Mit Beginn des kommenden Schuljahres werden in Nordrhein-Westfalen 35 Schulen als Talentschulen besonders gefördert. Was für die Landesregierung ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit ist, wird von der Opposition als unzureichende Alibimaßnahme kritisiert.
Auch während des Unterrichts ist in der Pausenhalle viel los: Schüler und Schülerinnen stehen in kleinen Gruppen beieinander, es gibt ein Café, alles hier ist hell und freundlich. Man sieht dem Alice-Salomon-Berufskolleg in Bochum nicht an, dass es eine Schule ist, die, wie es korrekt heißt, besondere soziale Herausforderungen zu bewältigen hat. Aber von den über 2500 Schülern müssen 750, darunter viele Flüchtlinge, fit gemacht, überhaupt eine Ausbildung beginnen zu können. Man kann an dem Kolleg aber auch sein Abitur oder Fachabitur ablegen, Ernährungsassistenten erhalten den schulischen Teil ihrer Ausbildung am Kolleg und es gibt eine Vorbereitung zu Berufen wie Fitnessassistent. So gemischt die Schüler sind, so vielseitig ist die Schule, die sie alle gemeinsam besuchen.
Die Arbeit des Berufskollegs wird künftig vom Land besonders unterstützt, es wurde vom Land als Talentschule ausgewählt.
Die Talentschulen sind das große bildungspolitische Projekt der schwarz-gelben Landesregierung. Es ist ein auf sechs Jahre angelegter Schulversuch. Die Idee: Schulen mit besonderen Problemen benötigen mehr Lehrerstellen und mehr Mittel als Schulen in sozial besser gestellten Stadtteilen. Ganz neu ist das alles nicht. Schon heute erhalten Schulen in Problemvierteln, es gibt über 1000 von ihnen in NRW, 2800 Lehrerstellen zusätzlich. Das Projekt Talentschulen, vom Land aufgelegt um die Chancengleichheit zu fördern, geht aber weiter und schafft mehr als 400 zusätzliche Stellen. 315 von ihnen werden allgemeinbildende Schulen erhalten, 100 an Berufsschulen. Dabei ist die Zahl Talentschulen auf 60 begrenzt. 35 Schulen nehmen ab dem kommenden Schuljahr an dem Versuch teil, zum Beginn des Schuljahres 2020/21 werden weiter 25 Schulen dazu kommen. Viele neue Stellen also für wenige Schulen.
Allein für die ersten 35 Talentschulplätze hatten sich 149 Schulen beworben. 22 der ausgewählten Schulen liegen im Ruhrgebiet, dem Landesteil mit den größten sozialen Problemen. Das Auswahlverfahren führte dazu, heißt es aus dem Schulministerium, dass nicht alle Schulen zum Zuge kamen, die eine überzeugende Bewerbung eingereicht hätten. Das Schulministerium habe deshalb eine unabhängige Expertenjury benannt und mit der Auswahl der ersten 35 Talentschulen beauftragt. Die Jury habe unabhängig gearbeitet und ihre Auswahlentscheidungen auf der Grundlage der Bewerbungsunterlagen und von Daten zum Sozialraum getroffen.
Wahrscheinlich acht zusätzliche Stellen wird Johannes Kohtz-Cavlak, der Schulleiter des Alice-Salomon-Berufskollegs, erhalten. Drei von ihnen sind schon besetzt. „Wir erhalten die Förderung für den Bereich unserer Schule, in dem wir Jugendliche auf einen Ausbildungsplatz vorbereiten.“ Als er und seine Kollegen von dem Projekt Talentschule erfuhren, war ihnen sofort klar, dass sie sich bewerben wollen: „Es klang wie für uns gemacht.“ Das Alice-Salomon-Berufskolleg ist eine engagierte Schule, die mit den Jugendlichen über alle Grenzen hinweg arbeitet: In gemeinsamen Projekten kommen deutsche und syrische Schüler zusammen, arbeiten ehemalige Förderschüler mit angehenden Abiturienten zusammen. Man ist hier stolz darauf, wie sich ehemalige Schüler entwickelt haben, wie es der Schule gelang, Flüchtlinge, die anfangs kaum ein Wort Deutsch konnten, in die Lage zu versetzen, wenige Jahre später zu studieren. Wie es immer wieder gelingt, Schüler in wenigen Jahren fit für den Ausbildungsmarkt zu machen.
Mit den neuen Stellen wird die Schule ihre Arbeit weiter verbessern können, ist sich Kohtz-Cavlak sicher. Aber nicht alle acht Stellen werden Lehrerstellen sein: „Wir werden auch einen Systemadministrator einstellen, um unser Schulnetzwerk zu verbessern.“ Der Träger der Schule, die Stadt Bochum, habe sich außerdem verpflichtet, in die IT des Berufskollegs zu investieren.
Die Opposition sieht die Pläne der Landesregierung kritisch. Sie gehen ihr nicht weit genug. Jochen Ott, der schulpolitische Sprecher der SPD im Düsseldorfer Landtag, begrüßt dabei generell das Konzept der Talentschule: „Ich halte die Grundidee, dass man Schulen mit besonderen Herausforderungen unterstützt, für richtig.“ Was Ott kritisiert ist, dass die Landesregierung die Idee der Talentschule erst einmal an wenigen Schulen testen will: „Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Was die Landesregierung da auf den Weg gebracht hat, ist ein Alibimodell.
Ginge es nach Ott und den Sozialdemokraten, würden alle Schulen, die in Stadtteilen mit sozialen Problemen liegen, ein Anrecht auf eine besondere Förderung bekommen. Ott verweist und Hamburg und Berlin, wo es solche Regelungen bereits gibt und entsprechende Listen erstellt wurden. „In Hamburg haben solche Schulen kleinere Klassen. Stadt 23 sind dort in den Klassen nur 19 Kinder.“
Ein weiteres Problem sieht Ott darin, dass sich auch Schulen, die für das Konzept der Landesregierung in Frage gekommen wären, nicht beworben haben: „Ich weiß von Schulen in Mönchengladbach die sich nicht um eine Teilnahme beworben haben, weil sie Sorgen um ihren Ruf hatten.“ Talentschule zu sein bedeutet eben, auch in der Öffentlichkeit zuzugeben, dass man Probleme hat und Hilfe braucht.
Der Siegener Professor und Erziehungswissenschaftler Matthias Trautmann hingegen begrüßt, dass es sich bei den Talentschulen um einen begrenzen Versuch mit wissenschaftlicher Begleitung handelt. Die Idee hinter den Talentschulen hält er für grundsätzlich gut: „Es ist richtig, dass Schulen mit unterschiedlichen Problemlagen auch unterschiedlich behandelt werden.“ Ideal sei natürlich, wenn mehr, ja alle Schulen mit besonderen Herausforderungen gefördert werden würden: „Natürlich kann man das auch mit 300 oder 1000 Schulen machen, aber da redet dann ja auch der Finanzminister mit. Wenn man nicht mehr Geld hat, hat man nicht mehr Geld.“ NRW würde allerdings schon jetzt bei den Talentschulen deutlich mehr investieren als Bundesländer wie Berlin, Hamburg oder das Saarland es bei ähnlichen Vorhaben getan haben. Probleme sieht Trautmann aber auch. Zum einen würde ein Teil der neuen Stellen durch Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben aufgefressen, zum anderen sei nicht klar, woher die neuen Lehrer überhaupt kommen sollen: „Gerade in Fächern wie Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften, die ja besonders gefördert werden sollen, fehlen heute schon Lehrer.“
Zudem sei es wichtig, nicht nur die ausgewählten Schulen zu beobachten, sondern auch Einrichtungen in ihrer Nachbarschaft: „Wie wirkt sich das auf die Schulen in der Umgebung aus? Was passiert an den anderen Schulen? Schicken engagierte Eltern künftig ihre Kinder auf die Talentschulen und ändern so die Zusammensetzung der Schüler? Das sind alles wichtige und spannende Fragen.“
NRW-Bildungsstaatssekretär Mathias Richter (FDP) sieht das Problem bei der Auswahl der Schulen auch, verweist aber auf die Zukunft: „Noch können wir nicht alle Schulen zu Talentschulen machen, weil wir in einen Schulversuch nur eine begrenzte Anzahl von Schulen aufnehmen können. Uns war wichtig, bei der Auswahl der Talentschulen für größtmögliche Neutralität zu sorgen, deshalb haben wir das Auswahlverfahren in die Hände einer unabhängigen Jury gelegt. Unser Ziel ist, die positiven Erkenntnisse aus dem Schulversuch Schritt für Schritt auf alle Schulen in Nordrhein-Westfalen zu übertragen.“
Von denen gibt es allerdings viele: 1.885 weiterführende und 396 Berufsschulen gibt es im Land. Dazu kommen dann noch einmal 2.787 Grundschulen, die nicht Teil des Projektes Talentschulen sind. Sie alle so zu unterstützen, wie die ausgewählten Talentschulen, bedeutet viele Tausend neue Lehrerstellen und Kosten in Milliardenhöhe.
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt am Sonntag
Ich mag diese Wettbewerbe um Fördermaßnahmen nicht.
Wenn es einen gesonderten Bedarf gibt, sollte dies auch ohne besondere Aufmerksamkeit auf Basis von Schlüsseln/Kriterien erfolgen.
OK, diese Kriterien müssen entwickelt werden. Nur was machen unsere vielen Pädagogen an den Unis und an den Schulen den ganzen Tag. Wie lange brauchen wir noch, bis wir halbwegs festgestellt haben, was die optimale Methode zum Unterrichten von Schülern ist und welche Ressourcen hierfür benötigt werden?