3 FÜR 7 – Konzert-Special

Deutschsprachige Lieder, Abteilung Pop und Rock, eher so alternativ. Das sind grundsätzlich Bands, die mit recht gewöhnlichen Strukturen arbeiten, meistens etwa so: Ich sing Dir was vor nem ausgesuchten Hintergrund von Referenzen an andere Bands, gewisse Stilistiken, Haltungen. Manchmal docken die Musizierenden sich direkt an auswärtige Vorbilder an und „übersetzen“ dann Trends für Verhältnisse in Dehrendorf, St. Pauli oder Marzahn, ungeachtet der Tatsache, dass z.B. Horst Köhler nicht ganz Elisabeth II. von England ist. Gottseidank nicht in England? Heute: Fehlfarben, Die Sterne, School Of Zuversicht.

Der Autor dieser Zeilen mochte Peter Heins Texte ja lieber, als dieser noch nicht bei Rank Xerox gefeuert worden war. Jedenfalls ging’s da bei den Fehlfarben wie auch bei Family 5 und auch sonst immer rappzapp an englische Trends ran, ob Orange Juice oder Dexys Midnight Runners. Voll Düsseldorf also irgendwie. Mittlerweile hat man’s auch nicht leichter als „Dick Bauchpunk aus England“ (zitiert nach Blumen Am Arsch Der Hölle) und gibt das moppernde Denkmal zum Buch, zur Tour, zur Platte. Und alle singen „Das war vor Jahren“ dazu, genau. Coca Cola Sonne oder sonst ne Sonne, wer weiß das schon so genau, usw.usf. Zu Post-Punk Zeiten eigentlich schon besser, da frischer und weniger piefig: Der Plan (NRW) und Palais Schaumburg bzw. Holger Hiller (HH).

Hamburg? Da rottete sich so rund um ’89 auch plötzlich alles wie in einem Musiker-AZ („AZ“ – guter deutscher Humor, oder was?) zusammen, wo vorher eigentlich nur Die Goldenen Zitronen und Rocko Schamoni waren. Herausragend: Frank Spilker (auf dem Pressefoto mal nicht ganz oben). Und gut auch, dass der Bandname Die Sterne unfassbarerweise noch frei war, das verpflichtete anscheinend zu vielen Jahren guter Musik (mit vielleicht zwei etwas schwächeren Alben). Soweit zu Die Sterne, zu denen ja meist weder mitgegröhlt noch mitgetanzt wird. Bessere Bands aus der Schule von ’89? Hm, vielleicht einfach mal Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs in die Erinnerung zurückdroppen, aber mehr nur so. Natürlich ist Mutter die beste.

School Of Zuversicht macht da schon etwas weniger Lied und auch weniger Band, gesungen wird nicht auf deutsch, eher wird so ein bisschen Künstler/innenkollektiv und Internationalität statt innerdeutscher (Nicht-)Diskurs avisiert. Support: Festland, die auch am 15. im Essener Goldclub spielen. Bei beiden ist jedenfalls mehr von der sogenannten Innerlichkeit rauszuhören als bei den Bands oben und es geht auch etwas mehr in Richtung Installation als in Richtung Rockpose. Und ja, es gibt kaum neue Bands oder sonstige Musikproduzierende mit nicht vereinnahmbarem Ansatz heutzutage. So, Düsseldorf, Hamburg, Ruhrgebiet; Deutschlandmusikzeitreise beendet – interessieren Sie sich doch bitte jetzt mal für etwas anderes und fühlen sich von dieser Rubrik nicht weiter von Wichtigerem abgehalten. Danke!

School Of Zuversicht am Donnerstag im djäzz,
Fehlfarben am Mittwoch und
Die Sterne am Samstag im zakk.

3 FÜR 7 – Spektakel-Special

Das waren noch Zeiten, als Guy Debord „Die Gesellschaft des Spektakels“ geschrieben hat! Die Massenmedien waren noch jung, hatten aber schon ihre Weltkriege hinter sich; es gab „Glotzen“ statt „Interaktivität“, es gab Leserbriefe statt einem Strauß eigener Webseiten für uns alle. 1967 war das, und im selben Jahr vereinten sich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit der Europäischen Währungsgemeinschaft zur EG. Und nun, 43 Jahre später, dies: Kulturhauptstadt Europas Ruhrgebiet! Spektakulär, nicht wahr? Die Themen: Star Wars in Concert, Metropole Ruhr Metal-Festival, Peer Gynt im Grillo.

Science Fiction, äh: Faszination Zukunft. In Büchern oft eher technologie- und systemkritisch gehalten, mutieren die Geschichten via Hollywood, Babelsberg & Co. gern zu Märchen, Psychothrillern oder Kriegs-Sagas. Okay, Perry Rhodan kritisch? Kaum. „1984“ und „Fahrenheit 451“ als Filme? Sicher sehr in Ordnung. Aber meist? „Johnny Mnemonic“? Pff! Emmerich? Ich bitte Sie! Gern umstritten: „Solaris“, welche Version auch immer. Aber wie schrieb Walter Benjamin: „So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die ungleich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade aufgrund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.“ Eine sicherlich diskutierenswerte Haltung, nicht erst heutzutage. Und jetzt also George Lucas, der Stars Wars mal neu zusammengeschnippelt hat, plus live das Royal Philharmonic Concert Orchestra samt Chor (Foto: Handwerker Promotion). Unter dem Banner von König Pilsener. Extravaganter Hypertrash oder große Popkultur? Wie sagte Diedrichsen letztens: Für die Amis ist sowas Pop.

Und was ist für den Ruhrie Pop? (haha) Metal zum Beispiel, nach landläufiger Meinung. Und auch für diese ach so bodenständigen Kreuzritter der Authentizität (denen man ja eher nur nicht „mädchenhaftes“ Popgehabe vorwerfen darf), gibt es jetzt spätestens – tusch! – die „Metropole Ruhr“. „Wie geil ist das denn, bitte?!“, um es einmal mit Trashpop-Chefideologe Dieter Bohlen zu sagen. Auch Oberhausen. Wieder Vollspektakel. Brauchen die ärmsten Städte eigentlich zwingend die dicksten Spektakel?

Nein, denn Essen hat sich ja als Hauptnamensgeber für die Kulturhauptstadt schwer Richtung Sonne geschoben, und da reicht dann auch einmal Roger Vontobels Version von „Peer Gynt“. Ibsen hier auch eher im Single-Remix, sozusagen, also kurz – aber wer sagt denn, dass Spektakel großformatigst, zeitintensiv und mit Macht überbordend sein müssen? Genau, seit vielen Jahren nur noch die, die sich von den vielen kleinen Alltags-Spektakeln absetzen wollen. Das Prinzip aber ist jeweils dasselbe – Sie baden gerade Ihre Hände darin.

„Star Wars in Concert“ am Mittwoch.
„Metropole Ruhr“ am Sonntag.
„Peer Gynt“ am Sonntag für zehn Euro.

3 FÜR 7 – Drei Veranstaltungen der Woche

Gestern die ganz große Kulturlobby samt Deutscher Kulturrat in der Essener Philharmonie, heute „Gesprächskreis“ rund um das Dortmunder FZW: Über beides später mehr. Einstweilen: „Lady Windermeres Fächer“, „Unsere Stadt braucht Lieder!“, „Der Innere Innenminister“.

Bitte aufzeigen: Wer kennt Oscar Wilde nicht? Grummel. Na gut, wollen wir mal glauben. Der Abgebildete und sein „Lady Windermeres Fächer“ wurden jedenfalls mal von Ernst Lubitsch verfilmt – ohne Ton, es war im frühen 20. Jahrhundert. Die Essener Philharmoniker unter Leitung von Helmut Imig nutzen diese Steilvorlage morgen – nein, nicht im „schönsten Museum der Welt“ – in einem gut erhaltenen Lichtspielhaus an der Kettwiger Straße, um die Bilder mit Rachmaninov, Wagner, Ries und anderen antiken Klassikern … nun, zu untermalen, aber mit kräftigem Strich. Warum der „Filmspiegel“ erwähnt, dass die oberen Zehntausend von heute nicht mehr wie die oberen Zehntausend von damals sind, und dass der Film wie ein „Rührstück“ wirke? Warum er erwähnen zu müssen meint, dass die „weitgehend illustrative Musik“ von Imig „verständliche“ Töne (Anführungszeichen so im Original) anschlage? Ach,…

Irgendwann traf der Autor dieser Zeilen vor dem Proberaum der Familie Staub ebenjene. Kurz zuvor hatte dieses von gegenseitiger Höflichkeit geprägte Interview stattgefunden. Und so verhält man sich untereinander, Sänger Florian Streier ist ein durchaus dem, was er für das Schöne, Gute, Wahre hält, verpflichteter Künstler. Jedenfalls kam das Thema auf, ob der Autor dieser Zeilen mit seinem DJ-Duo-Kollegen aus u.a. Radio Gruga Zeiten nicht Teil nehmen wolle an „Unsere Stadt braucht Lieder!“. Und er lehnte höflich ab, da ihm das wiederum nicht zu Image, Ansatz und Spaßverständnis dieser anderen (kleinen) Künstlergruppe zu passen schien. Er fügte aber hinzu, dass er sich persönlich schon gut vorstellen könnte, im Sinne der am ersten von drei Festivalabenden auftretenden Künstler/innen um die Auftritte herum auflegen zu können. Letztlich sei ihm aber „Neue Songs der Metropole Ruhr“ als Untertitel dann doch viel zu überdick aufgetragen und er höre sanftes Songwriting wenndann eher privat, als das im Grend von Konserve zu spielen (wenn grad niemand zuhört). So war das. Desiree Klaeukens und Stadtlichter sind die Namen der anderen live musizierend Teilnehmenden.

Wenn Bernadette „La“ Hengst mal wieder im Ruhrgebiet ist und nicht gerade 3-Stunden-Konzerte im Druckluft absolviert, dann geht es meist um Theater. Nach der Eichbaumoper ist auch diesmal der Ringlokschuppen (Einblicke in dieses Etablissement hier) an diesem Gastspiel viel mehr als nicht ganz unbeteiligt, und es geht wohl darum, wie sich in Deutschland Politik(er) in aber auch jedes kleinste bisschen an Leben einmischen meinen zu müssen, und dies in Gestalt eines SuperInnenZukunftsMinisters. Der Autor dieser Zeilen kann diese spezielle Art der Politisierung derzeit gut nachempfinden, es sind ja (immer) bald Wahlen, es ist „Dauernotstand“, Krisenkrisenkrise, mal wie in der DDR und dann wieder Turbokapitalismus, die Pfandflaschen könnten mal raus und er „muss“ ja gleich auch noch zu Kulturetatdebatten zwischen Jugendamt und Nachwuchs-Unterhaltungsindustrie nach Dortmund.

„Lady Windermeres Fächer“ am Mittwoch.
„Unsere Stadt braucht Lieder!“ erstmals am Freitag.
„Der Innere Innenminister“ auch erstmals am Freitag.

5 FÜR 7 – Kultur und Co an der Ruhr

folkwang_kirchnerZehn Wochen Kulturhauptstadt: Ein Zwischenstand. (Denn wer hat schon 100 Tage Ruhe heutzutage?) Beim Zwischenresümee zum Milchkaffee auf der Rüttenscheider hieß es gerade etwa wie folgt: Nach Außen innerhalb Deutschlands sieht’s PR-mäßig doch ganz gut aus: Erst die Eröffnung und der Charteinstieg, dann Ruhrmuseum und Folkwang, dann Odyssee Europa – alles ging groß durch die Feuilletons.
Jetzt: NRW-Wahlen als Nonplusultra für ungezählte Reichstagskarrieren anscheinend. Auch fein. RAG macht Ökostrom, Schalke und Dortmund stehen gut da wie lange nicht mehr, die Ruhrbarone auch, Debatten hier setzen Akzente und labern nicht mehr einfach nur hinterher. Wie und wo gekürzt und kooperiert werden muss in den Kommunen, selbst das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Daher zur Feier des Tages gleich mal fünf Themen: Local Heroes Recklinghausen, DAF & No More, Folkwang, Hinterhaus, 2. Klavierfestival Oberhausen.

Diese Woche ist Recklinghausen dran im Rahmen von Local Heroes – eine dieser 120.000-Einwohner-Städte hier in der Gegend, die endlich mal wieder ihre 15 Minuten bekommen. DAF und No More hatten die ihren in den 80ern, und das ist ja schon so lange her, dass mittlerweile locker beobachtet werden darf: Meine Güte, haben die geklaut bzw. ging das schnell damals für NewWave-Trendsurfer von Düsseldorf nach London und so! Ein bisschen Suicide, ein ganzes Ende Cabaret Voltaire, Andocken an den Mute Records Maschinenpark, Hitler & Homoerotik, Koks & Uniform und ab dafür. No More waren da irgendwie näher am hiesigen Electro Marke Eigenbau, aber irgendwie mussten sich ja dann irgendwie alle in die Schubladen EBM oder Pop, Goth oder Disco, Techno oder Schlager einsortieren lassen. Schön dass die zusammen auftreten und mal wieder die Muckis zeigen wollen.

Erste Sonderausstellung in Folkwangworld: „Das schönste Museum der Welt“ wurde es mal genannt, und das soll nun rekapituliert werden mit Ausstellungsstücken aus den Goldenen Zwanzigern etc. (Das Foto von Jens Nober zeigt „Tanzpaar“ von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1914). Der Autor dieser Zeilen freut sich auf kommende, stringentere Konzepte (nicht das mit Elvis!), versteht aber, dass sich erstmal volksnah gegeben wird bei gleichzeitiger Selbstbeweihräucherung. So san’s halt, die alten Kulturadelsleut! Wem das zu überkandidelt ist, kann gern zur ersten Ausstellung im Hinterhaus, Interview hier.

Klavierfreuden nicht als Chillout oder Romantikaccessoire sondern in aller Öffentlichkeit im Rahmen eines klein-feinen Festivals? Dann ist diese Woche vielleicht Oberhausen (erst recht) auf der Karte.

Recklinghausen zeigt sich noch bis Samstag als Local Hero.
DAF und No More on stage am Donnerstag.
Das Hinterhaus ist hier.
„Das schönste Museum der Welt“ wird ab Samstag bestaunt.
Das „2. Oberhausener Festival rund ums Klavier“ ist am Sonntag.

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Gedanken zur Philharmonie Essen und einem Kulturbeutel

philiDie Philharmonie in Essen ist eines der Vorzeigeprojekte im Ruhrgebiet, der Kulturhauptstadt Europas. Hochgelobt und hochgepriesen. Doch irgendwie ist es ruhig geworden um die „gute Stube“ Essens, seit Intendant Michael Kaufmann vor gut anderthalb Jahren rausgeworfen wurde. Warum?

Ich habe mir am Wochenende das Programm der Philharmonie angesehen. Das lag der WAZ bei. In dem Programm waren so ziemlich genau 20 Veranstaltungen in der Philharmonie. Grob überschlagen wird der Bau für diese Veranstaltungen 60 Stunden im Monat genutzt. An nur 15 Tagen wird die Philharmonie im März bespielt. Das bedeutet: jeden zweiten Tag passiert da gar nichts, außer dass die Bürger Essens für den Unterhalt zahlen. Weil geheizt werden muss ja. Ein schöner Saal, der zu oft leer steht.

Im Programm in der WAZ war das aber schön wegfrisiert. Die 15 Spieltage liegen ja nicht gleichmäßig verteilt über den Monat. Sondern die Veranstaltungen knubbeln sich an den Wochenenden. Damit dass dann nicht so aussieht, als passiert in der Philharmonie gar nichts, wurden beispielsweise in eine Wochenlücke ein bunter Platzhalter gesetzt. Dort stand dann, wie man Karten bei der Philharmonie kauft und so was. Schön groß und farblich und auffällig. Anderswo stand in einem Kästchen, was wie ein Programmpunkt, dass ein Konzert mit Barbara Sukowa ausfällt, für das im Internet noch geworben wird.

Und wenn man noch genauer hinschaut, sieht man, dass der Philharmonie Saal sogar nur vielleicht 14 mal für Philharmonische Konzerte benutzt wird. Die anderen sechs Veranstaltungen finden in einem kleineren Nebensaal statt oder es sind Führungen durchs Gebäude oder Events des Jugendamtes oder so Sachen wie der  „Boogie Woogie Congress“

Kaufmann wurde damals geschasst, weil er seinen Etat angeblich überzogen hatte. Mir kam es so vor, als habe er dafür zumindest das Haus bespielt. Vielleicht hält heute sein Nachfolger den Etat ein. Dafür setzt aber eine Abwärtsspirale ein. Es wird weniger und weniger und das noch schlechter gemacht.

Damit ist das Haus kaum noch in der Lage, Geld über den Eintritt zu verdienen, um selbst die eigenen Kosten zu tragen. Das bedeutet, noch weniger Veranstaltungen und noch weniger Verdienst-Möglichkeiten können geschaffen werden. Wenn aber zu oft der Boogie Woogie Congress stattfindet, wird der Ruf des Hauses beschädigt, es kommen weitere billige Events – dafür aber irgendwann Anna Sophia Mutter nicht mehr. Ein Teufelskreis, den die Stadt Essen nur mit viel Geld durchbrechen kann, das sie aber offensichtlich nicht hat.

Mir graut vor dieser Lage. Zunächst wird das Problem zugekleistert, bis das Kulturhauptstadt-Jahr um ist. Die Philharmonie gilt immer noch als einer der wenigen Erfolge von Wolfgang Reiniger (CDU) und dessen immer noch amtierenden Stadtdirektor Christian Hülsmann (CDU). Und als einer der wichtigen Säulen der Hochkultur im Pott.

Nach dem Jahr aber geht es bergab mit der Philharmonie. Sie droht, kaputt gespart zu werden. Gott sei Dank wurde zumindest der Bau des nächsten Konzerthauses in Bochum bis auf weiteres abgeblasen. Das wäre die nächste Hochkulturruine geworden.

Ich kann heute die Leute gut verstehen, die sich gegen den Kaufmann-Rauswurf gewehrt haben. Ohne einen renommierten Spitzenmann kann eine Philharmonie schnell zur Halle für billige Volksbespaßung verkommen. Am Wochenende habe ich mit einem Kumpel drüber gesprochen. Der sagte den schönen Satz: „Die wollen Kulturhauptstadt machen, können aber gerade mal Kulturbeutel.“

Das Foto stammt von der Seite ruhr2010-tickets.de

3 FÜR 7 – Wohin? Ah, dahin!

uploads_media_wohnzimmer_zeichnung_raumlaborberlinIst heut‘ nicht was? Klar. Aber Freitag und Samstag ja auch. Und danach erstmal! Es gibt ja vielerlei Untersuchungen zu den Auswirkungen dieses „Mehr“ an Informationen via Internet et al. Neigen wir neuerdings also noch mehr dazu, über Dinge zu reden, mit denen wir nicht direkt zu tun haben? Haben wir womöglich mit immer mehr Dingen nicht direkt zu tun, aber irgendwie den Zwang, dazu eine Meinung zu entwickeln? Sind vielleicht auch deshalb „einfache Lösungen“ und ebensolche Ideologien wieder so en vogue? Kommt bald der „Browse-nothing-day“? Oder gehen wir einfach mal hin zu „Die lustige Witwe“, „Odyssee Europa“, La Roux?

Nun passiert es also: Hier wird Harald Schmidt empfohlen. Aber nun nicht der Herr auf der Bühne, er tritt bei „Die lustige Witwe“ nur off-camera in Erscheinung, einmal aber auch einfach aus dem Off. Lehárs Operetten-Überklassiker bietet jedenfalls gute aktuelle Anknüpfungspunkte an das Tagesgeschehen: Irritierte Konsumisten, marode öffentliche Kassen, unromantische bis fragwürdige Gründe für Hochzeiten. Das Stück an sich wird respektiert und nur vorsichtig dem Zeitgeist entgegengerückt – wenn also mal Operette, dann vielleicht die.

Großes Thema, teure Karten: „Odyssee Europa“. Das Mammutprojekt an sechs Spielstätten an einem Wochenende mit eben so vielen Regisseuren, Städten und Interpretations- bzw. Inszenierungsansätzen. Vielfalt und Opulenz also auch hier, und dann noch anhand eines Werkes, auf das sich schon die halbe Zivilisationsgeschichte berufen hat. Bleibt hier in der Kürze der Zeit also nur auf den Punkt „Formalia“ einzugehen: Ein dreistelliger Eintrittspreis und sechs Vorstellungen an zwei Tagen (etc.) sind sicherlich ein Fest für die Kulturschickeria, wirken aber nicht zwingend so als wolle man, dass das Publikum (Zeichnung: Christoph Franz) sich tiefgreifend mit den Inhalten auseinander setzen kann. Nach all den trojanischen Pferden und Vorboten als Präambeln für dieses Spektakel darf wohl Zweierlei erwartet werden: a) Die Feuilletons werden in Erklärungsnot geraten, was das denn nun gewesen sein soll. b) Es wird Misswahl-mäßig spannend, welche Inszenierung sich am ehesten dem Thema gewachsen zeigen kann.

Oder einfach doch mal wieder nach Köln fahren: Das Konzert von The xx am selben Tag fällt ja aus, aber mit La Roux ist ein anderer Ausgehgrund für alle dedicated followers of fashion in der Stadt. Ältere Menschen können sich fragen, warum neuerdings immer eher unsympathische Menschen produktionstechnisch in Richtung „nächstes mögliches Popfrolleinwunder mit total kredibilen Wurzeln“ gebürstet werden, jüngere finden’s einfach toll, wie es sich gebührt: Menschen wie Du und ich, vielleicht etwas skrupelloser, live auf der Bühne, und berühmt! Wow! Plus Support übrigens. Und das macht Sinn bei nur 45 Minuten „Topact“ wie gestern in Hamburg. Wir lernen: Im Grunde ist also La Roux der Evergreen in der heutigen Runde, so Genre-technisch betrachtet. Und wir denken: Ach, im Grunde ist das ganze Popbusiness schon immer so ein Nehmen-und-Geben aus öffentlichem Schandkragen-Tragen und ebenjenes süffisant beklatschen gewesen – das wurde nur irgendwann mal verdrängt. (Bitte nicht ausdiskutieren!)

„Die lustige Witwe“ u.a. noch am Mittwoch und Samstag.
„Odyssee Europa“ ab Samstag.
La Roux am Samstag.

3 FÜR 7 – 3 ausgewählte Veranstaltungen der Woche

tinateubnerEs gibt erstaunlich viele Leute, die so tun, als seien sie total weltoffen und nicht auf typisch deutsche oder europäische Weise kulturell geprägt worden. Im positiven wird dann gesagt: Na klar, gerade wegen Aufklärung und Demokratie und so (die es ja nunmal irgendwie hier gibt), sei der Mensch hier ja so kritikfähig, anderen ja auch so ein bisschen überlegen und – na, klar – auch echt weltoffen. Im negativen Sinne könnte gesagt werden: Hierzulande wird sich in derartig vielen Facetten mit sich selbst beschäftigt, dass andere Kulturen erst dann erkannt werden, wenn sie sich als „das Fremde“ manifestieren. In diesem Sinne drei Mal typisch Hiesiges: „Was ist Heimat?“, Tina Teubner & Ben Süverkrüp, „TV Eye Labelfest“.

„Junge Fußballfans in Wort und Bild“ kommen bei „Was ist Heimat?“, einer Veranstaltung der Schalker Fan-Initiative in der Flora, zum Zuge. Diese moderne, Sport affine Variante einer Landschaftsjugend hat aber nun erstaunlicherweise genau nicht Hools und renitente Gelsen-Blockwarte zu Gast, sondern „jugendliche Mitglieder eines Gelsenkirchener Galatasaray-Fan-Clubs, die Band „The Herbs“ von Consol 4, Besucher des Schwul-Lesbischen Jugendzentrums „The Point“, Studierende am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe bis hin zu jungen Menschen in der Jugendberufshilfe Stadt Gelsenkirchen“. Weil die ja noch lernen müssen, was Heimat heißt? Weil das, was die zum Thema sagen, total unverdächtig sein sollte, irgendwie rechts oder regionalistisch zu wirken? Der OB, ein paar Sportler und andere lokale (Polit-)Promis werden auch da sein und für hübsche Bilder posieren. Schade, dass niemand aus anderen Heimaten eingeladen ist.

Die spannenden, leicht durch den Kopf-Fleischwolf gedrechselten Tiefen und Untiefen tagtäglichen Beziehungsstresses sind mal wieder Thema bei Tina Teubner und Begleitung (Foto: Promo). Vielleicht endlich mal wieder ein ausverkauftes Katakomben Theater? Dort übrigens immer wieder angenehm: Die freundliche Distanz, mit der die zum Großteil Türkei stämmigen Betreiber sich all die immer wieder auf der Bühne ausgebreiteten, individuellen Zivilisationskrankheiten der Künstlerinnen und Künstler anschauen – auch wenn mal eine frischgebackene Trägerin des Deutschen Kleinkunstpreises 2010 (Sparte Chanson) anwesend ist – oder gerade dann?

Was macht Frank Popp? Er kümmert sich um sein Label TV Eye, aber nicht nur in Berlin, sondern auch regelmäßig nahezu an alter Wirkungsstätte, im Pretty Vacant nämlich. Der deutsch-britischen Freundschaft wird diesmal u.a. mit einem Gastspiel der Band The Bacchae gehuldigt, die Popkultur tendiert halt gern Richtung London, dieser ehernen Festung westlicher Lebensart und Botschafterin von Beat, Rock’n’Roll und so in alle Welt. Düsseldorf-London – eine für viele hier recht prägende Achse.

„Was ist Heimat?“ noch bis zum 23. Februar.
„Aus dem Tagebuch meines Mannes“ am Freitag um 20 Uhr.
„TV Eye Labelfest“ u.a. am Freitag ab 22 Uhr.

Doppelt gute Fotos für Haiti

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Martin Steffen ist ein guter Fotograf. Ich habe erlebt, wie er mit Linse und Blitzlicht aus ostdeutschen Innenverteidigern Charakterköpfe machte. Martin hat das gelernt, war in Berlin bei Jim Rakete, in Paris. Kam wieder zurück nach Bochum, arbeitete für Werbung, für Prinz, Unicum, Playboy, Hattrick. Für Schauspieler, Musiker, Sportler. Seit ein paar Jahren ist Martin viel unterwegs. Er reist für Hilfsorganisationen wie Adveniat in Essen, macht Reportageaufnahmen in Lateinamerika, in Indien, Afrika. Fängt Bilder ein in Slums, Knästen, Armenhäusern, auf der Straße.

Ein paarmal war er in Haiti, zuletzt im Dezember 2009.  Haiti hat es ihm angetan, die härtesteten Erfahrungen, die schönsten Bilder, vor allem die Begegnung mit einem verstörenden Phänomen, den so genannten Restavecs – was sich vielleicht am besten wie ein Befehl liest: „Du bleibst hier!“ Es soll in Haiti hundertausende Kinder geben, die aus dem Hinterland von armen Eltern in genauso arme aber städtische Familien weggegeben werden. Karibische Aschenputtelkinder rechtlos, perspektivlos, oft schikaniert, misshandelt, immer ausgebeutet, Sklaven, Kinder. In Haiti, wo die Sklavenhalter zuallererst verjagt wurden, die erste karibische Republik ausgerufen wurde, gehören enteignete Kinder zum Alltag.

Martin Steffen hat das berührt, ihr Schicksal und der Einsatz für die Kinder durch ein kleines  Hilfsprojekt, eine betagte katholische Schwester. Und er hat sich vorgenommen, selbst zu helfen. Seit dem vergangenen Jahr spendet er seine Arbeitskraft, lässt sich – ganz gegen seine Art – für private Hochzeiten buchen und überweist das Geld nach Haiti. Nach dem furchtbaren Erdbeben ist die Lage für alle noch grausamer geworden – und für die Restavecs nicht besser. Überdurchschnittlich viele werden unter den Opfern vermutet, sie müssen stets am Haus bleiben, arbeiten, in den Armenvierteln, wo Berghänge abrutschten, Siedlungen unter Stein, Geröll begraben wurden. Martin will 2010 deshalb mindestens fünf Hochzeiten ablichten, einen ganzen Tag arbeiten, dafür einen stattlichebn Preis kassieren; spenden. Deshalb – wer 2010 heiraten möchte und sich das etwas kosten lassen kann, der wende sich an ihn oder besuche die von oktober.de und www.trafo2.de eindrucksvoll und kostenlos gestaltete Website.

Ach ja, einige der Aufnahmen aus Haiti hatte Martin im Dezember groß abziehen lassen, um sie für das Restavec-Projekt zu verkaufen. Wir haben neben diesen Prints ausgelassen Sylvester gefeiert, aber die Bilder sagten etwas, das verschreckte Mädchen, wie es sich an einem Besen festhält, … –  zwanzig Tage vor dem Beben.

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2 bis 3 Straßen im Interview am Borsigplatz

Der Künstler Jochen Gerz macht derzeit im Ruhrgebiet zwei Projekte. Während der Bochumer Platz des europäischen Versprechens auf der Kippe steht, läuft das Projekt 2-3 Straßen ganz gut an.

Ursprünglich sollten bis zu 80 kreative Leute von außerhalb in den Pott ziehen und hier nachsehen, wie das so läuft. Dazu wurden ihnen billige Wohnungen in Mülheim, Duisburg und Dortmund angeboten. Über Ihre Erlebnisse sollen sie Protokoll führen. Daraus will der Künstler Gerz später ein Buch oder ein Plakat oder was auch immer machen. Leider wollten nicht genügend Leute von außen ins Revier kommen, deswegen durften sich auch Kreative aus dem Ruhrgebiet an dem Projekt beteiligen. Tobias Eule ist einer von ihnen. Der Architekt ist von Bochum nach Dortmund gezogen, direkt an den Borsigplatz. Ich habe mit ihm gesprochen.

Warum machen Sie als Architekt überhaupt bei der Straßen-Nummer mit? Wo ist der Reiz für Sie?

Ich habe mich mal vor ungefähr einem Jahr bei ehemaligen Kommilitonen darüber beschwert, dass wir während unserem Architekturstudium nie gelernt haben uns auch mal Schriftlich mit dem Thema Architektur auseinander zu setzen. Das empfand ich als eine verpasste Gelegenheit, denn ich hatte gemerkt, dass ich zwar sehr gerne Schreibe, aber es doch recht selten getan habe. Besagter Freund machte mich ein paar Tage später auf die Anzeige von 2-3 Straßen aufmerksam, auf die ich mich dann einfach mal beworben habe, frei nach dem Motto, wenn sie mich nehmen werde ich mich ein Jahr lang intensiv mit dem Schreiben und mit der deutschen Sprache beschäftigen. Dies ist meine individuelle Motivation, wegen der ich nach Dortmund gezogen bin, der Reiz des gesamten Projektes besteht aber darin, dass hier mit einen mal ca. 30 Menschen nach Dortmund verpflanzt wurden, die alle in einer Phase ihres Lebens stehen, in der sie sich irgendwie verändern wollen und die sich nun ein Jahr lang mit dem Thema Nachbarschaft auseinandersetzen. Die spannende Frage ist also in wie weit sich so eine Maßnahme dann auch wirklich auf das Wohnumfeld auswirkt.

Sie haben schon in Hattingen gewohnt, in Bochum, in Bottrop. Sie kennen das Ruhrgebiet. Glauben Sie Dortmunds Norden kann Sie noch überraschen?

Wenn ich mir die aufgezählten Städte angucke, kann mich der Norden Dortmunds schon überraschen, denn die Lebenssituation die hier vorherrscht gibt es in dieser Intensivität in besagten Städten nicht. Eine gute Freundin von mir hat aber eine Zeit lang in Gelsenkirchen gewohnt und dort ist die Lage ähnlich. Als erstes fällt einem auf, dass man als Deutscher hier in der Minderheit ist. Ich will das gar nicht werten, aber es fällt einem halt auf. Dann gibt es hier auch so manche Häuser die völlig Leer stehen und an denen die Fensterscheiben schwarz zugeklebt sind. Es ist eine Vorahnung, was aus dem Ruhrgebiet werden würde, wenn es wirklich zur massenhaften Abwanderung auf Grund fehlender Arbeit käme. Ein Quartiersmanager beurteilt die Lage um den Borsigplatz folgendermaßen. Es kommen viele Ausländer als erste Anlaufstelle an den Borsigplatz, weil die Mieten hier günstig sind, und wenn sie dann eine sichere Arbeit gefunden haben ziehen sie wieder weg. So ist die Stimmung hier, dagegen herrscht in Hattingen, Bochum und Bottrop schon noch heile Welt. Trotzdem sind die Menschen denen man begegnet und die man Anspricht hilfsbereit und offen wie überall im Ruhrgebiet, wenn auch ein wenig argwöhnischer.

Was heißt argwöhnischer?

Die meisten Menschen laufen hier oft einfach aneinander vorbei und wenn man sie anspricht ziehen sich manche erst mal förmlich in sich zusammen. Sobald sie dann aber merken, das man völlig normale Fragen stelle, z.B. wo der nächste Altglascontainer ist, oder dass man im Hausflur einfach nur ein paar nette Sätze wechseln will verlieren sie auch sofort diese skeptisch Haltung und sind nett und hilfsbereit wie ich es im Ruhrgebiet gewohnt bin. Man merkt daran aber schon wie verunsichert manche Menschen hier sind. Sie sind in unserer Gesellschaft irgendwie noch nicht heimisch geworden. Auf der anderen Seite Grüßen sich hier Schwarze oder Türken auf der Straße oft sehr freundlich, aber die verschiedenen Minderheiten bleiben anscheinend unter sich. Das ist natürlich ein Problem, denn eine Demokratie funktioniert ja nur wenn ihre Bürger sich als Teil der ganzen Gesellschaft sehen und somit auch bereit sind aktiv an der Entwicklung dieser Gesellschaft mit zu wirken.

Wieso hat der Künstler Jochen Gerz ausgerechnet Sie ausgesucht, um mit einem Berliner Musikverleger am Borsigplatz zu wohnen?

Während der Bewerbungsphase mussten wir unter anderem die Fragen beantworten, warum wir an dem Projekt teilnehmen wollen und was wir während der Zeit dort machen wollen und anscheinend war meine Antwort individuell genug um in die engere Auswahl zu kommen, trotzdem hat man mich nicht für den Standort Duisburg, für den ich mich eigentlich beworben habe genommen, denn eigentlich wurden Menschen gesucht, die von außerhalb des Ruhrgebietes in diese Region ziehen. In Dortmund konnte man aber sich erst Ende November mit den Beteiligten einigen welche Wohnungen zur Verfügung gestellt werden können, und weil man in der kurzen Zeit von einem Monat nicht genug Zeit hatte für jede Wohnung Bewohner von außerhalb zu bekommen, hatten auch wir Ruhrgebietler ein Chance. Die Rückfragen Ende November, ob ich auch in eine andere Stadt ziehen würde und ob ich denn auch wirklich jeden Tag schreiben wolle habe ich äußerst positiv beantwortet. Und weil die Vorstellung von Jochen Gerz war, dass die Teilnehmer sich eigentlich selbst aussuchen sollen, hat sich mein Wille zur Teilnahme dann halt durchgesetzt.

Sie haben den Künstler getroffen, der in Berlin geboren wurde, in Paris arbeitete und nun in Irland lebt. Hat der Künstler in Ihren Augen irgendeinen speziellen Bezug zum Ruhrgebiet?

Das kann sein, schließlich gestaltet Herr Gerz zur Zeit auch den Platz des Europäischen Versprechens in Bochum und hatte vor Jahren schon in Dortmund eine Aktion laufen die „Das Geschenk“ hieß. Ich glaube aber, dass das gar nicht entscheidend ist, vielmehr kreiert Jochen Gerz Situationen auf die Menschen reagieren und er ist vielleicht hauptsächlich daran interessiert wie die Menschen sich dann verhalten. Wo das ganze stattfindet ist wahrscheinlich sekundär, denn Menschen sind ja auf ihre Art und Weise überall in der Welt spannend. All zu sehr habe ich mich aber mit der Kunst von Jochen Gerz noch nicht auseinandergesetzt.

Wie beurteilen Sie den künstlerischen Ansatz? Können Sie bei der Erarbeitung des Ansatzes mitwirken?

Beeindruckend finde ich, dass ich den künstlerischen Ansatz am Anfang eher banal fand und mich aus ganz eigenen Interessen hierzu beworben habe, ich aber je länger ich mich mit Herrn Gerz befasse die Empfindung habe, er weiß schon was er da tut. Jetzt sitzen in drei Städten motivierte Menschen, die in ihrem Leben an eine Stelle gelangt sind, an der sie sich aus welchem Grund auch immer verändern wollen. Und all diese Menschen denken jetzt über Nachbarschaft nach, begegnen ihren Nachbarn und schreiben dann auch noch jeden Tag, was ja auch immer eine Reflexion des Erlebten beinhaltet. Insgesamt sind das pro Straße rund 10 Prpzent der Anwohner. Da ist es doch schon spannend, wie sich das über ein Jahr entwickelt. Und auch zu der Frage, wer denn den Text, der hier nebenbei entsteht überhaupt lesen soll antwortet Herr Gerz doch sehr souverän, dass solle man doch Aufgabe des Verlegers sein lassen und diesen gibt es außerdem schon. Ich bin zwar immer noch skeptisch was das gemeinsame Buch angeht, auf der anderen Seite schreiben jetzt fast 80 Leute jeden Tag Sachen auf, die Herr Gerz am Ende nach belieben zusammenstellen, kürzen und verändern kann, da bin ich dann doch mal gespannt.

Haben Sie Anweisungen bekommen, wie Sie sich verhalten sollen?

Die Anweisung die wir bekommen haben hat mir äußerst gut gefallen. „Wir wollen hier alle nicht mehr tun als wir tun wollen.“ Jochen Gerz will auf keinen Fall, dass die Bewohner hier bespaßt werden und irgendwelche Events geboten kriegen. Alles soll so unaufgeregt wie möglich laufen, aber doch halt kommunikativer. Projekte wie z.B. Malen oder Musizieren mit Kindern oder auch Interviewen von Nachbarn werden sehr begrüßt, aber jeder soll schon selbst entscheiden wie sehr er sich einbringt. Wobei ganz klar gesagt wird, dass man natürlich nur so viel aus diesem Jahr für seine eigene Entwicklung rausholen kann, wie man an Energie hineinsteckt, aber das ist ja bei allen Aktivitäten so. Und auch was den gemeinsamen Text angeht hat Herr Gerz in seinem Konzeptpapier formuliert, dass alles was geschrieben ist einen Wert an sich hat. Es gibt also auch hier keine Vorgaben, sonst würde das Ergebnis aber auch sehr viel eintöniger und damit auch langweiliger.

Macht Ihnen das Schreiben für das Projekt 2-3 Straßen Spaß?

Ja sehr, deshalb bin ich ja hier. Ich sehe das ganze ein wenig wie eine Ausbildung, in der man mit seiner Sprache jeden Tag ohne Vorgabe experimentieren kann wie man will. Schreiben als Selbstzweck ist doch, wie jede Aktion um seiner selbst willen, der pure Luxus.

Sehen Sie irgendwas spezielles an ihrer Gegend da in Dortmund? Ne besondere Solidarität oder so?

Das ist hier natürlich die Gegend um den Borsigplatz. In der Pommesbude gegenüber meiner Haustür wurde vor hundert Jahren der BVB gegründet, damals war da aber noch eine Kneipe. Das ist schon ein besonderer Ort für diese Stadt, wobei man hier sagt, dass die Bewohner des Borsigplatzes zwar noch den BVB im Herzen tragen, ob der BVB aber noch den Borsigplatz im Herzen trägt ist zu bezweifeln. Trotzdem, der Fußball verbindet und da ist es schön das dieses Jahr die Fußball WM ist, denn es dürften von jeder teilnehmenden Nation auch Menschen hier in der Nachbarschaft wohnen. 2-3 Straßen könnte zumindest hier am Borsigplatz gerade in dieser Zeit eine neue Dynamik entwickeln.

Städtebaulich hat diese Gegend außerdem durchaus ihre Qualitäten, mit einem für das Ruhrgebiet recht hohen Altbaubestand und Innenhöfen die durchaus das Potential haben verschiedenst genutzt zu werden. Der Stadtteil hätte also, wenn es das Schicksal freundlicher gemeint hätte auch das Zeug zu einem hippen Studentenviertel gehabt. Das ist jetzt im Dortmunder Kreuzviertel, welches einfach schon näher an der Uni liegt.

Sie sind Deutscher und damit rund um den Borsigplatz sowas wie ne Minderheit, ist das komisch für Sie?

Ehrlich gesagt gewöhnt man sich doch sehr schnell daran. Ich bin aber auch schon als kleiner Junge in eine Grundschule in Bottrop-Welheim gegangen, die einen hohen Ausländeranteil hatte und habe auch in Bochum auf der Dorstener Straße gewohnt, auf der alle paarhundert Meter ein türkisches Lebensmittelgeschäft war. Trotzdem fällt es mir einfach auf, dass kaum Deutsche unterwegs sind. Für die aus anderen Gegenden zugereisten Projektteilnehmer ist die Situation aber selbstverständlich viel ungewöhnlicher, so wundert sich mein Mitbewohner schon amüsiert über die legender knappen Sätze im Ruhrgebietes. Die übliche Kommunikation beim Bäcker „Watt machtat“ „Zweifuffzich“ ist für Zugezogene schon gewöhnungsbedürftig.

Oberflächlich haben die Leute da am Borsigplatz eines gemeinsam. Sie haben in der Regel wenig Geld und fühlen sich oder werden sogar tatsächlich ausgebeutet. Fühlen sie sich auch ausgebeutet? Soviel ich weiß kriegen Sie gerade mal einen Teil der Miete bezahlt und müssen dafür alle Rechte an dem abgeben, was Sie im Rahmen des Projektes schreiben?

Die schöne Anwerbung vom Mietfreien wohnen war zum Teil natürlich schon eine Mogelpackung, denn neben der Miete gibt es ja noch die Nebenkosten, die Strom- und die Elektrokosten, die wir selbst zahlen müssen und das ist zusammen ja genauso viel wie die eigentliche Miete. Was die Rechte zu dem Geschriebenen angeht ist der Vertrag den wir akzeptieren mussten schon sehr resolut. Man merkt halt, dass Herr Gerz schon sehr lange im Geschäft ist und deshalb Verträge aufsetzen lässt, in denen alles was zu seinen Gunsten denkbar ist auch hineingeschrieben wird. Herr Gerz hat die Ausschließlichen Rechte auf alles was wir Schreiben, in jeder erdenklichen Publikationsform, selbst Teletext und Schulfunk wird erwähnt. Besonders perfide ist der Unterpunkt in dem steht, das auch Texte und jegliche sonstige Aktivitäten von mir, die irgendwie mit dem Wohnen am Borsigplatz zu tun haben, auch dann Herrn Gerz gehören, wenn ich sie ihm nicht zur Verfügung stelle. Trotzdem fühle ich mich nicht ausgenutzt, denn ich weiß ja, dass solche Verträge pro Forma für alle Eventualitäten aufgesetzt werden und ich ja nicht hier bin um mit meinem Schreiben Geld zu verdienen, sondern um festzustellen, ob ich nach einem Jahr täglichen Schreiben erst mal davon gesättigt bin, oder ob ich immer weiter schreiben könnte. Was dann 2011 passiert bleibt abzuwarten und ist vielleicht für mich noch viel spannender als 2-3 Strassen.

Wie würden Sie ihr Verhältnis zum Künstler beschreiben? Chef und Angestellter? Gleichberechtigt? Oder sind Sie ein Versuchskaninchen?

Ich nenne meinen Künstler schon jetzt gerne meinen Meister, denn er dient mir als Inspirationsquelle. Auch ist er so was wie ein Trainer, der uns durch seine Ansprache schon zu motivieren versteht. Aber trotzdem sind wir natürlich gleichberechtigt, denn ich bin hier aus eigenen Antrieb, um mein eigenes Leben zu bereichern und wenn Herr Gerz was mit meinem Output anfangen kann ist das schön für ihn, wenn nicht interessiert mich das aber nicht die Bohne. Von daher sind Definitionen die an die Arbeitswelt erinnern völlig falsch, außer vielleicht der Begriff des Versuchkaninchen, wobei ich mich ja selbst in das Labor gestürzt habe und auch jeder Zeit wieder gehen kann.

Haben Sie Kontakt zu den anderen Leuten, die in dem Projekt mitmachen?

Zum einen habe ich natürlich Kontakt zu meinem Mitbewohner, den ich ja ohne 2-3 Straßen nie kennen gelernt hätte. Dann gibt es am Borsigplatz ein Büro in der Mitarbeiter von Herrn Gerz sitzen und sich um uns kümmern. Über sie enthält man dann z.B. Einladungen von anderen Bewohnern, morgen führt uns z.B. eine Teilnehmerin die aus Dortmund kommt durch die Stadt. Ich habe aber auch schon Teilnehmer auf der Straße getroffen, die mich dann gleich zu sich eingeladen haben. So schnell wie hier habe ich also noch nie Nachbarn kennen gelernt, aber darum geht es ja auch.

Glauben Sie aus ihrer Straße kann ein Abbild des Ruhrgebietes erschaffen werden? Oder werden einfach Klischees transportiert? Oder anders gefragt, wird auch eine Straße in Essen-Überruhr oder in Bochum-Stiepel im Rahmen des Projektes untersucht?

Die Straßen die für das Projekt ausgesucht wurden liegen alle in sogenannten Sozialen Brennpunkten. Das hat ja auch einen pragmatischen Grund, denn nur hier stehen die benötigten leeren Wohnungen zu Verfügung. Deshalb ist der Projekt schon auch Repräsentativ für andere prekäre Standorte im Ruhrgebiet. Die Lebenswirklichkeit von wohlhabenden Gegenden wie Bochum-Stiepel kann man hier aber bestimmt nicht untersuchen. Ob am Ende dann die Klischees transportiert werden bleibt abzuwarten. Jochen Gerz will das bestimmt nicht, ich Frage mich aber ob das wirklich so schlimm ist, wenn man sich dann über Fußball, Bier und Halal-Grillen näher kommt. Die Klischees sind ja immer auch Teil der Realität und wenn in dieser Region schon lauthals besungen wird, dass die Ruhrgebietler ehrliche Häute sind die sich ohne Schminke geben, dann erfüllt dieses Klischee als self fulfilling prophecy doch durchaus seinen Zweck.

Zum Schluss, wie ist das am Borsigplatz denn so? Wie man hört, ist die Gegend ganz schön runtergekommen.

Das jetztzeitige Ruhrgebiet ist ja eine Kraftanstrengung um gegen das Phänomen der shrinking-cities in postindustriellen Ballungsräumen anzugehen. Das ganze trägt dann den schönen Namen Strukturwandel und kostet Land und Bund seit Jahrzehnten Millionen. Am Borsigplatz geht dieser Kampf teilweise verloren. Trotzdem sind wir hier noch weit entfernt von Zuständen wie Detroit, denn die Fenster sind zwar schwarz verklebt aber noch nicht eingeschmissen. Aber man muss gerade in Stadtteilen wie diesen alles tun um einer weiteren Verödung entgegenzuwirken, denn es gibt einen Punkt off-no-return ab dem keine Menschen mehr bereit sind wieder in die verlassenen, heruntergekommenen Stadtteil zu ziehen. Die Gegend hier steht an dieser Grenze und es sind kreative Lösungsmöglichkeiten gefragt um solche Quartiere wieder auf die Bahn zu kriegen. An den Plattenbaustädten in Ostdeutschland hat man gesehen, dass z.B. ein partieller Abriss kombiniert mit einer Umstrukturierung die Stimmung in den Städten positiv verändern kann. Dazu bedarf es aber Geld und gerade die Städten an der Ruhr bräuchten ein Äquivalent zu dem Soli-Ost. Ob dieses Geld überhaupt da ist kann ich nicht beurteilen, wenn nicht könnte es allerdings zu einer Abschreibung ganzer Stadtteile des Ruhrgebietes kommen, wie es in Duisburg teilweise schon der Fall sein soll.

Können Sie sich vorstellen, da wohnen zu bleiben, oder gehen Sie nach dem Projekt wieder weg? Falls ja, wohin denn? Nach Spanien?

Diese Wohnung kann ich mir nach diesem Jahr alleine nicht leisten und mein Mitbewohner wird höchstwahrscheinlich die Stadt verlassen, also ist auch für mich am Ende 2010 wieder ein Umzug angesagt. Sollte ich im Ruhrgebiet bleiben, werde ich wieder nach Bochum ziehen, weil mir die Stadt von ihrer Größe aber auch von ihrem Habitus zusagt. Aber wie gesagt sind die Teilnehmer hier, weil ihr altes Leben sie nicht mehr ganz ausgefüllt hat und somit bin auch ich in einem Veränderungsprozess, was dabei am Ende herauskommt und wohin die Reise geht bleibt abzuwarten.

Grafik: 2-3 Straßen

Foto: Tobias Eule

3 FÜR 7 – Konzert-Special

festlandDer Autor dieser Zeilen hier fährt morgen mal für ein paar Tage nach Dresden. Und das ist ja die Stadt, die die Deutschen zur Kulturhauptstadt gewählt hätten, falls man sie gefragt hätte. Wie finden das die RRRuuuh!rrries eigentlich? Ein weiterer Grund, warum man sich schon vor knapp hundert Jahren besser von Restdeutschland hätte abkoppeln sollen – denn Volksabstimmungen in Deutschland bringen eh nur Ärger? Oder nur ein Zeichen dafür, dass es doch ganz gut ist wenn die hiesige Industrie mal ein bisschen Kohle springen lässt, um die wirklich relevanten Abstimmungen zu beeinflussen? Für Hierbleiber: Festland, Emiliana Torrini, Japanische Kampfhörspiele.

Festland erklären ist gar nicht so einfach, deshalb steht im Waschzettel zum demnächst erscheinenden zweiten Album des Trios (s. Foto) wohl „Intelligenzpopmusik“ oder so. Und beim darüber reden fallen blöde Zuschreibungen wie „Krauthouse“ oder „MinimalPop“. Und Zitatpop ist natürlich auch drin, nunja. Von Label und „haben auch getourt mit“ her gesehen ist das sogar Post-Punk. Post-Nu-Rave-New-Wave. Irgendwie auch genau die Band zum Klang des Labels Kompakt wie damals die ebenfalls aus Essen stammenden T.E.V.O. die Band zu Madchester waren. (Wie war eigentlich Weatherall im Shanghai? Erzählt mir ja keineR hier. – Und eine T.E.V.O.-Reunion soll es übrigens auch geben.) Ach, hören Sie doch erst einmal selbst bei Festland rein, bitte. Hingehen? Auch, klar.

Und Frau Torrini ist so eine von jenen, die über „Singen für ne Jungskapelle“ (hier: GusGus) zu einem recht feinen Solo-Image kam (hat so ihre Trennungsgeschichten, aber sonniges Gemüt, liebt den Schein derselben, etc.), was dann aber durch dessen totale Überzeichnung in einem Werbehit wieder kaputt gemacht worden ist – natürlich nur für ebenjene Mehrheit der Menschheit, die auf Werbung achtet bzw. einfach nicht die Beschallung ausgeschaltet bekommt und dann nicht selbst verantwortete „Ohrwürmer“ hat. Denken Sie jetzt „Bestimmt ne voll töfte Person zum Pferdestehlen, wa?“? Dann gehen Se doch ma schön in Konzerthaus Dortmund kucken, ne.

Japanische Kampfhörspiele wurden hier schon ausführlich vorgestellt. Eisenvater und noch eine Band sind auch dabei. Unverständlich, dass das anscheinend nicht ausverkauft ist. Persönliche Meinung: Regulär reichen so vier Songs am Stück von Konserve – denn die Herren packen da schon ne Menge rein, ne? Value for money, Sie wissen? Aber ein Konzert im turock, also dem äh Tempelinnenraum des Essener Nordhardrockstadtpflasters… das kann zur Bildung auch für Menschen über 30 nicht schaden. (Ja, ich weiß, dabei sein ist uncool. Aber irgendwer muss ja hin, ich kann ja nicht.)

Festland und Emiliana Torrini am Freitag.
Japanische Kampfhörspiele am Samstag.