Das Dilemma mit den ‚Besentagen‘

Na, alles im Sack? Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei
Na, alles im Sack? Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei

Der Frühling ist da! Zeit für den Frühjahrsputz!

Das denkt man sich wohl aktuell auch in vielen Städten der Region und ruft zum inzwischen schon fast traditionellen ‚Besentag‘ in der jeweiligen Kommune auf.
Und tatsächlich finden sich doch überall, mal mehr, mal weniger, freiwillige Putzhelfer, die die ursprünglich vor Jahren mal der jeweiligen Gemeindeverwaltung bzw. dem örtlichen Ver- und Entsorgungsbetrieb einer Stadt zugedachte Grundreinigung des Stadtgebietes zumindest ein kleines Stück weit mit zu übernehmen und die tatkräftig dabei mithelfen ihrer Heimatgemeinde wieder ein wenig mehr Sauberkeit zu verleihen.
Und das ist in vielen Städten ja aktuell auch dringend nötig, wenn man sich mal kritisch in der Region umschaut.
Zu sehr haben die Stadtverwaltungen in den letzten Jahren vielerorts schon an genau diesen Dienstleistungen gespart. Teils den großen finanziellen Nöten, teils aber auch einer in den letzten Jahren extremen Ausweitung der regelmäßig zu reinigenden und zu pflegenden Infrastruktur, einer schier explodierten Anzahl von Grünflächen und Verkehrsinseln geschuldet, der man nun nicht mehr Herr zu werden scheint. Und das alles bei einem inzwischen überall stark steigendem Kostendruck auf Grünflächenpflege und Stadtreinigung. Das Ergebnis sieht man jetzt.
Aktuell daher besonders häufig in den Lokalzeitungen zu finden: Vermeintlich besonders engagierte Bürger, die zusammen mit dem jeweiligen Bürgermeister und/oder ein paar Parteien- bzw. Vereinsvertretern öffentlichkeitswirksam posieren und jeweils ein paar Kilo Abfall vor den Augen der verbliebenen Lokalreporter wieder aus der Umgebung ihres Wohnortes verschwinden lassen. Ein gutes Gewissen im Nachgang der Veranstaltung natürlich bei allen Beteiligten inklusive! Auch an vielen Schulen findet eine solche Aktion derzeit unzählige Nachahmer. Besentage quasi überall!

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Waldorfschule: Curriculum und Karma – das anthroposophische Erziehungsmodell Rudolf Steiners

klaus_prangeDie anthroposophische Pädagogik ist eine Mogelpackung für Herrschaft. Sie beutet das vielfach anzutreffende Orientierungsbedürfnis aus, um die Herrschaft einer selbsterwählten Elite zu begründen. Von unserem Gastautor Klaus Prange.

Es gibt eine amüsante Anekdote, die mit dem großen dänischen Physiker Niels Bohr verbunden ist. Bohr hatte in den Bergen eine Hütte, und über der Tür zu dieser Hütte war ein Hufeisen angebracht, ein altes magisches Zeichen zur Abwehr böser Geister. Als nun Bohr einmal von Fachkollegen und Schülern besucht und gefragt wurde, ob er etwa an solchem Spuk und Aberglauben festhalte, hat er geantwortet, nein, natürlich nicht, er glaube nicht daran, dass das Hufeisen wirklich das Unglück vertreibe; aber sein Nachbar habe ihm gesagt, es wirke auch dann, wenn man nicht daran glaube. 

Diese Anekdote beleuchtet zunächst einmal, wie es sich für Anekdoten gehört, die Eigenart des Mannes, diese spezifisch dänische Mischung aus Verstandesklarheit und Verschmitztheit. Sie beleuchtet aber auch noch etwas anderes, viel Allgemeineres: Bei aller Rationalität und wissenschaftlichen Skepsis gegen Aberglauben, angebliche Volksweisheit und alte Weistümer bleibt doch ein Rest, der sich nicht auflösen lässt, eine Ungewissheit und Unsicherheit, der man mit Vernunft und Wissenschaft nicht beikommen kann. Die große Hoffnung der modernen Wissenschaft, die metaphysischen Gewissheiten durch einsehbare, nachprüfbare und distinkte Bestimmungen zu ersetzen, hat sich nicht erfüllt; vielmehr hat sich gezeigt, dass die Wissenschaft das Problem der praktischen Orientierung im Leben nicht bewältigen kann. Sie belehrt uns darüber, was wir wissen, und je genauer sie das tut, desto genauer wird auch die Grenze erkennbar, die dieses Wissen mit sich führt. Hans Blumenberg hat in seinem 1986 erschienenen Buch über Lebenszeit und Weltzeit überzeugend ausgeführt, dass jene Hoffnung der neuzeitlichen Reflexion illusorisch war, eine produktive, ergiebige Illusion, gewiss, aber doch mit dem Ergebnis, dass die Fragen des Lebens sich nicht in Reflexion ohne Rest und Bruch auflösen lassen. (1) Und genau dies ist ein Ergebnis des organisierten Wissens, auf das man nun unterschiedlich reagieren kann, nicht nur ironisch-verschmitzt wie Bohr, sondern auch resolut, indem man die Wissenschaft und ihre Ergebnisse umdeutet. In jedem Falle ist es so, dass gerade eine selbstkritisch sich bescheidende Reflexion dem “Glauben Platz schafft”, so das ausdrückliche Programm Kants, der dieses Problem scharf und deutlich gesehen und ausgesprochen hat. Aber dieser Platz wird nicht nur von dem gefüllt, was nach Kant allein übrig blieb, jenem spezifischen Vernunftglauben, der das Verfahren der Vernunft auf die Bestimmung der moralischen Handlungsgründe anwendet und eine menschliche Welt erzeugt, sondern auf diesem Platz tummeln sich auch ganz andere Konzepte. Die Philosophen interessieren sich in der Regel nicht allzusehr dafür, was es alles an metaphysischen Überlebseln gibt, aber der Pädagoge, der es ja nicht nur mit Akademikern zu tun hat, kann daran nicht vorbeigehen.

Was ich damit meine, lässt sich leicht illustrieren und aktualisieren. Man sieht es in den Buchhandlungen und an den Verlagen: Esoterisches kommt gegenwärtig gut an, Mystik und Mythisches zu herabgesetzten Preisen, ob es sich nun um die Apotheke des lieben Gottes handelt oder um computergestützte Astrologie oder eben auch um Anthroposophisches. Es gibt eine Renaissance vormoderner Weltweisheit, Totallösungen und gebrauchsfertige Sinnangebote, die der Nachfrage nach Orientierung und Sinn entsprechen. Offenbar besetzt die Nachhut der Vormoderne Positionen, die eine resignativ in sich selber verstrickte Rationalität freigegeben hat. Dabei gibt es durchaus Rangunterschiede: auf der oberen Etage wird die “Wahrheit des Mythos” restauriert, (2) und ganz unten haben die Jugendsekten, die indisch kostümierten Guru-Weisheiten, die Scientology-Bewegung u.a. ihren Markt. Man hat zwar gesehen, dass am Ende auch ein Bhagwan nur von dieser Welt ist, aber solche Desillusionierungen sind nicht von Dauer; es ist vielmehr damit zu rechnen, dass es eine Anfälligkeit für totale Sinnangebote gibt, für Schlüsselattitüden und vorreflexive Gewissheiten.

Genau das ist mein Thema. Ich möchte wie in einem klinischen Fall an der Anthroposophie und der anthroposophischen Pädagogik zeigen, dass sie dem Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Weltdeutung und Sinnorientierung entspricht, nach einem Weltbild, in dem sich auch sagen lässt, was es mit diesem menschlichen Leben auf sich hat. Dazu eine Bemerkung in eigener Sache. Ich werde des öfteren gefragt, weshalb ich mich mit der Waldorfpädagogik befasst habe und dann auch noch so “kritisch” und ausgesprochen negativ. (3) Die Leute hätten mir doch gar nichts getan und verdienten solche Unfreundlichkeit nicht. In einigen Waldorf-Rezensionen wird auch gleich Motivforschung getrieben: Welchen Defekt hat jemand, der den Sinn der Waldorfpädagogik in Frage stellt, die doch wirklich das Beste für die Kinder will, eigentlich viel mehr als die reglementierte und verkopfte Staatsschule. Meine Antwort dazu ist: ich betrachte die anthroposophische Pädagogik als Beispiel für eine absolute Pädagogik, keineswegs das einzige, aber eben ein guter Fall, so wie ein Kliniker oder Analytiker sich über eine reine Konversionshysterie freut, nicht weil er Neurosen gut findet, sondern weil er an ihr untersuchen kann, wie der Mechanismus dieser seelischen Krankheit zu verstehen ist. In der Tat halte ich die Waldorfpädagogik für einen Irrgang, und die ambivalente Rezeption und Behandlung dieses pädagogischen Konzepts durch die Erziehungswissenschaft wirft ein Licht auf die Anfälligkeit der Pädagogik für “absolute Metaphern” (Blumenberg) und theoretisch nicht ausweisbare Sinnantworten, auch: ihre Anfälligkeit und Schutzlosigkeit gegen politisch-totalitäre Zumutungen.

Soviel zum Hintergrund. Im Folgenden werden drei Punkte behandelt, die ich vorweg als Thesen formuliere:

These I: Die Anthroposophie ist eine Heilsbotschaft für Verlassene und Enttäuschte, für Sinnsucher und Heimatlose.

These II: Die Waldorfpädagogik und die Waldorfschule sind der Versuch, diese Heilsbotschaft über Erziehung auf Dauer zu stellen.

These III: Die anthroposophische Pädagogik ist eine Mogelpackung für Herrschaft. Sie beutet das vielfach anzutreffende Orientierungsbedürfnis aus, um die Herrschaft einer selbsterwählten Elite zu begründen.


Die Anthroposophie als Heilsbotschaft

Dazu nehme ich eine Überlegung auf, die Sigmund Freud vorgetragen hat. Freud hat die Frage gestellt, welche Zukunft die traditionellen Glaubenssysteme noch haben. Bisher haben sie dem Menschen geholfen, seine Hilflosigkeit zu meistern; sie geben Sicherheit und Gewissheit in einem Meer von Gefahr und Übermacht. Aber die Menschen ahnen, dass sie einer Illusion aufsitzen. Sie ahnen und wissen es deshalb, weil die modernen Wissenschaften ihnen drei schwere Enttäuschungen bereitet haben, drei schwere “Kränkungen”, wie Freud auch sagt. (4) Die erste, “kosmologische” Enttäuschung stammt aus der Astronomie, seit sich die Lehre des Kopernikus durchgesetzt hat, dass die Erde keineswegs der Mittelpunkt der Schöpfung, also der Mensch auch nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Galilei, der das ungeschminkt aussprach, wurde dafür verdammt und musste gegen seine Überzeugung widerrufen. Die zweite, “biologische” Enttäuschung hat uns Darwin beschert: der Mensch ist nicht fertig und einigermaßen mit Vernunft begabt geschaffen worden, sondern in einem sehr langen Naturprozess entstanden. Es gibt ihn ohne Zielbestimmungen und ohne Schöpfer, der sich den Menschen ausgedacht hat; das ist die revolutionäre Pointe der Evolutionstheorie. Und die dritte Enttäuschung besteht darin, so Freud, dass die analytische Psychologie zeigt, dass wir nicht einmal über uns selbst verfügen, uns mit uns selbst nicht auskennen und dass unsere Vernunft nur ein schwaches Rohr im Wind unserer vorrationalen Antriebe ist. Es gibt nach alledem keine Vorzugsstellung des Menschen, sei es als Zentralwesen des ganzen Kosmos, sei es als Krone der Schöpfung, sei es als Vernunftwesen mit absoluter Mitte in sich selbst. Man kann das in der Konsequenz auch so formulieren: alles könnte auch anders sein, unser Wissen sowieso, aber auch unser Handeln und Denken, unsere moralischen und ästhetischen Präferenzen, unser Charakter und das, was wir für unser Wesen halten. Dies sind Varianten des Satzes von Nietzsche: Gott ist tot. Das gegenwärtige Stichwort dafür lautet: Kontingenz. Alles könnte auch anders oder gar nicht sein. Wenn das so ist, wenn Gott tot ist, wenn die Entzauberung der Welt nicht rückgängig zu machen ist, so Max Weber, wie kann man dann mit diesem Tatbestand fertig werden? Ein Weg ist, und Freud hat es vorgemacht: Man kann tapfer sein, d. h. Schritt für Schritt versuchen, ein wenig und immer mehr Licht in die seelischen und intellektuellen Konstellationen zu bringen, theoretisch gesprochen: das Kontingente durch Relationierungen zu bewältigen, nicht endgültig und für immer, aber auf Zeit. Man kann aber auch die Augen schließen und Gott noch einmal einen guten Mann sein lassen, so tun, als ob alles irgendwie zusammenpasst. So verhalten sich die meisten, angesichts des Umstands, dass kein endliches Bewusstsein umfassen kann, was überhaupt relevant ist. Die Zeitschere von Lebenszeit und Weltzeit ist prinzipiell nicht zu schließen, schreibt Blumenberg. Man kann aber auch, und das ist der Weg Steiners, die Augen offen halten und doch träumen, um resolut darauf zu bestehen, alles sei vorgeordnet, nicht nur die Banalitäten hier, sondern auch der Sternenlauf, die Geschichte von Anbeginn und Ende, die Beziehung von allem und jedem, und zwar so, dass dann auch das kleine und nichtige, belanglos-zufällige Leben einen großen, unverzichtbaren Sinn hat, der sich dem erschließt, der Steiners Wachtraum mitträumt. Steiners Suggestion und offenbar nach wie vor anhaltende Wirkung beruhen auf dem ungestillten Sinnbedürfnis und darauf, dass er sich als einer präsentiert hat, der die Antwort und das Lösungswort weiß, die Antwort auf ein Rätsel, das in Wahrheit gar keines mehr ist.

Wie sieht Steiners Lösungsformel aus? Nun, Steiners Grundgedanke ist simpel und zugleich höchst abstrakt. Er hat ein archaisches uraltes Bild aus der Kindheit der Menschheit aufgenommen und modern inszeniert. Der einzelne Mensch ist ein Kosmos im Kleinen, der Kosmos ein Mensch im Großen. Das ist nicht als Bild gemeint, das auch anders sein könnte, sondern es ist wirklich so. Es gibt eine Grundbeziehung zwischen dem Endlichen und Irdischen hier und dem Ewigen und Kosmos dort. Man kann hin und her gehen. Wie wir uns als Menschen erkennen mit Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, so ist die Welt im Ganzen, und schauen wir auf Sonne, Mond und Sterne, auf Stein, Pflanze und Tier, dann erkennen wir uns selbst. In seiner Selbstdarstellung unter dem Titel Mein Lebensgang (5) hat Steiner geschildert, wie er zu seinen Ansichten gekommen ist oder besser: wie sich ihm das Weltgeheimnis erschlossen hat und zuteil geworden ist.

Die angegebene Grundbeziehung lässt sich endlos variieren und instrumentieren. Der Knochenbau des menschlichen Arms enthält nach Steiner die klassische Tonskala, der Zahnbestand deutet auf die intellektuelle Verfassung, die Geometrie ist aus dem Kosmos und aus dem Skelett des Menschen herausgeholt, die Elemente spiegeln die Temperamente, die Temperamente die Weltzeitalter, beides ist in die musikalischen Haltungen verwoben, so dass man einem Kinde das richtige Instrument zuordnen kann: alles hängt mit allem zusammen, ein Zaubergarten, wo eine kleine Bewegung hier eingreift in den großen Weltenplan, so wie sich ja auch die archaischen Völker vorstellen, dass sie mit der symbolischen Darstellung des Regens im Tanz auch wirklich den Regen herbeiführen können. Das Fernste und Entlegenste ist nah, das Nächste und Banalste abgrundtief bedeutsam, was auch immer es sein mag. Im letzten Band einer 1985 herausgekommenen Steiner-Ausgabe sagt das Kurt E. Becker so: “Den individuellen Mensch im Mittelpunkt entfaltet sie [die Anthroposophie, K.P.] – ganz ohne dogmatischen Impetus – ein allumfassendes Koordinatensystem vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Kleinsten zum Größten, vom Vergangenen zum Zukünftigen.” (6) Ganz ohne Dogma? Wohl kaum. Aber man kann schnell sehen, worin der ästhetische Reiz dieses Weltbildes liegt, dieser Harmonie von Mensch, Welt und Geschichte, vor allem dann, wenn der Eingeweihte als ein Visionär verstanden wird, “verbunden mit dem Urquell allen Seins”, wie es da weiter heißt. (7) In diesem Netz der Analogien und Korrespondenzen fehlt nichts, passt alles und hat eine tiefe, bleibende, den Menschen recht würdigende Bedeutung.

In der Tat: Wer hätte nicht gern ein solches Weltbild, das ihn in den Mittelpunkt stellt, wo alles, wie in der Kinderwelt, auf alles einen Reim gibt, wo sich alles um den Einzelnen dreht und nichts mehr zufällig, sondern alles schicksalsnotwendig ist, karmisch-kosmisch, eben anthroposophisch. Nichts geht verloren, keine Geste, kein Wort und kein Opfer, die Gesamtrechnung geht auf ohne Rest und Bruch, so wie Bilder fertig und umschlossen sind, während Verstand und Gedanke immer diskursiv unterwegs und relativ bleiben. Mit der Logik solcher Bilder mag es schlecht bestellt sein, aber ihre Psychologie ist machtvoll, weil sie einem tiefen Bedürfnis, der Sehnsucht nach Sinn, Bedeutung und Relevanz entsprechen. Man sieht hier auch, dass Steiner nicht einfach nur eine Erkenntnislehre und Kosmologie präsentiert hat, sondern eine Lebenslehre und einen Lern- und Erziehungsweg. Die Anthroposophie ist pädagogisch durch und durch. Ja, sie entspricht dem kindlichen Bewusstsein auf eine sublime Weise.

Als Kinder erleben wir unsere Umgebung als Agenten und Opfer; wo die Dinge leibhaft nah begegnen, erscheinen sie wie redende, fühlende Wesen. Das ist, wie es Jean Piaget genannt hat, der Egozentrismus des Kindes, nicht im moralischen Sinne, sondern als Form der Welterfassung. Zu den Enttäuschungen im fortgehenden Leben und Lernen gehört, dass diese Nähe falsch ist. Sonne, Mond und Sterne gehen ihren eigenen Gang, die Dinge sind herzlich unbekümmert und indifferent, durch Tränen nicht und nicht durch Zureden zu bewegen, und selbst die anderen Menschen, die bekannten und unbekannten, sind Fremde in ihren eigenen Welten. Wir möchten das nicht wahrhaben, und Steiner lehrt, dass wir das Weltbild des Kindes als Weltanschauung für Erwachsene bewahren können.

Aber kann man als Erwachsener ernsthaft und nicht nur im symbolischen Spiel solche Kindlichkeit wiederherstellen oder aufrechterhalten, ohne kindisch zu werden? Man kann, Steiner hat es vorgemacht. Natürlich geht das nicht direkt, nicht mehr mit den Gebärden alter Wahrsager und im Prophetenmantel, auch nicht mit wallender Künstlermähne, nein, man muss sich als Wissenschaftsmann im Laborkittel präsentieren, aber eben einer anderen Wissenschaft. Dass Steiner alles erlebt und gesehen hat, die nachtodlichen Lebensgänge von Freunden und Bekannten, auch von Goethe und Schiller, soll eben nicht nur seine Sache sein, sondern wissenschaftlich-methodisch gesichert werden, wie es der Zeitstil verlangt. Der abenteuerliche Gedanke einer kosmisch-biographischen Gesamtrechnung, wo jeder Posten bekannt ist, wird nicht als Glaube, sondern als Ergebnis ernster, bescheidener Sachforschung vorgetragen. Jeder kann es lernen, und die Waldorfschule ist die Vorschule zur Einstimmung in die Erkenntnis der höheren Welten und der Einweihung in die übersinnlichen Reiche. Man will nicht nur blind phantasieren, sondern methodisch phantasieren, dass der “ganze Mensch als kleinster Baustein einer Einheit der Welt und gleichzeitig als Abbild kosmischer Gesamtheiten gelten darf”. (8)

Dazu dienen nun die Schulungsschriften, zur Erlangung der “Erkenntnis höherer Welten”, (9) in denen Steiner seine Gedankenspiele allgemein präsentiert hat. Aber es steht seltsam mit diesem Curriculum fürs Okkulte: zuletzt muss man immer auf die Autorität ihres Erfinders vertrauen, “in devotioneller Haltung” und demutsvoll, und auch dann soll der Initiant immer nur soviel erfahren, wie ihm der Meister zutraut und wessen er würdig ist. Eine kuriose Schule, in der man erst versichern muss, recht brav zu sein, ehe man wissen darf. Aber zuletzt hat der Meister dann doch das Beste für sich behalten, nämlich welche Inkarnation er denn nun eigentlich gewesen sei – ein neuer Christus oder Buddha? Ein wiedererstandener Franziskanerspiritual oder nichts von alledem, sondern nur ein belesener Eidetiker mit dem zweiten Gesicht?

Die Anhänger und Glaubenswilligen kann dieser Schleier über dem Mysterium des Dr. Steiner nicht anfechten; im Gegenteil. Nicht wenige haben größere Sympathie mit dem, was sie nicht begreifen, als mit dem Verständlichen, von dem sie wissen, dass es wenig genug ist. In einer Lage, wo keiner weiß, was alle zusammen wissen, und alle zusammen nicht wissen, was noch erforscht und in Zukunft gewusst werden wird, erscheint für viele der Ausweg verlockend, gleich an der Stelle Halt zu machen, wo sie gerade sind und sich damit zu beruhigen, ein anderer habe alles gewusst, gesehen und geschaut.

Der Anfang als Ende und Erfüllung: es gibt keinen besseren Immunschutz gegen die immer neuen Zumutungen, Innovationen und wechselnden Perspektiven, gegen den Dauerstreit um Werte und Positionen und gegen die technischen Folgen eines losgelassenen Wissens. Probleme und Fragen gibt es genug und übergenug; bei Steiner ist Ankunft, Erfüllung und Ende – eben das Weltbild des Kindes als Weltanschauung für Erwachsene. Und es dürfte nicht nur die Gunst der gegenwärtig vielfach bemerkbaren Wende-Stimmung sein, die dem Rezept gegen Wandel, Neuerung, Unsicherheit einen wachsenden Markt verschafft. Sinn wird auch in Zukunft ein knappes Gut bleiben, und solange die falsche Erwartung besteht, man könne Sinn bei Institutionen oder Personen wie vorgefertigt abholen und sich bedienen lassen, dürfen auch die Propheten und die Missionare, die Bhagwans und ebenso die Dornacher Geisterforscher davon ausgehen, dass sie nicht auf ihrem Angebot sitzen bleiben.

Soviel zum Allgemeinen, jetzt zur Anthroposophie als Erziehungslehre.

Die Waldorfschule als Bekenntnisschule

Mit der zweiten These möchte ich zeigen, dass die Waldorfpädagogik den Einstieg in die Anthroposophie darstellt und dass die Waldorfschule eine Bekenntnisschule ist. Das ist aber etwas, was die Anthroposophen bestreiten. Sie stellen ihre Schularbeit als selbstlosen Dienst hin und weisen es weit von sich, dass sie ihren Nachwuchs über schulische Bildung rekrutieren. Anthroposophie werde nicht “gelehrt”. Das mag richtig sein, insoweit nämlich, als Anthroposophie überhaupt nicht gelehrt wird wie der Satz des Pythagoras oder die Hauptsätze der Thermodynamik. Sie wird eingeübt und der Schüler soll mitgehen und eintauchen, er soll die Grundbewegung und die Optik miterlebend nachvollziehen; das gilt für die höhere Schulung, und es gilt für die Vorschule der Anthroposophie, die Waldorfschule. Steiner hat das auch klar gesagt: Wer die Waldorfschule kennen lernen und verstehen wolle, der solle nicht hospitieren, um sich mal einen Eindruck zu verschaffen, das sei naiv; er würde das Eigentliche gar nicht bemerken. Das könne er erst, wenn er Anthroposophie gelernt und studiert habe. Darin ist Steiner beizupflichten; man muss den anthroposophischen Blick wenigstens probeweise übernehmen, sonst versteht man gar nicht, wie das gemeint ist, was man da zu sehen bekommt. Das gilt für die Waldorfschule, das gilt im Übrigen auch sonst für Hospitationen. Daraus folgt aber nicht, dass man nicht kritisch und distanziert beobachten könne und nur versteht, was einem von Herzen zusagt.

Was ist nun das Besondere des Waldorfunterrichts? Jeder Unterricht, egal ob in der Waldorfschule oder sonst, hat es mit drei Momenten zu tun. Es gibt immer etwas, was gelernt werden soll, das Thema, es gibt den oder die Lernenden und den Lehrer, der zwischen dem Thema und dem Schüler vermittelt. Man hat das auch das didaktische Dreieck genannt. Egal, ob ich jemandem beibringe, wie er ein Auto fährt oder Horaz übersetzt, wie man Gleichungen mit zwei Unbekannten löst oder wie man höhere Welten erkennt, immer geht es um das dreiseitige Verhältnis zwischen Lernthema, Schüler und Lehrer. Das Entscheidende ist, wie diese drei Momente jeweils aufeinander bezogen werden, wie sie relationiert werden. Wenn ich die Bergpredigt als göttliche Weisung behandle, bin ich Pastor und verkündige, die Schüler werden zu Hörern des Worts; betrachte ich die Bergpredigt als literarischen Text einer bestimmten Zeit und Autorenschaft, dann bin ich Lehrer im sokratischen Sinne, einer der klar macht und einordnet, und es dem Schüler überlässt, was er nimmt und daraus macht; und betrachte ich die Bergpredigt wie Franz Alt als Rezept zur Lösung der Weltfriedensfrage, dann präsentiere ich mich als Ratgeber für Klienten, die ein bisher ungelöstes, aber lösbares Problem haben.

In allen drei Varianten richtet sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis einerseits nach dem Verständnis des Themas; aber auch das Thema (der so genannte Lehrstoff) erscheint andererseits so, wie er präsentiert wird, das heißt: je nachdem, ob sich der Lehrende als Sprachrohr ewiger Wahrheiten oder als Informator über Sachverhalte oder als beratender Trainer für Lebensprobleme versteht und inszeniert. Wie bringt also der Waldorfunterricht Thema, Lehrer und Schüler zusammen? Wie werden die didaktischen Grundgrößen relationiert? Ich gehe von dem Thema aus. Anders als viele meinen, hat die Waldorfschule wie üblicherweise alle Schulen ein Curriculum, d. h. einen festen Themen- und Lehrplan mit wohldefinierten Fächern und spezifischen Themen in den Fächern. (10) Der alles entscheidende Punkt ist nun, wie die Themen eingeführt werden, weil dadurch eben auch bestimmt wird, ob wir es im Unterricht mit dem Verhältnis von Lehrer und Schüler wie bei Sokrates zu tun haben, oder um das Verhältnis von Meister und Jünger wie in einem Noviziat. Das Besondere der Waldorfschule ist, dass sie entschieden und einseitig das Weltbild und Menschenbild der Anthroposophie über den Sach- und Fachunterricht transportiert. Aber sie tut das nicht direkt, so dass man prüfen und wählen kann, sondern indirekt, sie tut es nicht ausdrücklich und offen, sondern gewissermaßen subversiv über die Methode des Unterrichts. Es ist die Methode der Ausbildung von Bildern, das Hineinbilden in das Weltbild der Anthroposophie, in ihren Grundgestus und ihre Haltung devotioneller Stimmungen. Steiner hat sich dazu auch ganz klar ausgesprochen. Wir müssen, sagt er, die späteren Gedanken und Urteile durch Bilder vorbereiten, er sagt dazu auch: “infiltrieren”. Es kommt für das Kind im Schulalter, also zwischen dem sechsten Lebensjahr und der Pubertät nicht darauf an, alles zu begreifen und begrifflich zu erfassen, sondern es muss mit Bildern ergriffen werden, die es übernimmt, weil es dem Lehrer glaubt. Wenn also z. B. die Raupe behandelt wird, dann geht es nicht allein um die Raupe, sondern in dem Bild, wie die Raupe aus dem Kokon herausschlüpft, gibt man ein Bild dafür, wie die Seele aus dem Körper entweicht und dann weiterlebt. (11) Das ist aber nicht nur ein Bild, das auch anders sein könnte, nicht nur ein beliebiges Gleichnis, sondern das ist wirklich so – natürlich nur für einen Anthroposophen. Und dem Kind soll nicht etwas suggeriert werden, was der Lehrer besser und anders weiß, sondern auch der Lehrer weiß, dass in der Raupe ein Analogon der Unsterblichkeit vorliegt; denn wir wissen ja schon: Alles Endliche, was wir sehen, ist eine Parallelaktion zu einem Unendlichen und Ewigen, das wir noch nicht sehen.

Die Grundform des Unterrichts in der Waldorfschule ist deshalb das “Charakterisieren”, das schärft Steiner immer wieder ein. Charakterisieren ist Darstellung einer Sache unter wertenden Gesichtspunkten. Es wird charakterisierend erzählt, und was erzählt wird, wird nachvollzogen, miterlebt, gestaltet und in Darstellung umgesetzt, sei es leibhaft-rhythmisch in der Eurhythmie, sei es im gestaltenden Malen oder Schnitzen oder Plastizieren. Man muss Bilder geben und Bilder erzeugen, nicht Begriffe und Urteile; denn Bilder motivieren, führen zusammen, sie geben Einheit, weil Bilder ein Ganzes sind, sinnlich erfahrbar und seelisch erlebbar. Später dann sind die Bilder Grundlage und Fundus der Gedanken und Urteile, aber zuerst bedarf es gleichsam einer Auffüllung mit inhaltlich und moralisch gehaltvollen Anschauungsbildern. Ich will auf diesen Punkt besonders eingehen. Er enthält eine wichtige Einsicht und erklärt die relativen Erfolge der Waldorfschule. Er enthält aber auch eine gefährliche Nuance. Davon gleich. Dass Bilder und auch Scheinbilder, sozusagen semantische und syntaktische Metaphern, motivieren, kann man sich leicht klarmachen. Wenn wir uns für allgemeine Zwecke begeistern oder begeistert werden sollen, dann können wir rufen: “Hoch lebe Kaiser Wilhelm!” oder im Fußball etwa: “Deutschland vor!” oder auch: “Rettet das Vaterland!”; wir würden es aber als ganz unnatürlich und ziemlich wirkungslos empfinden, wenn uns zugerufen würde: “Hoch lebe das kommunikative Apriori des herrschaftsfreien Diskurses” oder “Kämpft für die pluralistische, im Grundgesetz durch Konsens formulierte Gesellschaft nach den Regeln des demokratischen Verfassungsstaates”. Das sind rationale Nachträge und Erläuterungen, nicht Motive. Man schwört auf die Bibel oder eine Fahne, nicht auf Theoreme. Bilder motivieren, nicht Argumente, und wenn Argumente motivieren und etwas bewegen sollen, muss man sie in schlagkräftige Slogans und Bildkürzel umwandeln: “Nieder mit den Kapitalisten!” oder “Schlesien ist unser!” Die Frage ist, welche Bilder sollen gelten und wie soll man sich zu ihnen stellen? Das lässt sich unterschiedlich beantworten, und ich will das noch einmal vergleichend verdeutlichen, indem ich auf eine Quelle eingehe, die sowohl Steiner wie Freud benutzt haben. Beide sind schon in ihrer Schulzeit mit der Psychologie Johann Friedrich Herbarts bekannt geworden. Das lag an dem österreichischen Schulsystem und dem Lehrplan der Zeit. (12) Herbart hat eine Lehre von den Vorstellungen aufgestellt, die die Grundlage seiner Pädagogik ist. Der Kerngedanke ist: wir können uns nicht nichts vorstellen. Ich sage jetzt das Wort “Hund” oder “Baum”, und Sie haben ein Vorstellungsbild. Das nehme ich wenigstens an. Und wo ein Vorstellungsbild ist – Herbart sagt: wo Schein ist, denn das Bild ist ja nicht die Wirklichkeit –, da muss auch Sein gegeben sein. “Wieviel Schein soviel Hindeutung auf das Sein”, heißt es bei Herbart. (13) So wie es eine Fotografie von einem Menschen nur gibt, wenn es den Menschen gibt, so kann es Bilder nur mit einem Grund geben, dem Sein. Man kann auch volkstümlich sagen: Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein. Fragt sich nur, welches Feuer – nämlich ein wirkliches oder nur ein eingebildetes Feuer. Das ist der entscheidende Punkt, wo Steiner und Freud auseinandergehen. Man kann den Bildern nicht einfach trauen; sie enthalten auch unerklärte, verworrene, destruktive Motive. Freud hat deshalb auch die Wahnbilder und Trugbilder untersucht und aufzulösen gesucht, die Verschiebungen und Verdeckungen, um ihrem Bann zu entgehen, Steiner bestärkt ihren Bann und führt so in sie ein, dass man ihnen nicht mehr entrinnen kann.

Dazu ein Beispiel ohne jeden Nimbus und weihevolles Tabu. Wir alle kennen die Rede vom Weihnachtsmann. Ich unterstelle einmal, dass es Weihnachtsmänner nicht gibt, aber es gibt das Bild des Weihnachtsmanns, und es ist für Kinder höchst wirkungsvoll, eingebunden in Geschichten, Träume und Erwartungen, nicht eigentlich wirklich, aber eben doch wirksam. Im Übrigen für manche Eltern auch pädagogisch praktisch; man kann damit drohen und locken, solange das Kind an den Weihnachtsmann glaubt, und man nimmt dem kleinen Kind auch etwas, wenn man die Weihnachtsmannfiktion nicht anbietet, weil es ihn ja nicht gibt, so wie man ihm etwas nimmt, wenn man ihm keine Märchen als Identifikationsobjekte anbietet, weil Märchen nur Märchen sind. Dann lernt das Kind aber, dass es Weihnachtsmänner nicht gibt, das Bild verliert seine Kraft, es motiviert nicht mehr direkt. Das ist Verlust und Gewinn, Verlust einer wohltätigen Illusion und Gewinn an Realitätssinn.

Die Pädagogik der Waldorfschule ist, mit Verlaub, eine Weihnachtsmannpädagogik. Sie führt ein in die Bilderwelt, als ob sie unmittelbar wahr seien, sozusagen Fotografien des Absoluten. Es wird wie in Steiners Erkenntnislehre laufend von der Wirklichkeit des Vorstellens auf die Wirklichkeit des Vorgestellten geschlossen. Das ist die Logik des eingebildeten Kranken, der zwar seine Schmerzen hat und unter Leidensdruck steht, aber nachprüfbar eben doch nicht krank ist. Um die Realität der Bilder tief einzuprägen, verfährt die Waldorfpädagogik ausdrücklich charakterisierend, bietet Bilder, vermeidet ihre Erklärung, das würde ihren Bann aufheben, und dazu braucht sie, wie jeder weiß, der erzählt und charakterisiert, auch eine spezifische Autorität des Lehrers, die so genannte geliebte Autorität; in Wahrheit, so wird es auch gesagt, ist es eine weihepriesterliche Stellung und Selbstauffassung des Lehrers, nicht das sokratische Vorbild des Gesprächsführers, sondern das religiöse Vorbild des Seelenführers. Aus diesem didaktischen Grundverhältnis ergibt sich alles Weitere: die Organisation der Schule, die Verachtung prozeduraler Sicherheiten und Revisionsmöglichkeiten, die tief gelagerte Verhaltenssicherheit, das Einlehrerprinzip, um die Einheitswirkung der Bilder und einer bestimmten Bilderreihe zu garantieren, daraus ergibt sich auch die Form der Zeugnisgebung.

Der Lehrer unterrichtet nicht nur und prüft, was gelernt ist, sondern er erfasst das Kind wesensmäßig und gibt ihm das Bild zurück, das er von ihm hat. So wie der Unterricht in Hinsicht auf die Themen und Stoffe charakterisierend verfährt, um Motivdepots zu installieren, so verfährt der Lehrer in Hinsicht auf das Kind, indem er ihm z. B. im Zeugnisspruch ein Wesen zuspricht, indem er sagt, wie es lernt, wie es teilnimmt, wie es einschwingt in Bezüge und wie es die Geschichten aufnimmt, die es zu hören hat. Das Kind wird nicht daran gemessen, wie es definierten Standards der Aneignung eines Lehrgutes entspricht, sondern wie es dem Lehrer entspricht und dem, wofür er einsteht. Das Waldorfzeugnis ist eine erweiterte und spezifizierte Form der Beurteilung des Verhaltens und des Betragens, der Beteiligung am Unterricht und der Form, wie der Lernende sich auf den Unterricht einlässt. Er wird am Lehrer gemessen, nicht daran, ob er Geometrie oder Geschichte erkennbar gelernt hat. Die neuere Forschung zur sozialen Interaktion hat gezeigt, wie solche Zuschreibungen oder Etikettierungen stabilisiert werden können, z. B. über Ritualisierung, über den Ausschluss alternativer Orientierungen, über die Androhung und Anwendung von Sanktionen. Aus Zuschreibungen, aus der Art, wie jemand gesehen und behandelt wird, werden Eigenschaften, die er sich selbst zurechnet. Er wird so, wie er gesehen wird, und so soll er ja auch werden. Und das umso mehr, als ja das Widerlager einer Kompetenz fehlt, die unabhängig von der persönlichen Beziehung zum Lehrer begründet ist.

In der Kritik an der gängigen Zensurengebung wird zu Recht vorgetragen, dass in die Zensur ein Übermaß an persönlicher Meinung, an Sympathie oder Antipathie eingeht; es gibt nicht genug Sicherungen gegen das subjektive Urteil und deshalb muss man sich bemühen, die Zensur auf das Prüfbare zu beschränken und Formen der objektiveren Beurteilung zu finden. Die Waldorfschule verfährt von vornherein subjektiv und spricht dem Lehrer in seiner weihepriesterlichen Stellung als Seelenführer von vornherein die Aufgabe und Fähigkeit zu, das Wesen des Kindes zu erfassen und formulieren zu können. Sie ist der üblichen Zensurengebung nicht überlegen und voraus; sie hat vielmehr einen Modus der Personenbeschreibung und charakterlichen Würdigung festgehalten, der vormodern ist; die Zensurengebung und Zeugnisgebung ist überschwänglich; so musste man sich in der Feudalzeit das Empfehlungsschreiben einer Reputationsgröße verschaffen.

Ich fasse diesen Punkt so zusammen: Die Pädagogik der Waldorfschule beruht auf der Technik der Indoktrination. Sie besteht darin, Lerninhalte, Verhalten und Gesinnungen fest zu verkoppeln. Sie wird gestützt durch Gewissheiten, die gläubig und Glauben fordernd vorgetragen werden; Gewissheiten, die einzig und allein auf der Annahme beruhen, der “Doktor” habe als Fotograf des Übersinnlichen etwas festgehalten, was die blinden Sinnenwesen irgendwann auch einmal sehen werden. Es gibt keine andere Pädagogik, die mit solcher Einseitigkeit auf die Behauptungen eines Einzelnen gestellt sind, darunter solche von höchster Bedenklichkeit, die im Herrschaftston überweltlicher Weisheit und Einsicht verkündet werden. Als Beleg und zur Illustration nur dieses Beispiel: Warum sind einige Menschen nicht “weiß”, wie die meisten Europäer, sondern dunkel bis schwarz? Die wissenschaftliche Antwort wird üblicherweise in der Physischen Anthropologie gesucht. Dr. Steiner jedoch weiß es besser und tiefer. Dass jemand dunkel auf die Welt kommt, liegt daran, dass er in seinem vorherigen Leben ein “dunkles”, verderbliches Leben geführt hat. (14) Mehr noch: Er könne jetzt schon bei einigen Zeitgenossen voraussagen, dass sie in der nächstfälligen Inkarnation als Schwarze auf die Welt kämen, zur Strafe für ihre Schandtaten. Das ist die feine anthroposophische Art des Rassismus. Ebenso werden Krankheiten, Missbildungen, Geistesstörungen als Ergebnis früherer moralischer Verfehlungen gedeutet.

Die Zukunft einer Illusionierung

Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt, der sich kurz abhandeln lässt. Es ist nach allem klar, dass die Aufklärer und Kant, dass die furchtlosen Kritiker des Aberglaubens, die z. B. gegen den Wahnsinn der Verfolgungen und Gesinnungsschnüffelei Front gemacht haben, für die Waldorfpädagogik umsonst gelebt haben. Der Geist der Prüfung und offenen Erörterung, der Kritik und Selbstkritik ist nicht der Geist des Dr. Steiner und seiner Anhänger, auch nicht der Geist der Differenzierung und der weitergehenden Forschung. Das aber ist der Geist der Demokratie und einer “offenen Gesellschaft” (Karl Popper), um es kurz zu sagen. Er beruht nicht auf Offenbarungen und ewigen Ordnungen, sondern er rechnet mit der Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit eines jeden, so dass auch keiner ein für allemal das letzte Wort haben und kein Amt unwiderruflich und auf unbeschränkte Dauer vergeben werden darf. Wir handeln unter Bedingungen der Ungewissheit und Unsicherheit. Deshalb müssen wir uns vorher beraten und uns hinterher prüfen lassen, um uns korrigieren zu können.

Doch diese prinzipiell unaufhebbare Vorläufigkeit in allen Dingen, die unseren gemeinschaftlichen Umgang betreffen, erscheint vielen als unbefriedigend und als Störung ihres Wunsches, ihr Leben unter Kontrolle zu haben. Sie erscheint aber vor allem dann als unliebsame Blockade, wenn man andere regieren und über sie herrschen will. Das erste betrifft Steiners Gefolgschaft, das zweite ihn selbst. Diejenigen, die nach letzter Sicherheit und Gewissheit streben, bringen die Chancen des Urteils und eigener Prüfung als Morgengabe ihrer Unterwerfung unter das Diktat derer, die diese Unsicherheit ausbeuten und im Namen des Dienstes, der Liebe und der huldreichen Zuwendung ihre Herrschaft aufrichten. Es verhält sich hier wie mit der tief verdächtigen Selbstbeschreibung der Papstautorität als servus servorum: Die gesteigerte Dienstfertigkeit ist die Maske des Unterwerfungsanspruchs. Man sollte meinen, dass das letzte Jahrhundert genug Machtmissbrauch, regellose Herrschaft und blanke Gewalt im Namen des wahren Fortschritts, der Freiheit und des allgemeinen Menschenglücks erlebt hat, als dass es noch erlaubt wäre, auf totale Antworten und letzte Lösungen zu setzen.

Das Problem heißt aber nicht Rudolf Steiner. Seine physikalischen, historischen, psychologischen Ansichten werden in der Wissenschaft nicht beachtet; das Problem ist die Folge- und Unterwerfungsbereitschaft derer, die im Namen von Wissenschaft ihre Aufhebung wollen und faktisch betreiben. Die Nutznießer sind die Gurus und Seelenführer, die Agenten des Okkultismus und – um dies mit aller Deutlichkeit zu sagen – auch diejenigen Pädagogen, die glauben, den Kindern zu helfen, das Leben zu bestehen, indem sie ihnen eine Welt präsentieren, die nur in ihrer Phantasie besteht. Der Lehrer bleibt in der Waldorfwelt, aber die Kinder und die Schüler müssen sie verlassen und haben in vielen Fällen schwer daran zu leiden, es sei denn, dass sie als Lehrer in den sicheren Hafen der Waldorfwelt zurückkehren.

Dennoch bleibt das Problem bestehen, mit dem ich begonnen habe: Wir finden uns nur schwer in einer sich wandelnden Welt zurecht, die keine bleibenden Sinnangebote bietet und dem Einzelnen zumutet, seine individuelle Gleichung von Fall zu Fall selber zu finden. Doch eben damit müssen wir wohl oder übel zurechtkommen und sei es mit dem Zwinkern der Auguren, an das die Bohr-Anekdote erinnern sollte. Es mag noch andere Formen der Kontingenzbewältigung geben, aber eines scheint mir sicher: Dr. Steiner und die Seinen haben dafür keine vertretbare Antwort.

Zum Autor: Prof. em. Dr. Klaus Prange, Jahrgang 1939, Emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Pädagogische Anthropologie als Anthropologie des Lernens und die Pädagogische Ethik.

Kontakt zu Klaus Prange: via Stefan Laurin, stefan.laurin(at)ruhrbarone.de

Zum Text: erschienen in „Mission Klassenzimmer. Zum Einfluss von Religion und Esoterik auf Bildung und Erziehung“, Alibri Verlag, Aschaffenburg, 2005, ISBN 3-932710-78-9

Fußnoten:

[1]              Vgl. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M. 1986.

[2]              Vgl. Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. München 1985.

[3]              Vgl. Prange, Klaus: Erziehung zur Anthroposophie, Bad Heilbrunn 32000.

[4]              Freud, Sigmund: Die Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917), in: Gesammelte Werke, Bd. 12, London 1947.

[5]              Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang [1923-1925]. Dornach 1962. (Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 28)

[6]              Becker, Kurt E.: Im Mittelpunkt: der Mensch, in: Rudolf Steiner: Ausgewählte Werke, Bd. 10. Hrsg. von K. E. Becker und H.-P. Schreiner, Frankfurt a.M. 1985, S. 17.

[7]              Ebd., S. 18.

[8]              Becker, Kurt E.: Im Mittelpunkt: der Mensch, S. 17.

[9]              Vgl. Steiner, Rudolf: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904), in: Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 10, Dornach 1975.

[10]              Vgl. Brügge, Peter: Die Anthroposophen. Hamburg 1984, S. 96.

[11]              Vgl. Steiner, Rudolf: Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches [1919], in: Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 15, Dornach 1932.

[12]              Vgl. Prange, Klaus: Fermenta cognitionis – Zur Herbart-Rezeption in Kakanien, in: “Knaben müssen gewagt werden” – Johann Friedrich Herbart gestern und heute. Hrsg. von K. Klattenhoff, Oldenburg 1997.

[13]              Herbart, Johann Friedrich: Hauptpunkte der Metaphysik [1806], in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Aalen 1964, S. 187.

[14]              So nachzulesen in den “Konferenzgesprächen” (Bd. 300 c der Gesamtausgabe, Dornach 1975, S. 71).

Literatur

Becker, Kurt E.: Im Mittelpunkt: der Mensch, in: Rudolf Steiner: Ausgewählte Werke (10 Bände), Bd. 10, hrsg. von K. E. Becker und H.-P. Schreiner. Frankfurt 1985.

Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt 1986.

Brügge, Peter: Die Anthroposophen. Hamburg 1984.

Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917], in: Gesammelte Werke, Bd. 12, London 1947.

Herbart, Johann Friedrich: Hauptpunkte der Metaphysik [1806], in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Aalen 1964.

Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. München 1985.

Prange, Klaus: Erziehung zur Anthroposophie. Darstellung und Kritik der Waldorfpädagogik. Bad Heilbrunn 32000.

Prange, Klaus: Fermenta cognitionis – Zur Herbart-Rezeption in Kakanien, in: “Knaben müssen gewagt werden” – Johann Friedrich Herbart gestern und heute, hrsg. von K. Klattenhoff, Oldenburg 1997.

Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang [1923-1925], Steiner-Gesamtausgabe (= GA), Bd. 28, Dornach 1962.

Steiner, Rudolf: Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches. Ein Vortragskurs bei der Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919, in: GA, Bd. 15, Dornach 1932.

Steiner, Rudolf: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? [1904], in: GA, Bd. 10, Dornach 1975.

Foto: Uni Oldenburg