Richard Siegel ist ein arschcooler Typ und der König des zeitgenössischen Balletts. Punkt. Bei der Tanzplattform2018 zeigte er jetzt am Musiktheater im Revier die ersten beiden Teile des Gründungsprogramms seiner Compagnie Ballet Of Difference. Den dritten Teil des Programms – Unitxt – konnte er nicht zeigen, weil er bereits vor fünf Jahren kreiert wurde und damit zu alt für das Reglement der Tanzplattform ist, das nur Produktionen der vergangenen zwei Jahre zulässt. Hätte man nicht auch argumentieren können, dass das Gesamtprogramm erst in den vergangenen zwei Jahren entstanden ist?
Beim Latenighttalk nennt Siegal als Impuls für die Gründung des Ballet Of Difference die Frage, was dem zeitgenössischen Ballett heute fehle. Die Antwort darauf ist letztlich gleichermaßen naheliegend wie vernichtend: Zeitgenossenschaft. Das meint: Coolness, Modernität, Diversität und nicht zuletzt Beat. Siegal hat das alles und wenn seine Tänzerinnen auf Spitze tanzen, ist das oft näher und selbstverständlicher an der urbanen Realität als die ganzen HipHop-Hubereien.
Zu knackigem Elektro von DJ Haram (im Musiktheater leider etwas zu leise) zeigt Siegal im ersten Teil „Made For Walking“ eine für seine Arbeit typische Choreographie auf durchgehend höchstem Energieniveau. Fünf Frauen und fünf Männer tanzen in grauen und neongelben Kostümen, die teilweise aus Luftkissen bestehen, dicke, starre Röcke, Schleppen, Tutus, Kragen, manchmal fast Flügel, die vom Körper der Tanzenden abstehen, Bewegungen größer machen, wie Körpererweiterungen wirken. In dem rund 30-minütigen ersten Teil zeigt Siegal alle seine Qualitäten: Die unbändige Energie, das grandiose Gespür für Musik, den großartigen Humor, der immer direkt aus der Bewegung des Balletts gedacht ist. Ebenso gelingt es ihm – und das ist alles andere als selbstverständlich im Ballett – die Frauen trotz Spitzentanz immer als selbstbewusst und selbstbestimmt zu zeigen. Sie müssen nicht von den Männern gehalten, getragen und gestützt werden, sondern stemmen ihre Füße in den Boden und lassen die Kerle plötzlich klein aussehen. Ebenso lässt er nicht nur optisch jedem Ensemblemitglied seine eigene Persönlichkeit. Das beginnt damit, dass die Frauen auch teilweise mit offenen Haaren tanzen, geht aber weiter. In der Choreographie dürfen alle ihre individuellen Qualitäten ausspielen, müssen aber damit rechnen, dass Siegal genau die irgendwann auch bewusst ironisiert und bricht. Das ist zutiefst menschlich und macht diese Compagnie dem Zuschauer unmittelbar sympathisch.
Im zweiten Teil „BoD“ geht Siegal zunächst einen ganz anderen Weg. Nur vier Ensemblemitglieder beginnen ohne Musik in wollweißen Kitteln und mit schweren Boots einen vertrackten Stampftanz. Flamenco und diverse Volkstänze standen Pate, zwischendurch wird aber auch mal Stepptanz angedeutet, immer in hochkomplexen rhythmischen Mustern. Dann kommt Siegal selbst auf die Bühne und spielt vom Laptop Musik zu, gibt über das Mikro Anweisungen. Das hat etwas Spielerisches, Improvisiertes, der Spaß dabei ist allen Beteiligten anzusehen. Plötzlich ist Ballett gar nicht mehr das brutal technische Korsett, das die Körper in Perfektion zwingt, sondern einfach nur Tanz und Lebensfreude und dabei natürlich immer noch höchste technische Präzision.
Richard Siegal ist brilliant, wenn er Ballett von der Musik und der Bewegung her denkt. Ein großer Geschichtenerzähler ist er eher nicht – noch nicht vielleicht. Dass seine Bewegungungssprache von William Forsyth kommt, in dessen Compagnie er tanzte, ist sichtbar, aber kein Makel. Umso weniger als diese Position heute von niemand anderem mehr besetzt wird. Siegal macht Ballett für junge urbane Menschen, die eigentlich immer dachten, dass Spitzentanz veraltet sei. Das Ballet Of Difference ganz heißer Scheiß.
Am späteren Abend folgt dann in der Halle 12 der Zeche Zollverein noch „Situation mit Doppelgänger“ von Julian Warner / Oliver Zahn / Hauptaktion. Eine schwindelerregend intelligente Performance über Minstrel-Shows. Während Zahn und Warner auf der schwarzen leeren Bühne Tänze vorführen, erzählt eine Frauenstimme aus dem Off in sachlichem Ton und mit fast wissenschaftlichem Detailreichtum von verschiedenen Formen der kulturellen Aneignung und Kolonialisierung des Körpers durch Tanz. Gegliedert ist die Arbeit in Einzeldisziplinen und ein Interlude. Es geht um Twerking und Cakewalk, Schuhplattler und Menuett. Die große Leistung von Hauptaktion ist, dass hier in einer Stunde zu so schwierigen Themen wie kulturelle Aneignung und Differenz, Kolonialisierung der Körper, Sexualisierung und Critical Whiteness mehr erzählt wird, als in mancher stundenlanger erhitzten Diskussion. Und das ist auch noch verdammt komisch. Für die Zuschauer allerdings auch ein intellektuell irre herausforderndes und erschöpfendes Erlebnis. Ständig dreht sich die Perspektive, nie ist man länger als eine Sekunde sicher, wer gerade Schöpfer und Aneigner ist. Großartig auch, dass Michael Jackson ausgerechnet im Interlude seinen Auftritt hat. Der Schwarze, der sein Leben lang alles dafür getan hat, möglichst weiß zu sein, immer aber zutiefst schwarze Musik gemacht hat, der mehr und mehr zum geschlechtslosen Wesen wurde, aber tanzend die Übersexualisierung zelebrierte, hat hier nur kurz seinen Auftritt mit der Choreographie aus „Thriller“. Das ist absolut ausreichend, um dem Publikum einen weiteren mehrfach verdrehten Gedankengang ins Hirn zu katapultieren. Wahnwitzig und brilliant.
Termine und Tickets: Tanzplattform2018