Anschlag von Tucson: der Kampf um die Deutungshoheit

 

  

Jared Loughner

 

Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie in Amerika so auch hier. Führe uns nicht in die Irre, sondern erlöse uns von den Bösen, sprich: von den politisch Andersdenkenden. Gib nicht ihnen die Deutungshoheit über Deine unergründlichen Wege, sondern uns! Und führe uns nicht in Versuchung, uns zu diesem Zweck einfach irgendetwas zusammenspinnen zu müssen, sondern liefere uns zwecks Preisung Deiner Herrlichkeit in Ewigkeit stichhaltige Belege, auf dass wir nicht so ratlos dastehen mögen, wenn wieder einmal etwas passiert, was Du doch auch nicht gewollt haben kannst.  

Aber Gott antwortete nicht. Denn es entsprang, auch wenn Fred Phelps von der  Westboro Baptist Church dies anders sehen mag, nicht seinem Willen, was sich am letzten Samstag auf dem Supermarkt-Parkplatz in Tucson / Arizona zugetragen hatte, sondern dem Willen eines gewissen Jared Loughner. Er streckte bekanntlich die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords mit einem Kopfschuss nieder und schoss danach noch wild um sich. Entgegen ursprünglicher Meldungen der Polizei handelt es sich bei ihm offenbar um einen Einzeltäter, der entgegen meiner ursprünglichen Annahme jegliche Aussage über seine Motive verweigert.  

Da selbst Gott den Leuten nur vor den Kopf gucken kann, jedoch nicht in ihn hinein, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt nur festzuhalten: unser Vater im Himmel weiß nicht, was das Motiv für Loughners Tat war. Und da es nicht einmal der Allmächtige weiß, wissen wir es schon gar nicht. Der einzige, der es wissen könnte, wäre der 22-jährige Jared Loughner. Aber der junge Mörder ist zweifellos – was recht früh klar war – verwirrt, allerdings auch – was erst bei seiner richterlichen Anhörung zweifelsfrei klar wurde – bei klarem Verstand. Wiederholt hatte Loughner in seinen – in aller Regel recht wirren – Internettexten auf das verfassungsmäßig garantierte Aussageverweigerungsrecht hingewiesen.  

Verwirrt, aber bei klarem Verstand – was auch immer unter diesen Umständen von seiner Motivlage zu halten ist, eines seiner vermutlich wirr miteinander verwobenen Tatmotive lebt Loughner in seiner gegenwärtig extrem unkomfortablen Situation konsequent aus: den größenwahnsinnigen Willen nach weltweiter Aufmerksamkeit. In den USA ist, wie es auf stern.de heißt, mittlerweile ein „Bürgerkrieg der Worte“ entbrannt, während hierzulande gerade eher linke und liberale Medien sich eifrig darum bemühen, nicht in den Verdacht zu geraten, das Blutbad von Tucson für ihre politische Agenda instrumentalisieren zu wollen. Hier auf den Ruhrbaronen legen konservative Kommentatoren Wert auf die Feststellung, dass es zwischen dem Attentat von Tucson und der Tea Party keineswegs eine geradlinige Verbindung gibt.  

Im Tagesspiegel warnt Malte Lehming vor „schnellen Urteilen“ über „die perfide Tat“, bei Telepolis weist Peter Mühlbauer darauf hin, dass „Literaturlisten nur bedingt etwas über Attentäter aussagen“, und Bernd Pickert regelt in der taz auch gleich noch den korrekten Sprachgebrauch: „Die Legende vom Attentat“, so der Titel seines Beitrags; Unterüberschrift: „Debatte nach Amoklauf in Arizona“. Also Amoklauf statt Attentat; denn, so Pickert, „was Loughner hingegen am Samstag angerichtet hat, erinnert mehr an die Schulmassaker der jüngsten Zeit seit Columbine als an das klassische politische Attentat“. Und deshalb sei es „ein billiger Reflex, jetzt eine direkte Linie von dieser Art aggressiver Rhetorik (der Tea Party, W.J.) zu Jared L. Loughners Massaker zu ziehen“.  

Es ist freilich nichts weiter als Rhetorik, wenn Pickert in der taz eine direkte Linie ausmacht, die wer auch immer zu ziehen gedenkt. Und es ist richtig, was auch immer die Motivforschung noch ergeben wird: von einem wie Loughner lassen sich in einer seriösen Argumentation keine direkten Linien ziehen. Alles andere ist falsch: was am Samstag in Arizona passiert ist, war nicht etwa ein Amoklauf statt eines Attentats, sondern ein Massaker und ein Attentat, oder: ein Massaker nach einem Attentat. Ich räume ein, dass es nicht ganz unüblich ist, ein geplantes Massaker als Amoklauf zu bezeichnen. Betrachten Sie diese feine Unterscheidung als Wortklauberei; wichtig ist aber, dass nicht nur das wahllose Abschlachten unbeteiligter Menschen geplant war, sondern auch der gezielte Anschlag auf Gabrielle Giffords.  

Warum wird versucht, dieses Attentat semantisch gleichsam ungeschehen zu machen? Oder dort, wo man nicht so weit zu gehen bereit ist wie in der taz, es als ein Attentat von der Art der Anschläge auf Oskar Lafontaine (1990) und Wolfgang Schäuble darzustellen? Pickerts Spekulation, Loughner habe von der Hetzkampagne der Tea Party gar nichts mitbekommen, ist hanebüchen; seine Schüsse auf Gabrielle Giffords waren nicht nur genauestens geplant, sondern auch politisch motiviert. Letzten Samstag ereignete sich in Tucson der erste politisch motivierte Mordanschlag auf einen US-Bundespolitiker seit 30 Jahren. Warum bringt die taz einen Artikel, der diese Tatsache mit semantischen Spielereien wegdrücken will?  

Warum wird in Sachen Motivforschung überhaupt so einseitig „ermittelt“? Warum werden die Hinweise des US-Heimatschutzministeriums nicht erwähnt, dass Jared Lee Loughner Verbindungen zu einer antisemitischen Gruppe hatte? Sie waren doch recht leicht zu finden – zum Beispiel auf Wikipedia. Warum wird nicht erwähnt, dass untersucht wird, ob Loughner Verbindungen zu rechtsextremistischen Gruppen hatte? Ist auch der britische Guardian nicht seriös genug, als dass sich lohnte, dies zu erwähnen? Dass Loughners Denken alle Ingredienzien eines Tea-Party-Mitglieds aufweist, wie News One for Black America schreibt? Hat etwa der Glaubenskrieg um die Deutungshoheit über das Attentat von Tucson aus dem atmosphärisch vergifteten Amerika bereits auf das behagliche konsensdemokratische Deutschland übergegriffen?  

Es ist zu früh, um auf diese Frage eine politisch befriedigende Antwort geben zu können. Dass es auch hierzulande Interessen gibt, einen aggressiven Rechtspopulismus à la Tea Party hoffähig zu machen, steht außer Frage. Bei den hier zitierten seriösen Medien ist davon auszugehen, dass schlicht der Grundkonsens darüber verteidigt werden soll, dass es unzulässig ist, ein Blutbad für die eigene politische Agenda zu instrumentalisieren. Das Infragestellen eines Zusammenhangs zwischen der aggressiven Tea-Party-Rhetorik und dem Anschlag vom 8. Januar bedeutet in aller Konsequenz jedoch auch, die politische Bewertung des Anschlags von Tucson dem Täter zu überlassen. Das aber ist absurd, ob Loughner nun ein unpolitischer oder ein rechtsradikaler Spinner ist.