Gestern, am Freitag, den 18. Februar 2011, versammelten sich abermals mehrere Hunderttausend Menschen in Kairo auf dem Platz der Befreiung, dem Tahrir-Platz. Die Ägypter feierten ihre Befreiung; sie begingen den „Tag des Sieges“ genau eine Woche nach diesem Sieg. Am Freitag, den 11. Februar 2011, hatte die Demokratiebewegung ihr vorrangiges Ziel erreicht. Husni Mubarak hatte die Segel gestrichen.
Ernüchterung sei eingetreten am „Tag des Sieges“. „Die Institutionen des alten Regimes und die Regierung fühlen sich jetzt wieder sicherer“, zitiert die FAZ einen der Organisatoren der Proteste. Die Euphorie des Sieges sei daher in den letzten Tagen verflogen. Gut also, dass der Prediger Yusuf al Qaradawi „die Bewegung in seiner Freitagspredigt auf dem Platz auf(rief), nicht aufzugeben und bis zum Sieg der Revolution durchzuhalten – sie sei noch nicht zu Ende.“ Yusuf al Qaradawi konnte auf Einladung der “Jugend der Revolution” (The Revolution’s Youth), die auch zu der gestrigen Großkundgebung aufgerufen hatte, das Freitagsgebet sprechen.
Die ARD-Tagesschau berichtete darüber folgendermaßen: „Heute Mittag hatte der bei vielen Ägyptern beliebte konservative Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi auf dem Tahrir-Platz das Freitagsgebet gehalten. Er forderte das Militär auf, die Grenze zum Gazastreifen zu öffnen. Bald, so hofft er, werde er auf dem Tempelberg in Jerusalem predigen. Dies ist als Provokation Israels gemeint. Wegen solcher Äußerungen hat er jahrelang nicht in Ägypten predigen dürfen.“ Das war´s; mehr erfahren wir nicht über den Geistlichen.
So wird ganz beiläufig Ägyptens Demokratiebewegung denunziert: „Provokation Israels“. Wodurch denn? Die Forderung, die Blockade des Gazastreifens aufzuheben, wird doch nicht nur auf dem Tahrir-Platz erhoben, sondern auch von der gesamten westlichen Welt. Und der Gazastreifen wird nun einmal nicht nur von Israel, sondern auch – so ist die Geographie – von Ägypten abgeriegelt. Ist es da eine „Provokation“, wenn ein muslimischer Prediger fordert, dies zu beenden?
Oder dass al Qaradawi auf dem Tempelberg predigen möchte? Ja, Du lieber Himmel. Dort steht bekanntlich die al-Aqṣā-Moschee, in der (nicht nur) jeden Freitag gepredigt wird. So what? Was will uns Jörg Armbruster, der ARD-Korrespondent in Kairo, damit sagen? Oder damit, dass der Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi „konservativ“ sei. So etwas soll bei Klerikern vorkommen. Oder sind die US- Fernsehprediger etwa „progressiv“? – Also bitte!
Dass al-Qaradawi von der “Jugend der Revolution”, also den Facebook-Revolutionären eingeladen wurde, ließ Armbruster übrigens unerwähnt. Genau wie den Grund dafür, warum ausgerechnet dieser Prediger bei vielen Ägyptern so beliebt ist. In dieser Hinsicht wissen Spiegel-Leser mehr. Denn in der aktuellen Printausgabe des Nachrichtenmagazins findet sich ein ausführliches Porträt des ehrwürdigen Scheichs, das bislang jedoch nur in englischer Sprache online steht.
Yusuf al-Qaradawi ist ein respektierter Gelehrter, die prominente, namhafte, weltbekannte Stimme des sunnitischen Islam. Ein „globaler Mufti“ sozusagen, dessen Einfluss auf die Sunniten – übrigens auch in Deutschland – gar nicht überschätzt werden kann. Schon seit fünfzehn Jahren läuft jeden Sonntag auf al-Dschasira seine Sendung „Scharia und Leben“ mit etwa 60 (sechzig!) Millionen Zuschauern.
Auf solche Informationen wartet der deutsche Fernsehzuschauer jedoch vergebens. Wir hören, der Imam sei „konservativ“. Wir erfahren aber nicht, dass er sich „den Ruf eines Moderaten“ erworben hat. Weil auf korrektes Zitieren zur Zeit besonders viel Wert gelegt wird: Alexander Smoltczyk, Jussuf und seine Brüder, „Der Spiegel“ 7 / 2011 vom 14.2.11, S. 84 f. Qaradawi plädiert für „die Toleranz gegenüber Andersgläubigen und verurteilt die Anschläge der Qaida“.
Doch auch dies erwähnt Jörg Armbruster mit keiner Silbe. Stattdessen erweckt er in der Tagesschau den Eindruck, dass sich Israel völlig zurecht provoziert fühle. Kein Wort darüber, dass sich der Scheich „auch gegen die systematische Züchtigung von Ehefrauen (ausspricht). Dumm sei so etwas“.
„Auch wir sind modern“, sagte er in einem Spiegel-Gespräch, weil „wir auch von den großen Erfindungen des Westens, von der Revolution des Informationszeitalters profitieren.“ Der Spiegel, das ist schon etwas ganz Anderes als die Tagesschau. Noch einmal ein ganzes Stück seriöser ist freilich Die Zeit. Sie stellte uns bereits 2002 den muslimischen Top-Gelehrten mit dem Aufsatz „Globalisierung auf islamisch“ auf vorbildliche, weil objektive Art und Weise vor. Nämlich so:
„Er predigt die Rückbesinnung auf den Islam: Nur so könnten die Muslime den ihnen in der Welt zustehenden Platz wiedererlangen. Die Bücher des Scheichs sind Bestseller, seine Seiten im Netz die wohl am meisten besuchten in arabischer Sprache. Der gebürtige Ägypter, der an der berühmten Azhar-Universität in Kairo studiert hat, lebt heute in Doha, der Hauptstadt Qatars. Auch in Deutschland ist der Gelehrte ein häufiger Gast bei Großveranstaltungen der Muslime. Die Themen: Fragen des Lebens, der Moral und, nicht zuletzt, der Politik. Sein Wort ist für viele Muslime Gesetz.“
Oder wir sehen nach bei Wikipedia: „al-Qaradawi kann als eine der obersten zeitgenössischen Autoritäten im sunnitischen Islam betrachtet werden und gilt in der islamischen Welt als wichtige moralische Instanz.“ Der heute 84-jährige Präsident der „Internationalen Vereinigung Muslimischer Rechtsgelehrter“ (IAMS) und des Europäischen Rats für Fatwa und Forschung ist „gegen Angriffe auf Homosexuelle“, wie er dem Londoner Labour-Linken Livingstone versichern konnte.
Für diese „geschlechtliche Abartigkeit“ (al-Qaradawi) setzt es 100 Peitschenhiebe, dekretiert der Großmufti, womit er die Scharia zweifelsfrei recht moderat auslegt, wenn man bedenkt, dass dafür andernorts die Todesstrafe fällig ist. Die Todesstrafe hält al-Qaradawi bei außerehelichem Geschlechtsverkehr für angemessen. Unattraktiv für Berlusconi, wenn außerehelicher Verkehr doch nicht besser ist, als schwul zu sein. Selbst Prostituierten ist mit läppischen 100 Peitschenhieben die Barmherzigkeit des beliebten Fernsehpredigers sicher.
Na klar, Schwule und Huren erhalten im Falle der Rückfälligkeit noch einmal eine Tracht Prügel. Aber das ist immer noch besser als die Todesstrafe. Irgendwann werden die Peitschenhiebe schon die erhoffte Wirkung erzielen, vermutlich bei den Huren früher als bei den Schwulen. Letzteren dürfte aber ein höheres Maß an Diskretion und gesellschaftlicher Anpassung durchaus helfen können. Und, wie gesagt, wenn es doch einmal sittlichen Ärger geben sollte, hat ein Scharia-Richter das gottgefällige Urteil zu sprechen – und nicht der erzürnte Pöbel.
Die ägyptische Muslimbruderschaft hatte al-Qaradawi im Jahr 2002 gebeten, sie zu führen, was er ablehnte, weil ihn diese Funktion zu stark einschränken würde. Inzwischen dürfte er auch für die Übernahme einer solch verantwortungsvollen Position zu alt geworden sein. Selbst seine Vortragsreisen nach Deutschland werden allmählich seltener. Dabei hat der Fernsehstar auch hierzulande eine Vielzahl von Fans. Wie auch immer: jetzt wird al-Qaradawi in Ägypten, seiner Heimat, gebraucht. Und als Prediger auf dem Tahrir-Platz nützt er der Bewegung gewiss genauso viel wie als als politischer Führer der Muslimbruderschaft.
Oder nützlicher. Die Muslimbruderschaft wird jetzt auch offiziell zur Partei, und Partei kommt vom lateinischen pars (Teil), ist also nur ein Teil der Bewegung. Besser ist es, sich von dem breiten Bündnis der “Jugend der Revolution” einladen zu lassen. Und da die Generation Facebook sich schwer tut mit den Auffassungen des älteren Herrn zur Sexualmoral, ein aus dem christlichen Abendland nur allzu bekanntes Phänomen, stellt al-Qaradawi dieses Trennende (vorläufig) ein wenig zurück und konzentriert sich auf das ihn mit der Jugend Einende.
„Die Revolution muss weitergehen“, sagte er gestern auf dem Tahrir-Platz. Ob mit oder gegen die ägyptischen Militärs. Der Gazastreifen muss geöffnet, der Blick nach Jerusalem gerichtet werden. Es geht schließlich um die „Befreiung Palästinas“, wie in Tunesien, so auch in Ägypten. Dies wollen nicht nur die Alten und die Frommen, sondern auch die Jungen und die Revolutionären. Sonst hätten sie diesen alten Hetzer nicht die Predigt zum „Tag des Sieges“ halten lassen.
“Die ganze Geschichte hat Gott Leute gesandt, um sie für ihre Verkommenheit zu bestrafen. Die letzte Bestrafung ist von Hitler ausgeführt worden“, predigte al-Qaradawi vor zwei Jahren auf al-Dschasira. Sie, das sind die Juden, die er zu „Feinden Gottes“ erklärt. Yusuf al Qaradawi stimmt die Muslime auf einen neuerlichen Holocaust schon einmal ein: „So Gott will, wird das nächste Mal diese Strafe Gottes durch die Hand der Gläubigen erfolgen.“
Auch Frauen und Kinder sind keineswegs von der „Strafe Gottes“ auszuschließen, so al-Qaradawi. Selbst das im Islam strenge Suizidverbot hat der islamische Rechtsgelehrte für den Kampf gegen Israel außer Kraft gesetzt. Zum Märtyrertod darf die Muslima erforderlichenfalls sogar ohne Kopftuch antreten.