Bundeskanzlerin Angela Merkel wird ihrem Übervater, Helmut Kohl, im Regierungsstil immer ähnlicher: kritische Entscheidungen werden ausgesessen, von Visionen keine Spur und parteiinterne Gegner werden wegbefördert. Nun holt sie zum nächsten Schlag aus: Sie will die Kontrolle über die Bundesversammlung.
Die Bundesversammlung, die traditionell den Bundespräsident wählt, ist von vielen schon mit einer herrenlose Kanone verglichen worden, die, aus der Verankerung gerissen, im Mittelalter für die hölzernen Kriegsschiffe eine ebenso große Gefahr darstellten wie die gegnerischen Geschosse. Unkontrolliert schwingt sich die Kanone von einem Ende des Schiffs zum anderen, haut Menschen und Material weg, was ihr in die Quere kommt. Das Ende kann desaströs sein. Genau so etwa fürchtet wohl nun auch Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Glaubt man der aktuellen Ausgabe der „Welt am Sonntag“, dann geht der Hosenanzug-Trägerin aus der Berliner Waschmaschine (so die Berliner über das Kanzleramt) gehörig die Muffen. Denn die Regierungschefin und Parteivorsitzende der CDU hat sich gehörig verspekuliert. Weil sie unbedingt der Parteitaktik bei der Benennung des nächsten Bundespräsident den Vortritt vor der Staatsräson gegeben hat, muss sie nun miterleben, wie sich nicht nur die Öffentlichkeit auf Joachim Gauck festlegt, sondern auch die Medienmacher. Ungewohnt offen votiert daher sogar die Springer-Presse gegen Angela Merkel – und damit gegen eine enge Vertraute der Verlegerwitwe von Axel Cäsar Springer. Dieser Schritt ist schon ungewöhnlich genug. Noch ungewöhnlicher ist aber, dass dies dieses Mal nicht im Alleingang geschieht: Auch der Spiegel hält Gauck für den besseren Kandidaten. Der Focus wird nachziehen. FAZ und SZ haben dies bereits gemacht.
Frau Merkel, zu deren Regierungsstile die Politik via SMS und Liebesentzug gehören, steht allein – auch weil sie mit Niedersachsens Ministerpräsident Wulff einen aus den Hut gezaubt hat, der ihr niemals gefährlich werden kann. Das öffentliche Votum für Gauck ist daher auch ein Votum gegen sie als Regierungschefin. Das Volk und die öffentliche Meinung in Gestalt der Medien pochen eindrucksvoll auf ein urdemokratisches Vorrecht: Die verfassungsmäßigen Checks und Ballances, die jeder pluralistischen Gesellschaft zu Eigen ist. Mit Gauck soll ein Gegenpart zu Merkel das Amt des Bundespräsidenten inne haben, um der Regierung auf die Finger zu schauen. Gauck wäre daher der falsche Kandidat – aus Sicht Merkels.
Merkel will daher ihren Kandidaten durchsetzen und kann in der Bundesversammlung auf 21 Stimmen mehr als die absolute Mehrheit zählen – soweit auf dem Papier. Nimmt man nur das rot-grüne Lager sind es sogar 163 Stimmen mehr, weil die Linke Gauck nicht wählen will. Die Nachfolge-Partei der SED und Auffangbecken von früheren Stasi-Mitgliedern will offenbar späte Rache an einem Mann nehmen, der den tiefen Sumpf der ethisch moralischen Verstrickungen von Parteimitgliedern offen gelegt hat. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die frühere SED weiterhin nicht in der Bundesrepublik angekommen ist.
Merkel will in der Bundesversammlung aber trotz Vorsprung auf Nummer sicher gehen, denn es könnte ja die „loose cannon“ das unmögliche wahrwerden lässt: dass nämlich Wulff duchfällt und Gauck gewählt wird.
Die „loose cannons“ haben sogar einen Namen: die unabhängigen Delegierten. Seit der Gründung der Republik ist es usus, dass die Bundesversammlung das Spiegelbild der Gesellschaft darstellt. Also nicht nur Berufspolitiker oder Beamte und Juristen, sondern auch Schauspieler, normale Bürger, Studenten, Wirtschaftsführer. Das Problem an dieser Gruppe: Sie werden zwar von den Parteien vorgeschlagen. Doch ob sie auch richtig wählen, das kann niemand überprüfen. Und so kann es razfaz passieren, dass sie den falschen aus Sicht von Merkel wählen. Daher greift Merkel laut „Welt am Sonntag“ nun zum äußerten: Wulff soll als erster Bundespräsident nicht mehr von der ganzen Gesellschaft gewählt werden, sondern nur von Claceure gewählt werden, die namen- und charakterlos im Ortsverein Neuss-Norf aktiv sind und parteitreu sind. Merkel will nur Partei-Leute und „sicherer“ Wähler an die Wahlurne lassen. Damit wird ein weiterer Tiefpunkt in der politischen Kultur Deutschlands erreicht – und man kann nur hoffen, dass die Geschichte Recht behält: Ein Wechsel im Bundespräsidenten-Amt folgt später immer ein Wechsel im Kanzleramt. Eine geistig moralisch Wende täte gut.