Aus dem All besehen
Es bleibt zwar weiterhin eine unlösbare Aufgabe, jemandem von außerhalb zu erklären, wo und was das Ruhrgebiet ist. (Do you know Cologne?) Aber dafür geistert seit einigen Jahren dieser Beweis für die eigentlich unübersehbare kontinentale Großbedeutung des Ruhrgebiets durch Pressearbeit: Denn vom All aus gesehen ließen sich des Nachts überhaupt nur drei helle europäische Lichtpunkte erkennen: die Großräume von Paris und London, sowie das Ruhrgebiet. Und weil es ein ziemlich gutes Gefühl ist, zwar komplett unbekannt aber insgeheim doch wichtig zu sein wie Paris, London, bietet der Regionalverband Ruhrgebiet eine dieser Nachtaufnahmen Europas auch zum Download an. Etwas verräterisch firmiert die Aufnahme (oben links) dort als "Illustration" der "Ruhr.2010". Und Illustration trifft es gut. Man könnte auch böse sagen: Schönfärberei, Verdummung, Verfälschung.
Ausgerechnet eine Werbepostille, die "reiseWELT 01.2009" von Welt (Springer), CP-Compartner (Essen) und Bertelsmann (Gütersloh) belegt jetzt, wie sich Ruhr-Lobbyisten ihr Gebiet seit Jahren künstlich aufgeblasen haben. Eine Aufnahme der NASA (Abbildung rechts) zeigt auf Seite 7 nämlich nicht, wie es in der naiven Bildbeschriftung heißt, "die energetischen Brennpunkte Europas: London, Paris und die Metropole Ruhr", sondern ein mitteleuropäisches Lichtermeer.: Belgische Autobahnen und Brüssel, das gleißende Nordholland, leuchtendes Nordengland, Glasgow-Edinburgh, Stockholm. Berlin wurde hier wieder mal geteilt, nur ein Stück ist zu sehen, ganz zu schweigen von Moskau, Warschau, Rom…
Noch ein Wort zur "reiseWELT". Das Joint-Venture von Springer, Bertelsmann und der Essener Platzhirsch-Agentur mit besten Verbindungen zu Regionalverband Ruhrund vor allem zur Ruhr Tourismus GmbH ist ingesamt ziemlich durchsichtig ausgefallen: Einer doppelseitigen Anzeige des NRW-Wirtschaftsministeriums folgt ein doppelseitiges Gespräch mit der Ministerin Christan Thoben. Anzeigen der Ruhr Tourismus GmbH und der Ruhr 2010 auf ein Vorwort von Fritz Pleitgen (2010) und Axel Biermann (RTG). Die einschlägigen öffentlich-rechtlichen Anzeigenschalter überwiegen deutlich – was an der Finanzkrise leigen mag oder doch an der etatistischen Tradition des Ruhrgebietes. Schwer staatstragend darf natürlich auch MP Rüttgers sein Grußwort abgeben und sich über das "spektakuläre Satellitenbild" freuen: "Im Herzen des Kontinents strahlen Millionen Lichter der Metropole Ruhr (…) Mehr als ein Foto (…) ein Symbol für die Veränderungen in der Region". Würd ma sagen: geht so.
3 für 7 – Die Veranstaltungen der Woche
Endlich Herbst! Allerorten packen Menschen ihre Badehosen wieder ein und erinnern sich ihres anderen Selbst als Kultur- und Politikinteressierte. Für die Ruhrbarone bedeutet dies natürlich zum einen Klicks bis zum Abwinken – nicht zuletzt dank dieser hochwertigen wöchentlichen Kolumne – zum anderen die Gelegenheit, sich so richtig ehrenwerten Häusern der Gegend gegenüber mal absolut gönnerhaft zu zeigen. Heute der Lichtburg, dem Aalto und dem Landschaftspark.
Deutschlandpremiere eines Kinofilms in Essen. Das bedeutet hier was, und die Filmfreunde und Bunte-Leser scharen sich um den roten Teppich. Ist das so? Nun, jedenfalls gilt das Augenmerk (der Kameras) auch beim Start von „Krabat“ sicher wieder dem anwesenden Schaupielervolk. Kommt Stadlober? Die Thalbach? Und wie hübsch ist eigentlich Paula Katenberg wirklich? So etwas halt. Der Film, der eigentliche Star also, spielt im späten Mittelalter und ist eine Verfilmung des Romans von Ottfried Preußler. Schauplatz ist eine alte Mühle um die herum sich natürlich extreme menschliche Dramen abspielen. Regiesseur Marco Kreuzpaintner setzt auf Atmosphäre und einige Zitate aus der Filmgeschichte und spielt bei aller Historizität die gute alte „Magie“-Karte ohne mit der Wimper zu zucken.
Christoph Schlingensief (Foto: Aino Labernez) reformiert seine Church Of Fear in Duisburg. Premiere war schon, die Kritik erscheint hier am Mittwoch. Also bleibt auf die weiteren Termine (unten) hinzuweisen und zu erzählen, wie der Autor dieser Zeilen von der RuhrTriennale hören durfte dass der Vorzeige-Mülheimer im Vorfeld mehr als dreimal das Gesamtkonzept umgeworfen hat. Dann schließlich suchte er per Anzeige nach „exotisch aussehenden Frauen“ für sein Triennale-Stück „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Aha, soso. Und ansonsten redet er etwas viel über Tod und Religion zur Zeit, oder? Naja, er wird halt auch zuviel danach gefragt. Genau: Christoph Schlingensief ist Nick Cave.
Nun schnell was Amtliches: Jubiläumskonzert „20 Jahre Aalto-Theater“. Da werden durch den Besuch allein Karmapunkte in Ehrenwertenhausen gemacht auf dass die Beförderung nur eine Frage der Zeit sein kann. Und die Söhne und Töchter spielen Prinz und Prinzessin. Ein wunderbarer „Event“ also, vom Programm her geht es eher „á la casa“ zu mit dem Aalto Ballett Theater, den Philharmonikern, dem Opernchor und Gesangssolisten. Aber seit der „Spiegel“ sein Herz endgültig für das (Anzeigengeld aus dem) Ruhrgebiet entdeckt hat, ist das Opernhaus ja sogar vor Lob wie „Aufstieg in die Champions League der europäischen Opernszene“ nicht sicher. Da freuen sich doch alle, bestimmt auch der RWE.
Im Überblick:
Deutschlandpremiere von „Krabat“ in der Lichtburg: Dienstag, 23. September, 20 Uhr.
“Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ von Christoph Schlingensief in der Gebläsehalle des Landschaftsparks: Dienstag, 23. September, ab 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen zur selben Uhrzeit: 25., 26. und 28. September.
Jubiläumskonzert „20 Jahre Aalto-Theater“: Donnerstag, 25. September, 19.30 Uhr.
3 für 7 – Ausgehtipps am Dienstag
Aus der unglaublichen Fülle der Veranstaltungen der Woche im Ruhrgebiet auch diesmal drei im Grunde unerlässliche. Wie immer wöchentlich und frisch zum Dienstagmorgen, und auch Mitte September eine ordentliche Haribo-Mischung: Iggy & the Stooges, ein modernes Puppentheater und (noch) ein Ausnahmezustand. Bitte was? Bitte weiterlesen:
Die Stooges waren wer? Genau, zunächst einmal waren das drei amerikanische Komiker. Und dann nannte sich eine Band aus Michigan nach ihnen, zunächst noch als The Psychedelic Stooges. Songs? Z.B. „Search and Destroy“, „I Wanna Be Your Dog“, „No Fun“, „1969“. Und anschließend wurde ihr Sänger Iggy Pop zu einem wichtigen Bezugspunkt von u.a. David Bowie und der Punkbewegung. Songs? Z.B. „The Passenger“, „Lust For Life“, „Candy“, „Louie Louie“. Und nun sind Iggy Pop und die Asheton-Brüder zusammen mit Mike Watt (Minutemen, fIREHOSE) am Bass mit neuem Album in (Bochums) RuhrCongress – das Amphitheater Gelsenkirchen hat mal wieder Pech mit dem Karma, das Konzert wurde verlegt.
Und RuhrTriennale und Zollverein (in Essen) auf einen Streich beglückend: Die große Figurenkunst (in englischer Sprache) des Stuffed Puppet Theatre. Bis jetzt kommen die Inszenierungen der Triennale in der Presse ungewöhnlich schlecht weg, vielleicht rettet ein modernes Puppentheater ja die Saison (für die Kollegen). Im Rahmen der FiDeNa (mit vielen weiteren empfehlenswerten Aufführungen an teils „geheimen“ Orten vor allem in Bochum) erzählt „Cuniculus“ die Geschichte einer Reise aus der Unterwelt in das wahre Leben. Untertitel: „Eine Menschwerdung“ – was wohl nicht allzu wörtlich zu nehmen ist, denn Puppe bleibt Puppe. Oder?
Quasi die ultimative Mischung aus obigen Veranstaltungen: Schorsch Kamerun und sein Stück „Westwärts – ein begehbarer Ausnahmezustand“ in der Maschinenhalle (in Gladbeck-Zweckel). Der Autor dieser Zeilen war sogar beim Casting, wurde aber nicht genommen: „Kein Gladbecker“ hieß es. Und nun dürfen halt 100 im engen Sinne Ortsansässige in der Halle spielen, was man tun könnte wenn man sich plötzlich shanghait und eingesperrt wiederfindet während draußen wohl gerade eine Art Putsch passiert ist. Dazu: Texte von Rolf-Dieter Brinkmann, Musik von Carl Oesterhelt (FSK) und eine durchsichtige Röhre durch die das Publikum geleitet wird. Daher auch die drei „Schwünge“ in punkto Einlass, wie direkt im Anschluss zu lesen.
Im Überblick:
Iggy & the Stooges im RuhrCongress: Dienstag, 16. September, ab 20 Uhr.
Premiere von “Cuniculus“ vom Stuffed Puppet Theatre bei PACT Zollverein: Donnerstag, 18. September, ab 20 Uhr. Weitere Vorstellungen zur selben Uhrzeit: 19. und 20. September.
Premiere von “Westwärts“ von Schorsch Kamerun und Katja Eichbaum in der Maschinenhalle: Samstag, 20. September, ab 19, 19.20 und 19.40 Uhr. Weitere Vorstellungen zu denselben Uhrzeiten: 21., 24., 26. und 27. September.
3 FÜR 7 ? Die wöchentlichen Ausgehtipps am Dienstag
Zum zweiten Mal drei Veranstaltungshinweise für alle und keineN – und vor allem: für die kommenden sieben Tage im Ruhrgebiet. Diesmal eine lange und eine kurze Nacht – und (schon wieder) die Ruhrtriennale. Aber der Reihe nach:
Schon wieder Jahrhunderthalle (in Bochum), und noch einmal Ruhrtriennale. Aber die Kapazitäten wollen ja ausgeschöpft sein, und nicht zuletzt geht es um Luc Bondy (Thalia Theater, Berliner Schaubühne, Salzburger Festspiele, Wiener Festwochen). Dieser renommierte Regisseur ist in diesem Jahr mit einer Filmreihe im Casablanca-Theater, einem Soiree, „König Lear“ und „La Seconde Surprise D´Amour“ vertreten. Letztere Inszenierung basiert auf einer Modernisierung des Stoffes von Marivuax, dessen „Triumph der Liebe“ Bondy (Foto von David Baltzer / Zenit) ebenfalls schon auf die Bühne gebracht hat: Zwei Liebende nähern sich nach schweren Verlusterlebnissen einander an, aber „Liebe darf nicht Liebe genannt werden, Eifersucht nicht Eifersucht sein“, wie es so schön im Begleittext heißt. Ganz klar eines der Highlights der Triennale 2008!
Etwas völlig anderes vielleicht? Stadtentwicklung in Duisburg ist das Thema der 10. Nacht der Architektur, veranstaltet vom Bund Deutscher Architekten und dem Wilhelm-Lehmbruck-Museum. Leider ist der Anmeldetermin für die zweistündige Bustour mittlerweile abgelaufen, aber der Abend im Skulpturenhof des Museums bietet neben einer hochrangigen Gesprächsrunde mit u.a. Dr. Reinhard Seiß, der auch am Beispiel Wien über Stadtentwicklung referiert, die klassische „Nacht im Museum“ sowie Musik, Imbiss und hoffentlich auch viele wertvolle Anregungen.
Und dann? Nun, eine merkwürdige Dopplung an diesem Samstag, aber Mülheim soll hier auf keinen Fall verschwiegen werden. Ist nämlich weniger nach Stadtpolitik sondern mehr nach Kunst, dann lohnt der Weg zur 7. Mülheimer Museumsnacht. Neun Museen halten ihre Pforten bis kurz vor Mitternacht geöffnet und haben neben den aktuellen Ausstellungen von Lesungen über Installationen, Magie und Jongleure bis hin zu Livemusik ein angenehmes Begleitprogramm parat. Es sind extra Shuttlebusse eingerichtet, und der Preis sei ausnahmsweise auch einmal genannt: 5 Euro pro Person. Das klingt doch nach einem entspannten Abend in Mülheims schönsten Kulturhäusern. Aber nichts gegen Duisburg!
Im Überblick:
Premiere von “La Seconde Surprise D´Amour” in der Jahrhunderthalle: Dienstag, 9. September, ab 20 Uhr. Weitere Vorstellungen zur selben Uhrzeit: 10. und 11. September.
„10. Nacht der Architektur“ im Wilhelm-Lehmbruck-Museum: Samstag, 10. September, ab 18.30 Uhr.
„7. Mülheimer Museumsnacht“, vielleicht begonnen am Rathausmarkt nahe des Hauptbahnhofs: Samstag, 10. September, ab 18 Uhr.
Dortmund führt Arbeitslosenstatistik in NRW an
Mit einer Arbeitslosenquote von 14,8 Prozent ist Dortmund der Arbeitsagenturbezirk mit den meisten Arbeitslosen in NRW.
Dortmund hat damit den langjährigen Spitzenreiter (und Erzrivalen beim Fußball) Gelsenkirchen von seinem angestammten letzten Platz verdrängt. Im Juli lag die Quote nach Angaben der Arbeitsagentur NRW im Bezirk Gelsenkirchen bei 14,7 Prozent. Noch im Juni hatte der Bezirk um die Emscherstadt mit Dortmund gleichauf gelegen. Im Juli 2007 lag der Arbeitsamtsbezirk Gelsenkirchen mit 16,1 Prozent noch deutlich vor Dortmund.
Es stellen sich zwei Fragen: Was macht Gelsenkirchen besser und was macht Dortmund schlechter?
Die Metropole der leeren Hallen
Ein zugespitztes Interview zur Konzertsituation im Ruhrgebiet mit Marcus Kalbitzer von der Kulturzentrale
Herr Kalbitzer, im Ruhrgebiet stehen so viele – wie es heißt – wunderschöne Hallen die meiste Zeit leer. Warum finden da eigentlich keine hochkarätigen Konzerte statt?
Wunderschöne Hallen sind nicht per se wunderschöne Konzertstätten. Manche dieser Orte liegen ungünstig oder ihnen fehlt eine regelmäßige Bespielung, um sie in der Wahrnehmung des potentiellen Publikums zu verankern. Andere wiederum sind infrastrukturell für eine Konzertsituation nicht ausgelegt oder es liegen keine ordnungsbehördlichen Genehmigungen vor, um dort entsprechende Veranstaltungen durchzuführen. Aber Fakt ist auch, da gebe ich Ihnen Recht, dass einige Veranstaltungsstätten programmatisch schlecht aufgestellt sind. Was fehlt, sind Konzepte, Visionen und vielleicht auch der Mut, diese Örtlichkeiten intelligent zu bespielen. Das ist sehr schade und für das Ruhrgebiet letztlich ein Problem.
Die Musikindustrie ruft in Zeiten schlechter Tonträgerverkäufe derzeit immer wieder das Mantra vom boomenden Konzertgeschäft vom Turm herab. Was ist daran Realität, was Imagekampagne?
Das Konzertgeschäft entwickelt sich zunehmend zu einer der Haupteinnahmequellen der Künstler und der Musikindustrie. Früher wurde eine Band auf Tour geschickt, um ein aktuelles Album zu promoten und zu verkaufen. Heute dient ein neuer Tonträger dazu, der Band die Möglichkeit zu geben, eine Tour zu planen, Konzerte zu spielen. Der musikalische Output eines Künstlers ist mittlerweile ja fast frei im Internet verfügbar, die Absatzzahlen von Tonträgern gehen immer weiter in den Keller. Daher hat dieses „Mantra“ seine Berechtigung. Doch auch hier gilt es zu unterscheiden. Was für den Mainstream gilt, muss sich in den Nischen nicht zwangsläufig widerspiegeln. Die kleinen, abseitigen Themen haben es heute insgesamt schwerer als früher. Das gilt sowohl für den Tonträgerverkauf als auch für das Konzertgeschäft.
Auch im Ruhrgebiet gibt es nach wie vor viele Opinionleader die es schaffen Publikum zu Trendveranstaltungen zu locken. Ist Lokalpatriotismus aber überhaupt nachhaltig trendfähig oder geht all der 2010-Hype eher an den mehr international orientierten Trendsettern vorbei? Oder anders gefragt: Braucht die Region jetzt einfach einen von Stefan Raab – oder besser MySpace – gebastelten Vorzeigestar von der Ruhr, damit´s noch klappt mit der Szeneanbindung?
Idealerweise findet beides statt. Um wettbewerbsfähig zu sein, müssen internationale und nationale Künstler im Ruhrgebiet veranstaltet werden. Das ist eine Frage des Standortmarketings. Nur wenn herausragende Events in dieser Region stattfinden, wird der Blick auch von außen auf das Ruhrgebiet gelenkt. Und nur dann können wir den Menschen hier vermitteln, dass ihr Umfeld, in dem sie leben und arbeiten, eine Wertigkeit besitzt. Es gibt etliche Künstler aus der Region, die nationale oder sogar internationale Relevanz besitzen, zu Hause aber kaum wahrgenommen werden. Das ist bisweilen sicherlich frustrierend. Man muss verhindern, dass diese kreativen Köpfe dem Ruhrgebiet den Rücken kehren, um anderswo erfolgreicher arbeiten zu können. Natürlich ist auch eine gehörige Portion Lokalpatriotismus notwendig. Sonst ist der Standort Ruhrgebiet nicht zukunftsfähig. Aber das gilt für Köln oder Hamburg genauso.
Der Standort „U“ in Dortmund kommt gerade mit einer Konzerthalle für Blues und Altherren-Garagenrock in die Medien. Müssen wir uns da auf einen weiteren Backlash einrichten bevor es auch nur eine tragfähige Band „von hier“ geschafft hat? Oder wird da einfach nur mutwillig eine weitere Provinz-Katastrophe produziert, damit einige Leute anschließend „nachhaltig“ etwas zu retten haben?
Vielleicht ist genau das die musikalische Zukunft des Ruhrgebietes, denn wir stehen doch vor einer problematischen Altersstruktur. Die Schätzungen der Sachverständigen gehen davon aus, dass das Ruhrgebiet bis zum Jahr 2015 ca. 370.000 Einwohner verlieren wird. Die Region ist „überaltert“. Aber im Ernst, genau diesen Trend gilt es doch zu stoppen, indem man sich als Standort attraktiv aufstellt und den Zuzug kreativer Menschen fördert bzw. ihren Wegzug aufhält. Ich hätte im Übrigen nichts dagegen, mir die Jon Spencer Blues Explosion in Dortmund anzuschauen. Dann müsste ich nicht nach Köln fahren.
Abschließend: Wer bucht eigentlich immer diese irrelevanten und unattraktiven Acts auf beinahe alle Großveranstaltungen der Region? Sind die Budgets zu knapp oder sind die meisten Konzertveranstalter geistig schon in der Rentnergeneration angekommen?
Schwer zu beurteilen. Vielleicht eine Mischung aus beidem. Ich bin jedenfalls nicht dafür verantwortlich.
Die Fragen stellte Jens Kobler, das Foto ist von Marcus Kalbitzer
Ein Fall für DiCaprio: Das Leben kommt zurück nach Oer-Erkenschwick
Egal von wo man kommt, der Förderturm des Bergwerks ist das erste, was man von Oer-Erkenschwick sieht. „Andere haben eine Kirche in der Mitte, wir haben die Zeche“, sagte einmal der ehemalige Bürgermeister Clemens Peick. Die Zeiten sind vorbei, die Zeche schon Jahre geschlossen – doch jetzt geht es endlich weiter auf dem Zechengelände. Am kommenden Dienstag wird der Rat wohl beschließen, zehn Hektar von „Ewald-Fortsetzung“ zu kaufen.
Die verlassene Zeche in der Stimbergstadt – jetzt gibt es wieder große Pläne für das 64 Hektar große Gelände. Foto: Mengedoht
In Oer-Erkenschwick, für viele Bundesbürger ein Synonym für das Ruhrgebiet schlechthin, kann man den Klischees vom „Pott“ nur schwer ausweichen. Statt einer Kirche ein Bergwerk mitten im Stadtzentrum, auch das hat etwas. Der 79 Meter hohe Förderturm aus Stahlbeton beherrscht noch heute das Stadtbild. Nur ein paar Dutzend Meter weiter stehen im Schatten der Zeche das Rathaus, die Post und klobige Kaufhäuser am Berliner Platz, ein Großteil der gut 30.000 Einwohner lebt noch immer in den „Kolonien“, Zechensiedlungen, die vom Bergwerk gebaut wurden.
Das wurde 1899 errichtet, schon 1906 waren auf „Ewald-Fortsetzung“ 1.600 Bergleute beschäftigt. Die Einwohnerzahl erhöht sich in den 20er Jahren von 1.000 auf 13.500 – der große Bedarf an Arbeitskräften wurde mit Menschen vor allem aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs gedeckt, neben Slowenen aus der Steiermark und Krain (Österreich), Masuren und Polen deutscher Staatsangehörigkeit auch Schlesier, Sachsen, Saarländer, Bayern sowie Tschechen und Ungarn.
Nach der Weltwirtschaftskrise wurde die Zeche von 1931 bis 1938 geschlossen und Oer-Erkenschwick war mit 80 Prozent Arbeitslosen ärmste Gemeinde Preußens. Nach dem Krieg brummte es, bis 1957. Erst vier Jahre zuvor hatte Oer-Erkenschwick die Stadtrechte erhalten, ist eine der jüngsten Städte nicht nur des Ruhrgebiets – obwohl einzelne Stadtteile schon vor bald 900 Jahren Erwähnung fanden.
4.500 Kumpel fuhren zu dieser Blütezeit ein und förderten 5.000 Tonnen Kohle täglich. So wurde 1959 der große Förderturm errichtet, 1960 die Zechenbahn nach Suderwich zum Kanalhafen eröffnet. Gleichzeitig wurde die Werksbahn nach Sinsen nach über einem halben Jahrhundert Betrieb stillgelegt. Durch diese Modernisierungen konnte die alte Schachtanlage bis in die 70er Jahre hinein betrieben werden, bevor die Belegschaft ab 1977 zur neuen Anlage „An der Haard 1“ wechselte.
Doch seit dem Ende der 50er begann der jahrzehntelange Abstieg. 1960 gab es in der Stimbergstadt nur noch 3.600 Bergleute, 1968 noch 2.227 Kumpels. Zu der Zeit gingen die Zechen in der Ruhrkohle AG auf, „Ewald-Fortsetzung“ überlebte als Bergwerk nur auf Kosten der Nachbarzeche „Emscher-Lippe“ in Datteln. 1992 wurde die Zeche mit „General Blumenthal“ in Recklinghausen zusammengelegt und der Schacht geschlossen. Gesprengt oder abgerissen wurden neben dem 70 Meter hohen Schornstein auch die Kokerei, das Kraftwerk, Kühltürme, Gasometer und Stickstoffwerk, 99 das Bergwerk aufgegeben.
2001 wurde das Verbundbergwerk „Blumenthal/Haard“ mit „Auguste Victoria“ in Marl zu „AV/Blumenthal“ zusammengelegt, doch seit auch die Schächte in Haltern verfüllt sind, heißt dieses Bergwerk mit 3.800 Bergmännern seit letztem Jahr wieder „Auguste Victoria“ – keine Erinnerung mehr an Oer-Erkenschwick, außer den leeren Gebäuden auf dem Zechengelände mitten in der Stadt.
Nach 100-jähriger Bergbaugeschichte hat die Stimbergstadt mittlerweile ihre Abhängigkeit von der so dominanten Kohle verloren. Ein völliger wirtschaftlicher und sozialer Niedergang konnte verhindert werden, mit der Ausweisung neuer Gewerbe- und Industrieflächen wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, auch wenn die Arbeitslosigkeit noch immer hoch ist. Größter Arbeitgeber der Stadt ist heute die Fleisch- und Wurstwarenfabrik Barfuss. Die meisten Oer-Erkenschwicker arbeiten heute außerhalb und die Stadt versteht sich immer mehr als Wohn- und Freizeitstadt.
Dazu gepasst hätte der Traum eines Erkenschwickers, aus der Bergehalde einen Golfplatz zu machen. Das war vor elf Jahren… Und jetzt?
Die Entwicklung auf dem prägenden Zechengelände kommt auf Trab. Die Stadt wird – vorbehaltlich der Zustimmung des Rates am Dienstag – die etwa zehn Hektar große südliche Fläche der Schachtanlage von der RAG erwerben, wie Bürgermeister Achim Menge und Professor Hans-Peter Noll, Vorsitzender der Geschäftsführung der Montan-Grundstücksgesellschaft (MGG) Ende Januar bekanntgaben. „Die Beiträge für den Ankauf sind schon jetzt in den Haushalt eingestellt“, erklärt der Bürgermeister.
„Mit der hochwertigen und innenstadtbezogenen Nutzungsplanung können wir endlich eine Lücke im Zentrum der Stadt schließen und sind auf dem besten Wege, die Entwicklung der ehemaligen Zechenbrache zum Abschluss zu bringen.“ Das Schachtgerüst soll als „Denkmal und Leuchtturm“ erhalten bleiben und die lange, gute Zusammenarbeit der Stadt mit dem Bergbau dokumentieren.
Die MGG hat mit der Verwaltung zusammen das Konzept erarbeitet, das auf der Südfläche eine Wohnnutzung mit Einrichtungen für die Gesundheitswirtschaft vorsieht. Schon im letzten Jahr hatte die Stadt die historischen Gebäude Fördermaschinenhaus und Ausbildung samt Lehrstollen erworben, der Geschichts- und Heimatverein bekam das Maschinenhaus, 33.000 Quadramteter mit Verwaltung, Lohnhalle und Kaue sicherte sich die „Ewald-Fortsetzung Immobilien GmbH“ und 16.000 Quadratmeter erwarb das Gerüstbauunternehmen Eickermann.
Geplant ist ein Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit nach dem Konzept des Instituts für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. Zusammen mit der Vestischen Kinderklinik in Datteln und der Uni Witten/Herdecke sollen adipöse, also stark übergewichtige Kinder und Jugendliche wohnortnah betreut werden, finanziert von Versicherungen und Sozialhilfeträgern. In die Kaue sollen unter dem Schwerpunkt-Motto „regenerative Energie Mensch“ Reha-Angebote einziehen, eine Ernährungsberatung mit Lehrküche, ein Tanzstudio und weitere Gesundheitsdienstleister.
Im Bereich der Lichthalle und der angrenzenden Büros sieht Diplom-Ingenieur Ludger Heine, Projektleiter des Investors Ewald-Fortsetzung Immobilien GmbH, Unternehmenansiedlungen im Bereich Energie, Strom und Wärme vor, vom Kleinblockheizkraftwerk über Anbieter von Wärmepumpen, Solartechnik und Biogasanlagen bis zu Holzpellets-Heizungen.
Die Entwicklung der Flächen sei Bestandteil des Fernwärmekonzepts für Oer-Erkenschwick. „Als wir 2006 vom MGG-Wettbewerb ‚Chance Denkmal‘ erfuhren, interessierten wir uns sofort für Verwaltungsgebäude, Lohnhalle und Kaue und durch die guten Kontakte zur Stadt war auch frühzeitig die Nutzungsidee klar, hier ein Zentrum für regenerative Energien einzurichten“, erklärt Heine.
Nicht zuletzt ist auch die Halde unter Dach und Fach. Die hat im Dezember der Regionalverband Ruhr (RVR) übernommen und baut zu einem Naherholungsgebiet aus, das ab 2008 für 350.000 Euro Stück für Stück für die Bevölkerung geöffnet werden soll, mit 14 Kilometern Rad- und Spazierwegen. Damit sind nun 95 Prozent der 64 Hektar großen Schachtanlage einer neuen Nutzung zugeführt, freut sich MGG-Chef Noll.
„Für Oer-Erkenschwick ist das ein Zeichen, auf das seine Bürger lange gewartet haben: Unmittelbar in Nachbarschaft des Zentrums kommt jetzt wieder das Leben zurück und damit Arbeitskräfte und Wirtschaftskraft“, frohlockt auch Bürgermeister Menge.
Somit könnte, wenn alles wie geplant weitergeht, das Kapitel Bergbau in der Stimbergstadt ein filmreifes Ende nehmen. Und das könnte doch auch etwas für Leonardo DiCaprio sein – der Hollywoodstar wohnte in seiner Jugend zeitweilig bei seinen Großeltern in Oer-Erkenschwick und besucht sie auch heute noch ab und zu…
Zwischenruf: Sehnsucht der Provinz
Grafik: ruhrgebiet-regionalkunde.de
Das Ruhrgebiet, all die Diskussionen um innere Verfassung und Fremdbestimmtheit, um das eine Zentrum, den guten Slogan, den Oberbürgermeister der Oberbürgermeister, den müden Regionalverband, die fiesen Möchtegern-Westfalen und Liebäugel-Rheinländer an den Ränden – es erinnert an das Gefiepe einer Warteschleife. Eine endlose Wiederholung. Mir gibt das nichts, außer leicht sentimentale Erinnerung an die Jahrtausendwende, an Kollegen und t/waz-Kampagnen, als Hunderte zu Abendveranstaltungen kamen, um ein wüstenstaubiges Thema wie den Ruhrbezirk beziehungsweise dessen Fehlen zu diskutieren. Als wir uns beim Bier ernsthaft Gedanken machten über die Sinnhaftigkeit von Flächennutzungsplänen beziehungsweise Gebietsentwicklungsplänen beziehungsweise Leitverkehrswegeplanung beziehungsweise interkommunale Zusammenarbeit beziehungsweise Fusion der Katasterämter – soll ich weitermachen?
Als Phänomen mag ich den seltsamen Planungsfetischismus von damals, denke ich gerne an die fast studentische Diskutierfreude zurück und das Lebensgefühl des Unterdrückten, aber eigentlich ist das sterbenslangweilig. Denn längst haben Projekte wie die B1–Akademie oder Ruhr 2030 und der stadtregionale Kontrakt und jetzt gerade shrinking cities gezeigt, wie sehr die Ruhrfetischisten in alten Fassungen denken. Nicht dialektisch. Das Gebiet ist längst viel mehr als eine Stadt und zugleich viel weniger, ein Getüm, das wächst, mäandert, sich hier austobt und aufschwingt und nebendran elend verkümmert – ganz ohne Zutun von Politik und Planung.
Im Ernst: Mir graut vor der Ruhr-Zentrale, einer Bezirksregierung im Ruhrgebiet, mit Norbert Lammert als Spiritus Rektor. Die einen mögen die Drei- und Zweigliederung ihr Ruhrdistan nennen. Alle paar Jahre wird diese Sau durch die Dörfer getrieben; ein Spiel mit nichts als der Sehnsucht des Provinzlers! Mir ist ziemlich egal, wo der Beamte sitzt, mit dem meine Frau Beihilfefragen zu klären hat. Es gibt Telefon, Elektropost, Autos. Die dürfen ihre Akten ruhig weiter dort lagern, ihre Regionalratssitzungen ruhig weiter dort veranstalten – im verschnarchten Arnsberg, im piefigen Münster, im abgerockten Düsseldorf.