Das Attentat von Tucson, die Tea Party und die vielen verwirrten Einzeltäter

Screenshot YouTube-Video

Gabrielle Giffords hatte keine Angst, obwohl eine ganze Reihe von Vorfällen in den letzten beiden Jahren Anlass genug dazu gegeben hätten. Die demokratische Kongressabgeordnete pflegte gar einen ironischen Umgang mit der schießwütigen Atmosphäre in ihrem Wahlkreis: „Wenn man einen Distrikt repräsentiert, zu dem die Wildwest-Stadt Tombstone gehört, dann überrascht einen nichts mehr.“ Allerdings kritisierte Giffords die Tea-Party-Bewegung wegen ihrer „unglaublich aufgeheizten Rhetorik“. An deren Sprecherin Sarah Palin gerichtet sagte Giffords: „Wenn man so etwas tut, dann muss man auch wissen, dass es Konsequenzen haben kann.“ Palin hatte auf der Website ihres Political Action Committees auf einer US-Karte die Wahlbezirke der demokratischen Abgeordneten mit Fadenkreuzen markiert, die für die Gesundheitsreform gestimmt hatten. Palin beeilte sich, den Opfern und den Angehörigen der schwer verletzten Demokratin ihr Beileid auszusprechen.

Jared Lee Loughner ist der Name des “verwirrten Einzeltäters”, der gestern Morgen Gabrielle Giffords aus nächster Nähe in den Kopf geschossen hatte, danach noch mindestens sechs Menschen erschossen und mehr als zehn weitere Menschen – zum Teil schwer – verletzt hatte. Ein recht hübscher Bengel, der 22-jährige Schütze, der „im übrigen … nicht im rechten Lager zu finden (sei), da er beispielsweise das Kommunistische Manifest, neben anderen Büchern, als favorite Buch angibt“, worauf uns ein Kommentator namens Müller freundlicherweise hinweist. Nun gut, auch Hitlers Mein Kampf gehört zu den Favoriten des Mörders; aber zugegeben: ob Jared Lee Loughner nun dem „rechten Lager“ zuzurechnen ist oder nicht, wird bei solch einem komplizierten Typen letztlich nicht zweifelsfrei zu klären sein. „Natürlich haben“, schreibt Müller, „Palin und die Tea Party Bewegung die politische Rhetorik radikalisiert, zu einem Mord haben sie aber nie aufgerufen.“

Das ist natürlich – gemeint i.S.v. „selbstverständlich“ – richtig. Allerdings hat eine Radikalisierung der politischen Rhetorik, hält man sich die politische Atmosphäre in den USA vor Augen, nichts Natürliches an sich. Und die Art und Weise, wie Palin und die Tea Party die Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern verschärft haben, ist zwar – natürlich – noch nicht der Aufruf zum Mord; der Grad, der von offener Mordhetze noch getrennt hatte, war jedoch schon recht schmal. Und ja: dieser Jared Lee Loughner war und ist verwirrt. Dass er ein Einzeltäter war, darf schon jetzt als widerlegt gelten. Die Polizei sucht nach (mindestens) einem Komplizen. Freilich lässt sich, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es sich um ein Mordkomplott von zwei, drei oder vier Männern gehandelt hat, immer noch von Einzeltätern sprechen.

Nur: dabei übersähe man die hetzerische politische Stimmung, die in Arizona und den Vereinigten Staaten insgesamt herrscht. Der in Tucson zuständige Sheriff Clarence Dupnik beschreibt sie folgendermaßen: „Der Zorn, der Hass, die Bigotterie, die in diesem Land herrschen, werden allmählich ungeheuerlich.“ Gewiss, die Westboro Baptist Church markiert auch eine in den USA als extremistisch geltende Position; und doch: letztlich treibt Fred Phelps, der Prediger dieser Sekte , die reaktionäre, antisemitische und homophobe Hetze der Tea-Party-Bewegung einfach nur auf die Spitze. Ja, Phelps´ Gemeinde ist klein; aber es gibt viele, allzu viele dieser schönen kleinen christlich fundamentalistischen „Kirchen“ des Hasses. Ein Video-Kommentar von Fred Phelps findet sich inzwischen auf YouTube. Titel: “Thanks God for the Shooting of Congresswoman Gabrielle Giffords”. Man muss nicht perfekt Englisch können, man muss nicht jeden Satz ganz genau verstehen, um ein Feeling dafür zu bekommen, dass im großen Land der Frommen die Uhren (noch?) ein wenig anders ticken als in good old Europe.

Phelps erklärt die “komplizierte Persönlichkeit” (Sheriff Dupnik) kurzerhand zum Soldaten Gottes, dem man ohnehin eigentlich immer nur danken kann, in diesem Fall für das Attentat auf diese gottlose Sünderin namens Gabrielle Giffords. Ohnehin ein Abkömmling aus dem Volk der Christusmörder kämpft diese Babymordpropagandistin (Giffords befürwortet embryonale Stammzellenforschung) für den Kommunismus (anderer Terminus für Obamas Gesundheitsreform). Im Land of the Free ist es erlaubt zu sagen, dass Giffords schon allein wegen einer einzigen Sünde aus diesem umfangreichen Sündenregister den Tod verdient hat. Und man dankt Gott dafür. Nochmal: Phelps´ Baptisten-Sekte ist klein, und es gibt viele Amerikaner, die entsetzt sind über das Massaker, die sich spontan zum Beten für die Opfer versammeln, die nichts mit diesen fundamentalistischen Mordhetzern zu tun haben. Aber es gibt auch die Tea Party. Deren Differenz bspw. zur Westboro Baptist Church ist graduell, nicht prinzipiell. Sie ist taktisch motiviert, nicht ethisch. Es ist kein Antiamerikanismus zu sagen, dass viele US-Amerikaner von ihren Abstiegsängsten in diesen Irrsinn getrieben werden.

Zum Attentat auf Gabrielle Giffords in Tucson / Arizona

Gabrielle Giffords
Gabrielle Giffords

Es ist die Nacht vom Samstag auf Sonntag in Deutschland; noch ist nicht klar, ob es sich bei dem Anschlag auf die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords in Tucson / Arizona um ein politisches Attentat handelt oder nicht. Klar ist, dass „Gabby“ Giffords noch lebt.  Zwar wurde ihr Tod bereits gemeldet, doch inzwischen weiß man, dass sie eine Notoperation überstanden hat, sich jedoch nach wie vor in Lebensgefahr befindet. Aus kurzer Entfernung schoss der 21-jährige Täter der 40-Jährigen in den Kopf – ein glatter Durchschuss. Danach feuerte er noch wild um sich, die Polizei meldet sechs Tote, darunter ein neunjähriges Mädchen. Weil er unverletzt verhaftet werden konnte, werden wir vermutlich im Verlauf des Sonntags erfahren, ob der „Amoklauf“ – wie auch zu lesen ist – politisch motiviert war. Es wäre keine Überraschung, wenn dem so wäre.

Gabrielle Giffords unterhielt sich gestern an einem Infotisch vor einem Supermarkt in ihrem Wahlkreis mit einigen Bürgern, als kurz nach 10 Uhr Ortszeit der Attentäter zunächst auf sie schoss. Im November hatte Gabby Giffords zum dritten Mal den Sitz im Repräsentantenhaus errungen, diesmal allerdings nur mit äußerst knappem Vorsprung – vor ihrem Gegenkandidaten Jesse Kelly. Kelly, der zur Tea-Party Bewegung gehört, hatte seine Anhänger im Wahlkampf dazu ermuntert: „Helft uns Gabrielle Giffords aus dem Amt zu werfen. Feuert eine vollautomatische M16 mit Jesse Kelly.“ Dem Tagesspiegel zufolge kommen solche Aktionen im Wahlkampf gut an in Arizona, einem Staat mit vielen Waffennarren, in dem zur Zeit unter anderem darüber diskutiert wird, Waffen in Schulen zu legalisieren. Dies geschah im Juni 2010.

Bereits im März 2010 hatte Sarah Palin, die als Sprecherin der Tea Party gilt, eine US-Karte mit Zielscheiben auf 20 Wahlkreisen veröffentlicht, deren Abgeordnete für die Gesundheitsreform gestimmt hatten. Auch Gabrielle Giffords befand sich in einem der Fadenkreuze; Parole des Wahlplakats: „Stellung beziehen!“ Zu Palins Reden gehört regelmäßig die Aufforderung, gegenüber dem politischen Gegner „nicht nachzugeben, sondern nachzuladen“. Im März 2010 wurde Giffords Wahlkampfbüro in Tucson verwüstet. Bereits 2009 hatte bei einer Giffords-Veranstaltung – ebenfalls an einem Supermarkt – ein Gegendemonstrant eine Pistole bei sich; von der Polizei sei er weggebracht worden, nachdem die Waffe auf den Boden fiel. Darauf hatte dann die Polizei im Herbst 2010 verzichtet; denn auf Giffords Wahlkampfveranstaltungen waren regelmäßig politische Gegner mit Waffen erschienen.

Video Pressekonferenz der Klinik

Gabby Giffords selbst konnte und wollte dagegen nichts vortragen, die Demokratin ist nämlich Anhängerin des in Amerika geltenden liberalen Waffenrechts. Giffords, die als erste Jüdin für Arizona ins Repräsentantenhaus gewählt wurde und in Washington als Nachwuchsstar der Demokratischen Partei gilt, ist bekannt als „moderate“ Abgeordnete – heißt: sie gehört dem rechten Flügel der Demokratischen Partei an, den sog. „Blue Dogs„. Diese vertreten eine konservative Finanzpolitik, d.h. sie vertreten die – fast „deutsche“ – Position, die Staatsverschuldung zu senken, um ein ausgeglichenes Budget zu erreichen. In der Wirtschaftspolitik gelten die Blue Dogs als ausgesprochen unternehmerfreundlich. Giffords war Chefin einer vom Großvater gegründeten Reifenfirma und Geschäftsführerin einer Kapitalanlagegesellschaft, aber eben auch engagierte Unterstützerin von Obamas Gesundheitsreform.

Damit zog sie den Hass der politischen Rechten auf sich, die den Einbau „europäischer“ Elemente ins amerikanische Krankenversicherungssystem mit Hitler- und Stalin-Plakaten bekämpft hatte. Vermutlich ist ihr dies gestern zum Verhängnis geworden. Der junge Attentäter wird sich erklären. Wir bangen derweil um Gabby Giffords Leben.