OCCUPY SCHLARAFFENLAND: GUMMIBOOT STATT STRAHLENTOD

kernie_2Unser Schicksal ist besiegelt: Die Menschheit wird untergehen. An ihrer Gier ersticken und die Welt zu Grunde richten. Brennende Bohrinseln und bettelnde Bad Banks, Katastrophen-Kraftwerke und Staatsbrankrott. In unserem System wütet der Terror grenzenloser Habsucht. Hört auf nur zuzuschauen! Es reicht! Occupy every-fucking-thing! Wir stürmten ein Schlaraffenland, eroberten Minigolfplätze und Softeisspender, Bäche voller Bier und märchenhafte Pommes-Buden. Wir stürmten Kernies Wunderland in Kalkar: ein stillgelegtes Atomkraftwerk, ein Erlebnispark, Hotelkomplex, Kongresszentrum und Säuferparadies. Wir sagen Euch: Das Leben auf Flatrate endet im Supergau. Alternativlos. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

– Der Text ist im aktuellen Ruhrbarone-Magazin „GRENZEN“ erschienen. –

 

18.03 Uhr: Erste Vorboten der drohenden Katastrophe.

„Zwei Bier, bitte.“ Der Typ hinterm Tresen stellt zwei Grolsch aufs Holz und dreht sich zum nächsten Säufer. Joswigs Mund bleibt offen. Er dreht sich zu Schlange. „Alter, wir haben hier ne Bierflatrate.“

Schlange schürzt seinen Schnäuzer: „Willkommen in der Hölle.“

Kernies Vergnügungspark ist seit zwei Minuten geschlossen. Schlange und sein rotgelockter Freund suchten Zuflucht auf einem künstlichen Sandstrand vor dem Atomkraftwerk, fanden eine kreisrunde Holztheke unter einem bunten Zirkusschirm, sitzen an einem der Bierstände vor den Hotel- und Kongresskomplexen des Wunderlandes. Miesester Tiki-Bar-Style. Blechern dröhnt aus grauen Sirenen „Country Roads“ – der Dance-Mix.

„Alter, wir haben noch acht Stunden vor uns, und ich könnt jetzt schon alles kaputtkloppen.“ Schlange schwenkt ungeduldig sein Bier.

Wie Stalagmiten stapeln sich leere Plastikbecher vom Tresen den gelben, roten und orangefarbenen Zeltbahnen entgegen. Die anderen Typen unter dem Schirm scheinen seit Mittag das blonde Nass zu

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Lenin und die Bahn, Talent und Schicksal, Freiheit und Sicherheit

Foto: JohnnyB via Wikipedia

Wissen Sie, was Kommunismus ist? – Ja richtig: in der Theorie eine tolle Sache; aber die Praxis … Schön und gut; das war aber nicht die Frage. Was das ist, der Kommunismus, hatte ich gefragt. Okay, ich sage es Ihnen. Kommunismus ist nach Lenin Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Das hat er selbst gesagt, der Lenin. Sowjetmacht – okay, die kann ich Ihnen auf die Schnelle jetzt nicht im einzelnen erklären. Wir merken uns: mit einer Sowjetmacht haben wir es dann zu tun, wenn etwas so organisiert ist wie die Deutsche Reichsbahn. 

Die war nämlich richtig klasse organisiert. Das hat er selbst gesagt, der Lenin. Da konnte man – in diesem Fall: er – sogar eine Revolution mit machen. Und eine Revolution ist eine tolle Sache, wenn da der Kommunismus bei rauskommt – jedenfalls in der Theorie. Also, so ungefähr … Einfacher zu erklären ist freilich der Begriff „Elektrifizierung“. Elektrifizierung heißt, dass irgendwo Strom hinkommt, wo vorher keiner war. 

Kommunismus in der Praxis, Sie wissen ja Bescheid: einfach schrecklich. Zwang und Unterdrückung, alle Leute eingesperrt, und wer motzt, kriegt Ärger. Und von wegen: der Kunde ist König! Ihr kriegt gleich „Kunde“! Kleinbürgerliches Konsumentenbewusstsein. So etwas wird im Kommunismus natürlich entschieden bekämpft. Meistens nicht ohne Erfolg: die Leute wollen zwar immer noch eine Marlboro, eine Markenjeans oder einfach nur raus, trauen sich aber nicht, das zu sagen. Muss reichen. 

Was Sie hier auf dem Foto sehen, ist ein „Talent“. Ja, der Zug; der heißt so. Wie die Rheinische Post schreibt, werden die DB-„Talente“ von den Fahrgästen sehr gerne gesehen: Im Gegensatz zu den NWB-Fahrzeugen vom Typ „Lint“ mit zwei Türen an jeder Seite gibt es im „Talent“ nämlich drei Türen. Der „Talent“ verkehrt jetzt nämlich endlich wieder im Nahverkehr am linken Niederrhein – auf der Strecke der Regionalbahn Duisburg-Xanten über Moers und Rheinberg. Da freut sich der Niederrheiner; denn eigentlich müsste dort ja der „Lint“ fahren.  

Der „Talent“ gehört nämlich der DB-Regio, also der Deutschen Bahn, also Kommunismus, als Servicewüste. Die Bahn ist zwar eine Aktiengesellschaft, aber eben nicht an der Börse. Und je mehr versucht wird, die Bahn börsentauglich, also kundenfreundlicher, zu machen, desto mehr Strecken werden schon jetzt aus dem kommunistischen Zwangsregime entlassen. Denn der Markt weist aus, was bleibt, und was verschwinden muss. Zum Beispiel so eine an und für sich unrentable Strecke links am Niederrhein entlang. 

Wenn man den Bahnverkehr dort jedoch marktwirtschaftlich, also dynamisch, organisiert, dann fluppt das auch dort. Im Interesse des Kunden, also des Fahrgastes. Und deshalb fährt da jetzt nicht mehr die DB, sondern die NWB, die NordWestBahn. Privat vor Staat. Der Markt, also seine unsichtbare Hand, regelt das. Deutschlands größtes privates Bahnunternehmen gehört den Osnabrücker Stadtwerken, den Oldenburger Wasserwerken und noch einer Berliner Verkehrsfirma. Wow! Kein Wunder, dass bei solch einer Ballung privaten Unternehmergeistes auch das an und für sich Unrentable auf einmal profitträchtig wird. 

Okay, in den Nahverkehrszügen der NWB ist es ein wenig eng. Und einige jammern sowieso immer, Rollstuhlfahrer zum Beispiel sind geradezu bekannt dafür. Mit denen gibt es ständig Ärger. Für jeden Scheiß rennen die zur Presse. Anstatt dass sie einmal dankbar zurückblicken, wie es so vor 20 oder 30 Jahren ausgesehen hatte: wenn man sich ein halbes Jahr vorher angemeldet hatte, bekam man mit etwas Glück einen Platz im Gepäckwagen. Nun ja, das ist halt eine Schattenseite dieses kleinbürgerlichen Konsumentenbewusstseins: diese Undankbarkeit. 

Hier, dieser taz-Artikel: mal beschweren sie sich darüber, dass in die neue Regio-S-Bahn nicht hineinkommen. Wenn sie aber doch mal drin sind, ist es auch wieder nicht gut. 80 Zentimeter, so breit ist der Gang, durch den RollstuhlfahrerInnen zu ihren Plätzen gelangen. Links die Außenwand der Toilette, rechts Klappsitze. Sind die besetzt, kommt man mit Rollstuhl erst durch, wenn die Fahrgäste aufstehen. Nervig. Aber so ist Marktwirtschaft: der Kunde ist König, und das heißt: auch die NWB reagiert sofort: Die Nordwestbahn, die die S-Bahn betreibt, hat indes angekündigt, Fahrgäste mit Schildern aufzufordern, RollstuhlfahrerInnen Platz zu machen. Auch das Personal soll geschult werden, „darauf aufmerksam zu machen“. 

Jetzt wollen die auch noch klagen und mit diesem Schnickschnack so ein dynamisches Unternehmen in den Ruin treiben. Wie auch immer: Probleme, die am Niederrhein so nicht aktuell sind. Während die NWB jetzt ganz flott ihre Mitarbeiter schult, wird einstweilen gar nicht mit dem NWB-Triebwagen Marke „Lint“ gefahren, sondern mit dem beliebten „Talent“. Der ist zwar – wie gesagt –  von der DB, jedoch nicht kommunistisch, weil nicht elektrifiziert. „Lint“ natürlich auch nicht, logisch. Denn die ganze Strecke am linken Niederrhein ist nicht elektrifiziert. Es lebe die Freiheit! In diesem Fall: die Diesellok. 

Niederrheinexpress (RB 31) am Gleis 4 des Moerser Bahnhofes - Foto: Carschten via Wikipedia

Der „Talent“ kommt deshalb gegenwärtig am linken Niederrhein zum Einsatz, weil sich im August in Geldern – ebenfalls linker Niederrhein – ein Auffahrunfall zugetragen hatte. Nein, nicht mit dem Straßenverkehr, um Himmels willen! Nur NWB-Triebwagen sind zusammengestoßen – nicht nur zwei, sondern gleich drei. Alle kaputt. Das beeinträchtigt freilich auch das dynamischste Privatunternehmen; aber nun ja: Unfälle kommen eben vor. Da kann man nichts machen. Oder gestern: da soll – wie es in der Rheinischen Post laut Zugdurchsage hieß (oder umgekehrt) – „ein Baum“ auf den Gleisen zwischen Alpen und Xanten gelegen haben. 

„Ein Baum“ – Respekt! Da muss der Triebwagen tatsächlich eine Menge Talent gehabt haben. Wie dem auch sei: jedenfalls ist wohl irgendetwas am Bremssystem kaputtgegangen, wie ein Fahrgast der betroffenen Regionalbahn berichtet. So etwas kann passieren; also musste der Zug – Sicherheit geht nun einmal vor – erst einmal eine Weile stehen bleiben. Und so einen Bremsschaden repariert man nun einmal nicht so eben im Handumdrehen. In Sicherheitsfragen geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. In der Rheinischen Post ist zu lesen: Auf der Strecke der Regionalbahn Duisburg-Xanten mussten 55 Fahrgäste im Regionalzug am Mittwoch vier Stunden lang ausharren, weil das Bremssystem des Triebwagens ausgefallen war

Um 16:10 Uhr machte sich der Zug in Duisburg auf in Richtung Xanten, wo er um 16:55 Uhr ankommen sollte. Leider hatte sich dann kurz vor dem Ziel, also gegen 16:45 Uhr, das kleine Malheur ereignet. Gegen 21.15 Uhr war laut RP das Bremssystem des Zugs offenbar wieder repariert, der Talent setzte sich endlich Richtung Xanten in Bewegung. Viereinhalb Stunden – da kann man auf der Autobahn in diesen Tagen weiß Gott Schlimmeres erleben. Und da gibt es auch keine Toilette. Das heißt: der „Talent“ hat natürlich Toiletten. Aber wenn ein Zug steht, darf man die selbstverständlich nicht benutzen. Das weiß aber doch jeder! Dass da eine Frau angefangen hat zu weinen, nur weil sie mal musste – tja Gott: das sind die Nerven. 

Aber ansonsten blieb alles ruhig. Sehr disziplinierte Fahrgäste. Kein Mensch ist in Panik geraten. Warum auch? Es bestand zu keinem Zeitpunkt für die Passagiere auch nur die geringste Gefahr. Dennoch ist – sicher ist sicher – die freiwillige Feuerwehr Alpen angerückt – mit 50 oder 60 Mann. Gegen 20:00 Uhr – recht flott, die wurde nämlich nicht früher verständigt. Die Feuerwehrleute hatten dann sogleich darüber beraten, ob man den Zug evakuieren solle. Dem hatten die Fachleute der NordWestBahn jedoch einen Riegel vorgeschoben. So etwas hätte ja nur völlig unnötige Gefahren heraufbeschworen. „Wir durften aus Sicherheitsgründen nicht aussteigen. Das wurde uns klar gesagt“, erzählte eine Reisende. Und da es alle erzählen, wird es wohl so stimmen. Ist ja auch klar. Sicherheit geht nun einmal vor. 

Freiheit steht halt immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Sicherheit. Absolute Freiheit kann es nicht geben, entartet zur Anarchie. Und Kundenfreundlichkeit bedeutet als allererstes, dass man sich um die Sicherheit des Geschäftspartners sorgt. Was nützt einem der schönste Tee, wenn man tot ist. Aha! Und die Niederrheiner hatten das dann auch eingesehen und die Anordnungen, wie es sich gehört, befolgt. Ein bisschen geweint schon, aber kein Pippi gemacht, und vor allem: kein Mensch hatte es gewagt auszusteigen. Freiheit und Verantwortung – das gehört nun einmal zusammen. Und wenn der „Talent“ gestern Abend um Viertel nach Neun nicht weitergefahren wäre, säßen sie da noch heute. Irgendwo am linken Niederrhein in Menzelen-West in Höhe der Schulstraße. Nicht der schlechteste Flecken Erde.