umgekehrt, nicht nur in den besten Familien, sondern auch in anderen kleinen Systemen vor. Und deshalb können sich die ganzen „befreiten“ Individuen, ob jetzt Ruhr-Migranten zur Industrialisierung, die post-faschistische deutsche Nachkriegsjugend ff., die Ex-DDR-Bürger, Sie und ich permanent mit total vielen Idiosynkrasien und Vorlieben beschäftigen, solange das doch bitte nur unter der Prämisse passiert, dass bloß jedem und jeder das Seine und Ihre zu gewähren sei. So sieht nämlich in Europa die spezielle Mischung aus Faschismus-und-Folgen und einer gewissen Marktradikalität bzw. Liberalisierung aus. Und weil da kaum jemand noch andere Maßstäbe hat als diesen diffusen Freiheitsbegriff, der eineN aber nicht rauslässt aus bestimmten Gewohnheiten, deshalb sind alle beständig so verwirrt und müssen total viel kaufen, Fernsehen oder Internet gucken und anderes komisches Zeug in sich (und andere) rein stopfen. Kein Wunder, dass das manchen merkwürdig vorkommt, die noch nicht so lange in der Gegend sind.
Ach ja: Und als ich dann aus einer Ausstellung zu Migration kam, letzte Woche, wollte ich bescheuerterweise zuhause noch einmal einen Blick in vergangene Zeiten werfen und kramte meine Roberto Rossellini Box hervor: „Paisà“, „Deutschland im Jahre Null“, „Stromboli“, „Reise in Italien“. Und mir fiel auf, dass mein Vater gesagt hatte: „Dass Du diese Zeit nur über Filme …“ Und mir fiel ein, dass all das eine Ästhetisierung des Grauens ist. (Kurz vorher ging es in einem Gespräch auch darum, wie Musealisierung auch eine Ästhetisierung von Schicksalen und Gräueln sein kann.) Und ich war froh, dass ich mich all dem nicht nur über Filme nähern kann, sondern dass ich mich täglich damit auseinander setzen kann, wie wer heutzutage wieder in irgendwelche Kästen gestellt wird, damit andere ihre eigene, verwirrte Art von Freiheit leben können, zum Beispiel durch die „Erschließung“ von Märkten und Arbeitskräften. Diese Woche wird wieder voll sein von diesbezüglichen Nachrichten.
Fotos: Jens Kobler (Oberes feat. „Manscape“ von Wire – am 28.02. wieder in Köln! Unteres nach „A Design for Life“ von den Manic Street Preachers. Auch gut: Deren Cover von „We are all bourgeois now“ von McCarthy)