Loveparade-Desaster: Tote nach Massenpanik – Ursache noch unbekannt

19.50 Uhr. Ruhrbaron Thomas Meiser ist live auf der Loveparade vor Ort.

Thomas Meiser aus dem Pressegetto der Loveparade:

Die Parade läuft unverändert weiter,  die wenigsten Kollegen im Pressegetto haben die große Katastrophe realisiert, sie begutachten zur Stunde noch ihre Festbildchen.

Angeblich sei die Katastrophe – über die mittlerweile längst auch CNN berichtet, zustande gekommen – weil der Straßentunnel von beiden Seiten Düsseldorfer Straße und Koloniestraße zugeschwemmt wurde von Menschen.

Die aufeinandergeprallt seien. Bis zum Tode.

Der Kollege, der mir das berichtet, der war Augenzeuge, ein verläßlicher Mann:

Er, kam nach eigener Aussage, drei Minuten später außerhalb des Tunnels zum Geschehen:  „Da haben sich Menschenmassen aufeinandergeschoben und einander totgetreten.“

PresseEingang Koloniestraße 17.00 Uhr
Presseeingang Koloniestraße 17.00 Uhr - Hier sieht man, wie mehrere Hundert Teilnehmer auf das Paradengelände gelassen wurden, um zu vermeiden, daß deren Gedränge vor den Zäunen zu Körperschäden führt.

Ich selbst habe gegen 17.00 Uhr gesehen, wie vor dem Presseingang sich die Einlaß begehrende Masse so dicht vor den Heraszäunen gedrängt hatte, daß die Security den Einlaß freigeben mußte, um keine Körperschäden zu verantworten.

Gleich dazu meine Bilder.

// Metakommunikation. Hier – im Herzen der Bestie – sind so gut wie alle Netze nach außen zusammengebrochen.

Das einzige, was noch nach Plan weitergeht, ist zynischerweise die Party.

Hier sieht man den stellvertretenden Polizeipräsidenten Duisburgs Detlef von Schmeling (SPD) und den amtierenden Innenminister NRWs Ralf Jäger (rechts, SPD) , wie sie sich kurz vor 17.00 Uhr in der VIP-Lounge der Loveparade 2010 in ihrem Erfolg und in Selbstgefälligkeit sonnen – Tempi passati.

Wann bricht Gorny die Loveparade endlich aus Pietätsgründen ab?

Gleich mehr. So ein Dreck. Ich könnte kotzen.

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A local Hero´s Diary IV: Ganze Tiere grillen

Unser Gastautor Carsten Marc Pfeffer schreibt im vierten Teil seines Ruhr2010-Tagebuchs über Bochum Total

Donnerstag, 15. Juli: Fanmail. Liebe Nina, am 14. Juli 2010 um 13:09 mailtest Du: “Drei Akkorde weiter” wäre ich, wenn ich mal in deine songs reinhören könnte: wo? hast du einen link? – Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Dir antworten könnte. Ich versuche es jetzt einfach mal: Nein, ich habe keinen Link, nicht einer meiner Songs ist im Netz. Warum? Kittler unterscheidet noch zwischen Speicher- und Repräsentationsmedien. Wir müssen das bald nicht mehr tun. Bald werden wir die eine große Wunschbox in unseren Händen halten. Lesen wir doch mal nach bei Aristoteles: die Sache mit dem Krug und wie sich das fortsetzt bei Heidegger und Derrida. Ich finde das super. Aber selbst wenn dieses große Projekt realisiert wurde, werden aus dieser Wunschbox keine Songs von mir ertönen, weil es einfach das falsche Medium ist. Warum im Internet Lieder hören? Ich verstehe das nicht. Aber meine Medienschelte geht weit über das Internet hinaus. Mit der Etablierung der Schallplatte hat sich ein Denkfehler eingeschlichen. Wir sind es gewohnt, ganze Alben zu kaufen, wenn wir bestimmte Songs hören wollen. Mittlerweile liegt der Song nur noch einen Mausklick entfernt. Man kann ihn grabben mit dem iPhone, das App Midomi macht es möglich. Und so benutzerfreundlich das alles auch ist, so ist das Ganze doch grundsätzlich falsch. Denn das Medium des Liedes ist die Stimme. Wenn Du, liebe Nina, also meine Songs hören willst, dann komm zu meinem Gig. Ich will, dass Du meinen Schweiß siehst, meine Unsicherheit spürst und meine Liebe. Deine Anwesenheit wird sich auf mich auswirken und in die Songs mit einfließen. Es werden nicht mehr nur meine Lieder sein, sondern unsere. Das ist doch eine ganz andere Rezeptionsästhetik als sich bei Myspace durchzuklicken. Und so war es eigentlich immer schon. Homers Odyssee wurde doch nicht am Schreibtisch entwickelt, sondern mündlich überliefert. Lange Zeit bevor Homer sie niederschrieb. Odyssee ist Gesang. Homer hat durch seine Niederschrift diesen Gesang zerstört. Klingt seltsam, nicht? Ist aber leider wahr. Nina, wenn Du jetzt vor deinem Bücherregal stehst und soeben die gesammelten Werke von Aristoteles entdeckt hast, dann greif doch mal links daneben zu Platon. Diese großartige Abwehrbewegung gegenüber der Schrift! Phaidros 275a, wenn ich mich recht erinnere: „Ein Pharmakon für das Gedächtnis, nicht für die Besinnung bietest du mir an…“ – Da steht doch schon alles: bis hierhin und keinen Schritt weiter! Nein, ich habe keinen Link, keinen Song im Internet. Und wenn ich jemals eine LP aufnehmen sollte, dann nur unter Protest. Komm doch einfach zum Gig ins Zacher, Nina. Weißt Du, ich brauche an diesem Abend nicht für meine Getränke zu zahlen, und ich teile gerne. Kibi darf natürlich nichts davon mitbekommen. Aber der wird hinter der Theke eh beschäftigt sein. Also komm vorbei, vielleicht können wir ja Freunde sein. Solltest Du es nicht schaffen, dann komm am 15. August ins Rottstr.5-Theater. Bin vorhin im Konkret dem Arne Nobel in die Arme gelaufen und hab mit ihm den Termin abgekaspert.

Vier Tage volles Programm

In der City ist natürlich das große Gewusel ausgebrochen. Bochum Total und so. Verstärkeranlagen werden durch die Stadt geschleppt, Boxentürme aufgebaut. Schon cool, mit einem Gitarrenkoffer durch die Menge zu schreiten. Auch am t.a.i.b. herrscht an diesem Morgen Betriebsamkeit. Eine Vernissage zum Thema Virtuelles Wasser von Naemi Reymann. Ich versteh nur Bahnhof. Muss also gut sein. Überhaupt hat sich das Prinzip Bahnhof in der Kunst ja durchgesetzt. Man muss sich das so vorstellen: da sitzen zwei oder drei stilsicher gekleidete Typen im Büro vom Finanzvorstand, Bein mit Bein gedeckt. Der Finanzvorstand hat vielleicht Gombrich gelesen, aber ansonsten von Kunst naturgemäß keine Ahnung. Die Typen quatschen jetzt zwei Stunden lang von ihrer geplanten audiovisuellen Performance. Schön urban soll es dabei zugehen. Der Finanzvorstand versteht natürlich nur Bahnhof. Doch das ist gut so, denn der Finanzvorstand verlässt sich auf seinen Instinkt. Versteht er Bahnhof, dann weiß er, dass es Kunst ist und sagt: 50.000 Euro, kein Problem, hier bitte sehr, aber machen sie noch mein Logo mit drauf. Tolle Sache, Jungs. Danke, Pappi.

Im Westen heute die Überschrift: Still-Leben A40: „Titel verhöhnt die Anwohner“ – großartig. So langsam juckt es mir auch schon wieder in den Fingern, aber ich will ja nicht mehr so viel Arbeiten, wegen des inneren Gleichgewichtes. Nein, keine Zeitungsartikel bis Montag oder sagen wir: Dienstag. Wie wird das wohl am Sonntag auf der Autobahn? Es gibt keinen übersichtlichen Programmplan. Außerdem hört man viel von Verboten. Grillverbot. Glasflaschenverbot. Fahrverbot da ja, da nein. Hui-Buh, Public Relation geht aber anders. Geschenkt. Unter anderem Max und ich werden die Gitarren auspacken und fertig. An den muss ich jetzt eh denken, da sein Gesicht auf dem Display meines BlackBerrys erscheint. Wat willste? Er spiele heute im FKT und fragt, ob ich Lust hätte in seinem Set ein paar meiner Lieder zu spielen, aber nicht mehr als zwei. Abgemacht. So verpasse ich jedoch den Auftakt von Bochum Total. Ich entscheide mich, meine Agenten zu schicken. DAS GEZEICHNETE ICH, 19:30 Uhr, WAZ-Bühne. Der beste Artikel wird veröffentlich. Alles klar.

Ein Lied gegen den Krieg

Das Konzert mit Unter anderem Max ist natürlich fürchterlich. Ich mein, wann kauft der sich mal eine richtige Verstärkeranlage? Ein Auto kann er sich ja auch leisten. Aber so laufen Gitarre und Gesang über einen halbdefekten Fender-Twin. „Herzlich willkommen zu Bochum Marginal“, begrüßt er die zwölf erschienen Gäste. Ich stürze ein erstes Bier. Besonders die melancholische Coverversion von Highway to Hell gelingt ihm sehr genial. Ich hingegen habe nur Pech. Ich betrete die Bühne und Max so von oben herab: aber nur zwei Songs, verstanden? Dafür hätte ich ihn eigentlich schon eins mit der Gitarre überbügeln müssen. So wie damals bei den Sex Pistols. Aber man ist ja Kulturmensch. Außerdem ist Tommyboy im Publikum und ich will seinem widerlichen Zynismus nicht auch noch Futter geben. Ich singe ein Lied über die Freundschaft. Applaus. Ich singe ein Lied gegen den Krieg in Afghanistan. Betretenes Schweigen. Entnervt zieht mich Tommyboy zur Seite.

„Bist du verrückt geworden, diese Liedermacherpose aus den 60ern anzunehmen?“
„Aber ich bin wirklich gegen diesen Krieg.“
„Das hat damit doch gar nichts zu tun, du Idiot!“
„Was dann?“
„Das war Kabarett und Kabarett ist out, out out.“
„Idiot!“
„Hehe.“

Mittlerweile trudeln die ersten Artikel der Agenten ein. Hier der Gewinnertext, eingesendet von einem Dozenten am germanistischen Institut der Ruhr-Universität: „Hier wie versprochen ein paar Worte zu Das Gezeichnete Ich: Mit was für ner Erwartungshaltung nähert man sich einem Künstler, der sich hinter einem Pseudonym versteckt, das direkt Gottfried Benns Gedicht NUR ZWEI DINGE entlehnt ist und der als Inspiration gleich Wagner, Mahler und Mozart und Grönemeyer ins Rund wirft? Hirnnovellen meets Klassik meets Genie und Wahn? Meets CURRYWURST? Meets Übergroßes Ego und elitärer Habitus? Nix da: stattdessen Einmannorchester hinter einer schimmernden Trutzburg aus silbernen Dreiecken plus zugekleisterten Pophymnen, dass man laut aufschreien möchte: Mach es mir bitte unplugged, sofort jetzt. Weniger ist manchmal mehr: Das nächste Mal entweder gleich mit hundertköpfigen Orchester oder einfach nur mit Flügel. Grüße, Dr. T.“

Die Nacht verwöhnt uns. Die Kopfhörerparty ist im Zacher in vollem Gange. Aber auch davor. Auf der gesamten Brüderstraße tanzen Menschen mit Kopfhörern in der Stille. Die Fernsehteams kommen. Dann hat auch noch der DJ Renate von Rosen Geburtstag, dem wir all das zu verdanken haben. Ich gebe ihm einen Zungenkuss. Er schmeckt nach Sambuca, einfach genial. Wir kommen alle ins Fernsehen. Kibi haut die Biere raus, comme vache qui pisse, wie Mademoiselle Richeux bemerkt. Komm, einen noch. Tommyboy gibt ne Runde aus und bekommt es selbst gar nicht mit. Bitte alles auf die 41 bongen. Herrlich. Dann die Schöne im schwarzweiß-gekringelten Twiggy-Kleid. Ich würde sie gerne ansprechen, aber ich bin schon zu besoffen, als dass ich jetzt noch reden könnte. Morgen vielleicht. Aber direkt nach dem Gig wäre das auch blöd. Da muss ich ja dann Aufmerksamkeitsökonomien walten lassen. Außerdem bestünde die Gefahr, dass sich das Ganze in so einer bescheuerten Popstar-Pose verliert. Verflixt, wie dreh ich das bloß? Aus dem Kopfhörer jetzt: „You have to show them that you’re really not scared. You’re playin’ with your life, this ain’t no truth or dare. They’ll kick you, then they beat you, then they’ll tell you it’s fair. So beat it, but you wanna be bad. Just beat it, beat it, beat it, beat it. No one wants to be defeated. Showin’ how funky and strong is your fight. It doesn’t matter who’s wrong or right.”

Was bisher geschah – A local Hero´s Diary:
I: Drei Akkorde weiter…Klack

II: Alles in vollem Gange…Klack

III: Sex, Drogen & Godard…Klack

A local Hero´s Diary III: Sex, Drogen & Godard

Unser Gastautor Carsten Marc Pfeffer berichtet auch im dritten Teil wie seine Local Hero Woche in Bochum gelaufen ist.

Mittwoch, 14 Juli: Eine Ahnung von frisch aufgetragenem Chanel Nr. 5 kommt aus dem Bad. Sie ist also schon aufgestanden. Wenn sie zu Bett geht, dann sagt sie: „Ich mag keinen Kapitalismus, weil er mich ins Bett schickt, obwohl ich noch gar nicht müde bin.“ Jetzt ist sie wach und wuselt durch meine Wohnung, schon halb im Job. „Das ist alles deine Schuld“, hör ich sie rufen. Diesmal also nicht der Kapitalismus. Manchmal frag ich mich, ob ihr Kommunarden-Slang nicht bloß Fake ist. Immerhin hat sie sich in eine der reichsten Familien der Stadt eingeheiratet. Es gibt Orte, an denen bin ich für sie nur ein Schatten. So wie sie wiederum viele dunkle Stellen in meinen Songs markiert. Ein Hinweis, der vielleicht diese Indiskretion entschuldigt.

Mittlerweile habe ich mich auf die Couch begeben und lese ein wenig in Tender Bar von J.R. Moehringer. Ein großartiges Buch, sehr filmisch. Es erzählt meine Geschichte – aber das denke ich immer, wenn ich ein Buch lese. Manchmal sogar, wenn ich einen Film sehe. In der Küche wird ein Laptop heruntergefahren. Jetzt kommt sie rein und schaut mich mitleidig an. Leicht gelangweilt, aber ansprechbar.

„Kommst du Freitag zum Gig?“
„Wir sind doch bis Montag auf…“
„Dann Dienstag?“
„Dienstag.“

Irgendwie scheint die Local Hero Woche in Bochum heute eine Auszeit zu nehmen. Ich überfliege das heutige Kulturprogramm in der Tageszeitung und erkenne den Schwindel. Heute passiert nichts, was nicht auch sonst passiert wäre. Was natürlich nicht stimmt, weil ein imposantes Programm zusammengeschustert wurde, das auch einige Überraschungen bereithält. Doch fehlt zwischen Semesterkonzert und Fiege-Kino-Open-Air der besondere Kick. Herbert Grönemeyer mit Westerngitarre vor dem Bratwursthäuschen – das wär doch mal was. Da fallen mir gleich zwölf Überschriften zu ein. Doch es sieht so aus, als würden die Local Heroes einen Tag lang ihre Kraft sparen wollen, für das, was da noch kommt. Auch ich sollte mich etwas schonen und entscheide mich, bis Montag keine Pressejobs mehr anzunehmen. Immer wieder falle ich zurück in so nölige Phasen, besonders wenn ich Bahn fahre. Das muss an dem vielen Arbeiten liegen. Immer auf der Suche nach einem Thema, und immer wieder muss die größte Skrupellosigkeit mobilisiert werden, um all das zu Papier zu bringen. Dazu dieser nervennagende Zweifel, weil man weiß, dass man von dem Ganzen überhaupt keine Ahnung hat und nur ein Ignorant und ein Wahnsinniger ist. Dabei hatte ich mir doch für meine Songs das Nervenkostüm so sonderbar verzärtelt… – Es wird auch ohne Jobs gehen.

Agenten im Raucherkino

Um mich auf dem Laufenden zu halten, gehe ich ins Konkret. Ich hätte auch ins Tucholsky gehen können; ein Café um die frühe Mittagszeit ist der beste Platz für einen Journalisten. Die Leute wissen, dass man von der Presse ist und erzählen einem alles. Ein verstörender Trend. Aber vielleicht gibt es ein kollektives Verlangen zu beichten. Wie im Fernsehen. Vielleicht. Größer ist allerdings das Verlangen zu petzen. Was auch mir lieber ist, denn nichts schreibt sich besser als Aufreger. Da erscheint auch schon mein Informant. „Soll schwer was los gewesen sein, gestern beim Leo“, beginnt er. „Alles, was Rang und Namen hat in der FIFA hat auf seiner Dachterrasse gefeiert.“ So, so. Aber für solch einen Klamauk hatte ich ihn nicht ins Café bestellt. Nun schweigt er, als gelte es einen Wettkampf zu gewinnen. Für einen kurzen Augenblick muss an etwas ganz anderes denken, dann komme ich zurück zum Thema.

„Was ist mit der Liste?“
„Welche Liste?“
„Na, die Liste!“
„War schwer ranzukommen?“
„Wieviel?“
„War ‘ne Menge Arbeit.“
„Wieviel?“
„Meinen Deckel im Oblomow.“

In Ordnung. Die Liste ist es wert. Sie ist die Inkunabel einer Epoche, die wir alle nicht verstanden haben werden. Es ist der Cateringrider von Revolverheld, Stand 02.2010. Erst gestern hatten die Jungs im Rahmen der FIFA U-20-Frauen-WM ein Konzert auf dem Konrad-Adenauer-Platz gegeben. Hot. Ich liebe diese Liste. Sie ist zwei Seiten lang und besteht ausschließlich aus pointierten Schnullibulli-Wünschen. Ein Parceforceritt: „ab morgens bitte Salat – sehr gerne Antipasti – Rohkost – hochwertiger Käse (Comte, Allgäuer Bergkäse) – 2 Kisten 0,5 Liter EVIAN (Alternativ Vittel, Volvie, etc, wichtig: NULL Kohlensäure) – Abendessen: Grundsätzlich bitte so viel wie möglich Vollwertkost & aus biologischem Anbau! Danke! – 25 Vollkornsandwiches mit Käse und/oder Schinken inkl. Salatblatt (die Hälfte der Sandwiches bitte vegetarisch)“. Wunderbar. Mit der Ernährung fängt es an. Askese für das Ego. Was ist eigentlich aus dem guten alten Rock’n Roll geworden? Wie konnte da bloß die Diskurshoheit verloren gehen. Ich weiß noch, wie Andreas „Bär“ Läsker zur letzten DSDS-Staffel erklärte, dass das wilde Leben im Showbizz nur ein Gerücht sei. Schließlich, so der ehemalige Fanta4-Manager, erfordere es viel Leistungsbereitschaft, ein Popstar zu werden. Er wirkte so unglaublich sympathisch dabei. Das Mantra von Eigenverantwortung, Fleiß und Anpassungsfähigkeit – wer schaltet zuerst die Kiste aus? Wie kann man den Kids nur so einen Scheiß erzählen? Wo bleibt denn da die Verantwortung? Lasst sie doch saufen, kiffen und rumvögeln, verdammt noch mal! Popkultur ist Umbauplan. Muss man denn die letzten Nischen der Freizügigkeit den Parametern der Verwertbarkeit unterziehen? Es verschenkt sich doch von selbst! Es ist flauschig und will gedrückt werden. Auch ich sage mir jeden Tag: Carsten, du solltest mehr Drogen nehmen und dadurch dein gesamtes Bewusstsein verändern. Vielleicht könntest du so dein Herz öffnen und jemanden herein lassen. Dieses ganze Lokalmatador-Tagebuch bekäme den Sound eines brillanten Turbonegro-Songs. Allein, ich bin nicht so. Zog ich vor zehn Jahren noch mit meiner Old-School-Band kreuz und quer durch das Land, so bin ich heute ein alter, müder Mann. Natürlich nicht ganz so alt und müde, wie viele andere Männer in meinem Alter, aber auch kein Jungspund mehr. Was natürlich wunderbar ist. Vieles erübrigt sich in diesem Alter einfach. Das macht den Kopf frei für Wesentlicheres. Ich könnte jetzt beispielsweise eine Karriere starten. Abschlüsse sind vorhanden, die Empfehlungsschreiben anerkannter Professoren liegen vor, aber ach: wozu all das? Alles was ich im Augenblick wirklich will, das ist ein Slush Puppie mit Waldmeistergeschmack. ICE BLAST. Vielleicht schaffe ich mir einen Hund an. Wer weiß das schon? Frauen tragen T-Shirts, auf denen steht „I (Herz) N.Y.“ Dazu Soleil de Sicile, Resette Mediteranee, Perlier und der für Bochum so typische Baustellenlärm. Es ist ein wunderschöner Tag. Ein Hund wäre wirklich super. Ich liebe dieses Leben, und ich liebe den Beat dieser Stadt. Das einzige, was ich bedauere, ist, dass aus mir kein homosexueller Mann geworden ist. Die Homosexualität würde vieles in meinem Leben vereinfachen und außerdem viel besser zu meinem Lifestyle passen. Alles wäre ein großer starker Fluss. Doch so bleibt es kompliziert. Was schade ist. Aber letztendlich immer wieder handhabbar.

Zuhause bei Godard @ Kracauer

Warum sind die Gedanken da? Weil sie uns mitunter einen Spaß bereiten und uns einen magischen Schutz gewähren vor jeglicher Unbill des Lebens; die Hinführung zur ewigen Seligkeit und Amen. – Wenn ich mich jetzt beeile, dann schaffe ich es noch in mein Godard-Seminar. Irre. Ich bin seit Tagen so überdreht, dass mir schwindelt. Ein bisschen so wie Michael Douglas in WonderBoys. Nur ist meine Performanz kantiger, mehr ruhriger. Gleichsam muss ich irgendetwas an mir haben, dass es die Leute so stark zu mir hinzieht. Es ist schon sonderbar, wie sich alles bemüht ist, Wohlklang und Gefälligkeit in meiner Gegenwart auszuströmen. Ich habe das sehr gerne. Und so grüße ich nach links, lächele nach rechts, umarme ein Gauloises-PR-Mädchen und federe mit einem Hopsasa in das baufällige GB-Gebäude. Zum Schaden meiner Kniescheiben. Meine Güte, in zwei Tagen ist der Gig und ich bin gefangen in einem geriatrischen Körper. Wie macht das eigentlich Boris Gott? Ach ja, der ist ja jünger. Komisch, als ich ihn damals in der Dortmunder Nordstadt kennenlernte, wirkte er älter. Das muss ungefähr vor sieben Jahren gewesen sein, ich hatte mich gerade von Sylvia getrennt. Die schöne Zeit mit den Mountain Boys. Dieser Videoklipp, in dem ich einen schwulen Cowboy spiele, schade, dass er niemals ausgestrahlt wurde. Selbst Donata war ja damals noch in Dortmund, bevor sie die Bühne wechselte, um am Köpenicker Stadttheater zu spielen. Boris, weißt du noch? Neujahr, als sich Donata von dir in einem ALDI-Einkaufswagen durch die Nordstadt kutschieren ließ. Martin war dabei. Wer noch? Ich kam, glaube ich, erst gegen Mittag. Oder die Geburtstagparty bei Donata, die ich zu dieser Zeit schon Dolores nannte. Die Polizei hatte uns dreimal verwarnt, danach bekamen wir alle Hausverbot. Los, runter auf die Straße. Und was taten wir? Wir gingen einfach zwei Häuser weiter zu Daniel, wo ich bis in die Mittagsstunden aus Ilma Rakusas Love after love vertrug, bis ich mich schlafend gesungen hatte. Warst du da überhaupt dabei? Ich erinnere mich nicht mehr. Alles liegt übereinander und feilscht um Realpräsenz. Das Ganze hat einen gewissen Rhythmus und ergibt durchaus einen Sinn. Nur komme ich nicht mehr drauf, es fehlt die Tonspur. Die Stimme als Bild des Bewusstseins. Als fehlt der Kommentar von Godard, denkt ein Überleitungs-Junkie und drückt die Türklinke zum Seminarraum. Klopfen geht gar nicht, wenn man zu spät kommt. Auch sollte man sich nicht groß entschuldigen. Das stört nur den Flow. Ganz zu arrogant sollte man sich allerdings auch nicht gebärden, sondern durchaus ein bisschen Schuldgefühl durchblicken lassen und sich still auf seinen Platz setzen. Weitere Eskapaden, wie beispielsweise einen Apfel zu essen oder unter vorgetäuschter Notdurft den Raum zu verlassen, um eine Selbstgedrehte zu rauchen, sollten erst nach mehreren erfolgreichen Wortbeiträgen gewagt werden, wenn das Vertrauen wieder hergestellt ist. Logo, reinpoltern, die Anwesenheitsliste unterschreiben und beim Rausgehen zum Abschied die Tür knallen, ist auch beliebt. Aber nicht mein Niveau. Es ist halt alles eine Formfrage.

Die Kunst der Montage

Nehmen Sie Sergei Michailowitsch Eistenstein, beispielsweise Bronenosec Potemkin: „Kontrast auf allen Ebenen, vom Konflikt der graphischen Linien, Flächen und Bewegungen in der Abfolge der Einstellungen bis zu topologischen und ideologischen Gegenüberstellung“ (Metzler Filmlexikon). Dazu extreme Nahaufnahmen und eine Kamera, die die Gegensätzlichkeit von oben und unten überwinden will, und gerade deshalb diese immer wieder thematisiert. Allein diese Herangehensweise wäre für die Darstellung der Bochumer Local Hero Woche großartig. Aber es macht noch zu viel klick und klack. Alles ist hintereinander montiert. Die Heiligkeit der Bilder. Nehmen Sie dagegen Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinema und sagen Sie mit Deleuze einmal „Zeitkristall“. Es geht hier um Transsubstantion. Ist doch klar, dass Godard von André Bazin beeinflusst war. Und der konnte seinen Katholizismus eben nie ganz überwinden. Bilder: Spur nicht Zeichen. Aber eben auch immer Realpräsens, Turiner Grabtuch und so weiter. Godard flappt nun alles synkopisch übereinander. Na und? – Im Kino stellt sich das Ereignis in seiner Zeitigkeit eben selbst dar. Da darf man am Schneidetisch auch mal ‘ne Nase nehmen und die großen Register ziehen. So wird das Unsagbare sichtbar. Warum Kausalkomplexe pushen? Weltgeist kaputt. Nein, wir wollen keine Opfer übergehen. Hegel war ein Idiot. Schauen Sie sich das ruhig mal an. Hier können Sie was lernen.

Ansonsten lasse ich heute alles ausfallen. Keinen Bock das Set zu proben. Die Songs sind noch nicht fertig und werden es auch nicht. Es ist mir egal. Egal, ob ich mich verspiele, den Text vergesse und mich aufführe wie ein weinerliches Kind. Mir ist nie irgendetwas peinlich. Ich kann überhaupt nicht so denken. Ich will einfach nur dabei sein, wenn es passiert. Ich und Boris Gott, Freitag ab 19:30 im Zacher. Fucking Hell. Ach Boris, du weißt, dass ich nicht Gitarre spielen kann, dass ich nicht singen kann, und dass es mit mir immer ein Abendteuer ist, weil meine Launen sehr stark sein können. Weshalb mache ich das alles überhaupt? Wegen dir, Boris. Ich möchte, dass du in der Brüderstraße ankommst und dich wohl fühlst. Weil wir Freunde sind. Seit Tagen dudel ich deine LPs rauf und runter. Alles deine Songs kenne ich auswendig. Natürlich frage ich mich, wie aus dir so ein großer Liedermacher werden konnte, während ich ein Vormittagsphantast geblieben bin. Aber ich frage mich das ohne Neid. Weil ich dich liebe. Weil ich deine Freundin liebe. Und weil ich die Dortmunder Nordstadt liebe. Boris, sieh doch nur, wie die Sonne untergeht. Die ganze Stadt verwandelt sich in einen Café cortado leche y leche. Ich will doch einfach nur in deiner Nähe sein, wenn du singst: „Engel wie wir sind keine Engel. Große Fresse und schon zu viel Scheiß gebaut. Wir weinen heimlich nur im Kino. Wir haben dickes Fell, darunter dünne Haut.“

Wir werden das alles ganz neu erfinden müssen. Es geht auch nicht mehr mit unseren Wohnungen. Wie kann man nur so leben? Seit Amsterdam habe ich nicht mehr gespült, dazu die Haufen aus Wäsche, CDs und Büchern, die sich in der ganzen Wohnung verteilen. Ein Plakat von Ian Curtis über dem Bett in zweifacher Ausführung, Seriation und so. Ich schaue in den Spiegel und mache Bäh. Dann rufe ich sie nochmal an. Vielleicht kann sie sich ja für einen Augenblick davonstehlen. Unsere Stimmen – ein Flügelschlag: War ein böser Tag heute, ja? Bin ich ein böser Mann, ja? – Komm mach mich müde, Kleines. Komm erzähl mir aus deinem Leben.

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John Cale: „I come from Wales…“

In den 80ern stritten mein Freund Atta und ich häufig über die Frage, wer der wichtigere Mann bei Velvet Underground war: John Cale oder Lou Reed? Die Frage darf mittlerweile als beantwortet gelten: John Cale natürlich. Morgen und übermorgen ist er in Essen zu sehen.

Und auf einmal steht er da rum: Dreiviertel-Cargo-Hose, weiße Haare, Turnschuhe. Der Mann hat sich gut gehalten.  John Cale im Salzlager der Zeche Zollverein. Nur wenige Journalisten sind gekommen. Das ist schade, denn sie haben einen der wichtigsten Musiker der letzten 50 Jahre verpasst. John Cale war Mitgründer von Velvet Underground. Als er 1968 rausgeworfen wurde, wurde Velvet langweilig. Cale hat so fantastischer Platten wie Paris 1919 oder Hobosapiens aufgenommen. Seine Solo-Klavier-Version von Heartbreak-Hotel ist der ideale Soundtrack zum eigenen Selbstmord. Ich kenne kein Stück das so tieftraurig ist.

John Cale ist allerdings nicht nur begnadeter Rockmusiker. Er hat klassische Musik studiert, mit John Cage noch vor der Velvet-Zeit die Minimal Musik geprägt und zahlreiche Musikperformances gemacht. Und klar, natürlich auch Filmmusik.

In Essen wird John Cale morgen und übermorgen im Salzlager „Dyddiau Du – Dunkle Tage“ aufführen. Im Rahmen des Festivals Theater der Welt. Ein Konzert zu fünf Filmen über seine Heimat Wales. Cale ist in dem Bergarbeiterdorf Garnat aufgewachsen. Sein Vater war ein aus England zugezogener Bergmann. Und nach allem was Cale im Halbdunkel des Salzlagers, umgeben von den großformatigen Stills der Filme, erzählt, war Garnat ein harter, trauriger Ort. Musik am Sonntag? Gab es nicht. Wenn der junge John im Radio Brahms oder Schostakowitsch hören wollte, ging das nicht. Der Vormittag gehört Gott und das einzige Geräusch, das die Stille des Morgens unterbrach, waren die Schritte der Kumpels auf dem Weg zur Kirche. Eindrücke, die sich in Dunkle Tage wieder finden.
John Cale erzählt viel von sich an diesem Nachmittag im Salzlager: Dass er von seiner Großmutter aufgezogen wurde. Und dass die seinen Vater lange nicht mochte: Kein Engländer in der Familie! Als sie ihre Meinung änderte, war ihr Lebenszeit fast abgelaufen. Dass die Mutter abhaute, als er elf war. Cale wusste nicht warum und niemand beantwortete seine Fragen. Über so etwas redete man nicht im Wales der 50er. Seine Großmutter hat ihn geprägt, gefördert und Mut gemacht. Man hört in Cales Sätzen noch immer seine tiefe Liebe zu ihr.

Das Bergarbeiter-Wales in dem John Cale aufwuchs und dass er früh verließ, um London Musik zu studieren, war ein harter Ort. Ein Ort, den es so nicht mehr gibt. Mitte der 80er Jahre ging der Bergbau Groß-Britanniens unter. Die Bergleute wehrten sich mit einem Streik gegen Thatchers Politik, der das Land an den Rand des Abgrunds führte. Streikführer Arthur Scargill avancierte zu einem Popstar. Bands wie Wham und Style Council gaben im Wembley Stadion Benefiz-Konzerte für die Kumpels. Test Dept. lieferte den atonalen Soundtrack zum Klassenkampf. Genutzt hat das alles nichts.

Garnant ist heute ein sterbender Ort. Es gibt ein wenig Tourismus. Paraglider mögen Garnant. Wikipedia weiß von einem Golfplatz. Die Einwohnerzahl kennt das Online-Lexikon nicht. Die Filme zu der Cale improvisieren wird, zeigen dann auch Bilder eines sterbenden Ortes. Bilder von Verlusten. Verfallene Gebäude, leer Häuser. Auch das Haus in dem Cale aufwuchs ist zu sehen. Ein harte Kontrast zur Musealisierung des Ruhrgebiets. Über 1000 Industriedenkmäler gibt es heute hier. Eine Entwicklung, die Cale gut findet. Er bedauert den Verfall seiner Heimat und man sich allmählich kaum noch eine Vorstellung von der Vergangenheit machen kann. Das Ruhrgebiet kennt er gut. Dutzende von Konzerte hat er hier gegeben.

Ist John Cales Arbeit melancholisch? Sicher. Aber der Mann ist es nicht. Cale ist ein großer Erzähler. Auch am gestrige Nachmittag. Und er erzählt unprätentiös, offen und sehr persönlich. John Cale begegnen zu dürfen war ein Geschenk. Ein großes.

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