Die Entscheidung der SPD, das Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin zu beenden, beschäftigt die Partei länger als gedacht. Eine ganze Woche vorn in den bundesweiten Medien zu bleiben, wer oder was schafft das denn heutzutage?!
Gut, explodierte Atomkraftwerke oder ein eskalierender Krieg bringen es – großzügig geschätzt – auf einen Monat. Da ist gut eine Woche für das Verhältnis zwischen einem einzigen Mann und einer einzigen Partei so schlecht nicht. Schon insofern hat sich das Abblasen des Parteiausschlussverfahrens gelohnt. Für Sarrazin – und auch für die SPD. Also alles „Taktik“, wie Stefan Laurin schon vor drei Tagen vermutete, bzw. die Angst, „auch diese Wählerklientel, den klassischen, kleinen Mann`, zu verlieren.“ Oder einfach nur der Plan, gut eine Woche lang in die Zeitung zu kommen.
Möglicherweise ist die ganze Sache aber auch noch wesentlich komplizierter. Wäre es nicht denkbar, dass die Taktik der Parteizentrale darin besteht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf zu lenken, dass die SPD in einer zentralen gesellschaftspolitischen Frage zerstritten
Es musste ja so kommen. Oder haben Sie gedacht, das würde immer so weitergehen? Das könnte auf ewig immer gut gehen? – Nun ja, ich will nicht lästern. Die Lage ist ernst genug. Und über die Motive Ihrer Realitätsverleugnung maße ich mir kein Urteil an. Das ist doch auch scheiße, dieser Untergang Deutschlands. Das verstehe ich ja. Andererseits: seit heute Mittag ist es so weit; da haben wir es bald endlich hinter uns.
Es ist Samstag, der 15.01.2011. Um 14:24 Uhr sieht bild.de „Deutschland untergehen“. Wie gesagt: die Lage ist ernst. Der gute, alte Adenauer pflegte hinzuzufügen: „aber nicht hoffnungslos“. Das ist aber schon etwas her. Heute ist die Lage ernst und hoffungslos, so dass die Frage berechtigt ist, wie es nur so weit kommen konnte. Wer ist nur Schuld daran, am Untergang Deutschlands?
Für Adenauer war dies keine Frage. „Die SPD ist der Untergang Deutschlands“, trichterte er seinem Volk ein, das soeben am Untergang vorbeigeschrappt war. Allerdings nur für den Fall, dass sie in der Bundesregierung ist, die SPD, sagte Adenauer. Das ist sie aber heute bekanntlich gar nicht. Warum dann ausgerechnet jetzt dieser überflüssige Untergang?
An all den doofen Ausländern kann es eigentlich auch nicht liegen; denn dann hätte sich Deutschland, wie uns Herr Sarrazin eindrucksvoll mit Tabellen und allem erklärt hatte, abgeschafft. Und: so etwas zieht sich ganz schön hin, so eine Selbstabschaffung. Vor allem: dieser Fall liegt gar nicht vor. Heute nicht. Wir haben es nämlich nicht mit einer Selbstabschaffung zu tun, sondern mit einem Untergang. Und bitteschön: wann, warum oder ganz genau gefragt: wo geht man unter? – Da hätten Sie aber auch wirklich selbst drauf kommen können. Wo: im Wasser. Warum: weil zuviel davon da ist. Und wann: wenn es zuviel regnet und / oder taut.
„Tauwetter und Dauerregen lassen Deutschland untergehen“, lautet dann auch die bild.de-Meldung von 14:24 Uhr. In der Internet-Adresse heißt es treffend: „hochwasser-deutschland/tauwetter-regen-untergehen“. So arbeiten Profis. Schon etwas zuvor hauten sie die Meldung raus: „Deutschland säuft ab“. Reicht. Oder – von mir aus – in der Langfassung: „Tauwetter und Dauerregen Hochwasser! Deutschland säuft ab!“ Auch gut.
In der URL steht: „wetter-deutschland-hochwasser-angst/dauerregen-tauwetter-pegel“. Haben Sie gesehen? „Angst“. Davon steht zwar nichts im Artikel; aber klar: die von der Bild sind absolute Profis. Ja Leute, das war´s dann wohl. Habt´s Euch wohl! Strafe muss sein. Wahrscheinlich hättet Ihr Euch nicht so an den Fernsehbildern aus Australien und Brasilien aufgeilen sollen. Außerdem: wenn es richtig kalt ist, zu viel und zu lange schneit, ist es auch der Klimawandel. Und wenn das Zeug dann wegtaut, tja, das seht Ihr ja jetzt. Jetzt habt Ihr den Salat: Deutschland geht unter, Deutschland säuft ab – das habt Ihr jetzt davon!
Am Klimawandel sind wir nämlich alle schuld. Nun ja, das nützt jetzt auch nichts mehr. Zu spät. Bis es auch hier so weit ist, sehe ich mal zu, dass ich mir noch ein Ei in die Pfanne hauen oder irgendwoher eine Currywurst kriegen kann. Auf die Dioxine kommt es jetzt ja nicht mehr so sehr an. Also Leute, ich muss …. – vielleicht sieht man sich.
Deutschlands Sachbuch-Bestsellerautor Nr. 1 gab sich gestern Abend die Ehre, im Duisburger Lehmbruck Museum die Thesen aus seinem Werk einem geneigten Publikum vorzutragen. Etwa 200 begeisterte Anhänger sind gekommen; sie scheuten weder den hohen Eintrittspreis noch die strenge Personenkontrolle, um ihr Idol persönlich bewundern und ihm zujubeln zu können. Eine „Löwenbräukeller-Stimmung 1933” habe in der Sarrazin-Veranstaltung geherrscht, zitiert xtranews einen örtlichen CDU-Politiker, ohne seinen Namen zu nennen.
Dabei wollen die Blogger auch gehört haben, dass der Duisburger Alt-Bürgermeister Heinz Pletziger (CDU) am Rande der Veranstaltung geäußert haben soll, dass Millionen vergaster Juden im Dritten Reich doch keine Deutschen waren. Dies werde von Pletziger jedoch bestritten, der deshalb auch gegen diese “Verleumdung” juristisch vorgehen wolle. Die Kollegen von xtranews wiederum nennen zwei eidesstattliche Versicherungen ihr eigen, die der Version des Alt-Bürgermeisters widersprechen.
Nun steht Aussage gegen Aussage. Wie auch immer: beide Seiten, also auch Herr Pletziger, sind „sich der geschichtlichen Tragweite durchaus bewusst“. Ehe nun die Gedanken zur Frage abschweifen, welche geschichtliche Tragweite überhaupt und grundsätzlich den Aussagen ausgemusterter Duisburger CDU-Bürgermeister zukommt, ist es nützlich, sich die historischen Tatsachen vor Augen zu halten, um auf dieser Basis die wirklich relevanten Fragen zum Tage stellen zu können.
Ob Pletziger nun darauf hingewiesen haben sollte oder nicht, Fakt ist: Millionen vergaster Juden im Dritten Reich waren keine Deutschen. Nun lässt sich die Anzahl der im Holocaust ermordeten deutschen Juden zwar nicht exakt beziffern. Der bekannte Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz nennt die Zahl 165.000 eine realistische Schätzung. Davon geht auch Burkhard Asmuss vom Deutschen Historisches Museum in Berlin aus. Wikipedia zufolge reicht die Spannweite der Schätzungen von 135.000 bis 195.000 deutscher Juden, die in der Shoa umgekommen sind.
Bei den sechs Millionen, möglicherweise etwas weniger, wahrscheinlich ein halbe Million mehr, handelte es sich um Juden aus allen von den Deutschen besetzten Ländern Europas. Mehr als vier Millionen Menschen stammten aus Polen und der Sowjetunion. Ebenfalls mehr als vier Millionen Juden wurden in den Vernichtungslagern vergast. So weit der grobe Überblick über die außer Frage stehenden historischen Tatsachen. Eine etwaig gestern Abend gefallene Feststellung, die Millionen vergaster Juden seien doch gar keine Deutschen gewesen, wäre folglich im Grunde genommen ganz und gar zutreffend.
Es sei denn, mit dieser Bemerkung sollte unterstellt werden, dass nun gar keine deutschen Juden in Auschwitz umgekommen seien. Dies wäre, wie bereits dargelegt, zweifellos unzutreffend. Viele Namen sind bekannt; Vorfahren auch aus meinem Bekanntenkreis haben dort ihr Leben gelassen. Auschwitz zu leugnen – ohnehin eine Straftat – ist auch, wenn sich diese Lüge „nur“ auf deutsche Juden bezöge, haltlos. Aber, schon richtig: „Millionen vergaster Juden“ waren keine Deutsche.
Zu dieser Anmerkung drängt sich jedoch Frage auf, warum es für nötig gehalten werden könnte, dies festzustellen. Falls es jemand für nötig gehalten haben könnte, dies festzustellen. Denn, wie jedes Zitat, wäre auch dieses selbstverständlich aus dem Zusammenhang gerissen. Sollte es dem mutmaßlichen Autor um die Aufklärung der grundlegenden historischen Sachverhalte gegangen sein, wäre dagegen m.E. naheliegenderweise nichts vorzutragen. Denn sonst würde ich mich ja mit diesem Beitrag strafbar machen oder, was ich schlimmer fände: den Holocaust verharmlosen.
Oder sollte mit der zitierten Feststellung angedeutet werden, dass weil es sich nicht um Deutsche, sondern „nur“ um Ausländer gehandelt hatte, der fabrikmäßige Massenmord nicht ganz so schlimm war? Oder, dass wenn „nicht einmal“ zweihunderttausend Opfer in Rede stehen, keinerlei Anlass zur Hysterisierung bestehe? Ich weiß es nicht. Ich wüsste es aber gern. Vor allem wüsste ich gern, ob diese Äußerung überhaupt – und wenn, dann mehr oder weniger öffentlich – gefallen ist. Sicher ist, dass wenn Herr Pletziger juristisch gegen diese, wie er sagt, „Verleumdung“ vorgehen sollte, eine Straftat vorliegt. Die Frage ist, ob, wenn keine Verleumdung vorliegen sollte, Pletziger also diese Worte über die Lippen gekommen sein sollten, dann auch eine Straftat vorliegt. Es dürfte dann wohl auf den Zusammenhang und die Absicht ankommen, in dem und in der diese historische Aufklärung vorgenommen wurde.
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