Cocoondance ist die einzige Compagnie aus NRW, die eine Einladung zur Tanzplattform 2018 in Essen erhielt, sieht man einmal von Richard Siegals Ballet Of Difference ab, das in München und Köln angesiedelt ist.
In der kleinen Spielstätte von PACT hängt ein Raster von Scheinwerfern flächendeckend auf 2,50 Metern Höhe, der Saal ist nicht bestuhlt, die Zuschauer sind angewiesen, während der Vorstellung zu stehen. Bereits beim Einlass wummern subsonische Bässe, auf dem Boden liegen die drei Tänzer, die Gesichter und Köpfe mit schwarzen Tüchern umwickelt. Eher leblose Materie als tote Körper. In einer Ecke des Raumes DJ Franco Mento, der den pumpenden Minimal-Soundtrack liefert. In kurzen Blacks wechseln die Körper ihre Position im Raum. Zu sehen ist die Bewegung nicht, nur zu hören. Dann beginnt der sich verdichtende Sound den Körpern Leben einzuhauchen, eine Bewegung in Gang zu setzen. Unmerkliches Zusammenziehen, pulsierendes Atmen, reptilienhaftes Kriechen. Momentum erzählt eine Evolutionsgeschichte aus der Bewegung heraus. Die Körper drücken sich irgendwann vom Boden hoch, echsenartiges Laufen, immer zwischen Angriffs- und Fluchtbereitschaft. Annäherung findet nur im achtlosen Übereinanderkriechen statt. Dann allerdings versammeln sich die drei Tänzer und bilden eine fast vegetative Zweckgemeinschaft, die an Korallen denken lässt. Immer ist da die Musik Auslöser, Antrieb zu Modifikationen der Bewegung. Zuletzt reißen sich die Tänzer die Tücher vom Kopf, stehen wild tanzend oder headbangend direkt vor den Zuschauern. Wieder ist es eine Herausforderung, eine Aufforderung zu Tanz oder Kampf. Doch auch im finalen Discoexzezz bleibt die Ambivalenz zwischen Aggressivität und Fluchtbereitschaft erhalten. Momentum ist eine hochenergetische, mitreißende Performance.
Weiter in Halle 5 auf der Zeche Zollverein. Hier zeigt die brasilianische Grupo de Rua eine Choreographie ihres Leiters Bruno Beltrão. Der Titel „Inoah“ bezeichnet schlicht die Stadt, in der die Compagnie arbeitet. Irgendwie soll es um das Leben in dieser Stadt gehen, um den täglichen Kampf in der Straße. Beltrão ist durchaus ein Meister darin, das Bewegungsvokabular des HipHop und anderer Tanzformen, die „street“ und „urban“ sind, mit dem des zeitgenössischen Tanzes zu verschmelzen. Das ist allerdings auch das einzig Positive, was man über „Inoah“ sagen kann. Die Musik von Felipe Storino ist ohne Reiz und tut nichts für die Inszenierung, oben über der Bühne flackert eine Videoprojektion, die den Tagesverlauf am Himmel über einem Berg und einem Telefonmasten zeigt – geschenkt. Am ärgerlichsten ist wohl aber die völlig hanebüchene Lichtregie, die durchgehend holprig, wahllos und atmosphärelos Lampen an und aus macht. Dazu zappeln sich die zehn Tänzer (nur Männer) durchaus schweißtreibend die Seele aus dem Leib. Die Energie überträgt sich allerdings in keiner Sekunde auf den Zuschauer. Stattdessen macht sich allzu bald Langeweile breit. Hier gibt es einfach nichts zu sehen. Das Publikum ist aber natürlich begeistert, weil man sich gern in seiner eigenen Aufgeschlossenheit für diese „Street“-Sache sonnt. Der Exotismus feiert fröhliche Urstände.
„Zeitgenössischer Tanz ist, wenn sich alle nackt auf dem Boden herumwälzen“, sagte vor gar nicht so langer Zeit eine selbsternannte Wächterin des wahre, guten und reinen modernen Tanzes. Hätte sie Recht, hätten wir bisher bei der Tanzplattform2018 noch keinen zeitgenössischen Tanz gesehen. Aber nun kommt ja endlich die große Sasha Waltz aus Berlin und lässt im Aalto-Theater zumindest alle Oberkörper frei – und herumgewälzt wird auch.
Bin ich zu wenig Berlin? Oder warum lässt mich „Kreatur“ so kalt? Diese großen Frauen mit ihren harten, verhärmten Gesichter. Sie ist wie Waldarbeit, hart bis zur Übelkeit. Diese strengen Mädchen mit New-Wave-Frisuren. Mal sehen was im Dschungel läuft. Das völlig humorlose „That like these urban nightmares / We’d blacken each other skies“. Irgendwie zu viel Anne Clarke und zu wenig Palais Schaumburg und schrecklich 80er.
Klar, das ist wahnsinnig wichtig. Das Soundwalk Collective lebt und arbeitet natürlich nicht nur in Berlin, sondern auch in New York. Und, hey, die lassen auch Psychogeographie in ihre Soundtracks einfließen, weil sie Aufnahmen im – ACHTUNG! – Berghain, wo man ja immer Schlange stehen muss und nicht mal fotografieren darf, und der Gedenkstätte Hohenschönhausen aufnehmen. Habe ich erst nachher im Programm gelesen. Vielleicht wäre mir der Soundtrack weniger uninteressant vorgekommen, hätte ich vorher gewusst, wie irre wichtig das alles ist. Franco Mento ist auch ohne Berghain und Psychogeographie cooler. Und mal ehrlich: Ist das Leben in Berlin wirklich so ätzend, wie es hier dargestellt wird? Warum hauen die Menschen da dann nicht einfach ab?
Natürlich hat Sasha Waltz tolle choreographische Ideen. Großartig ist die Szene, in der sich das gesamte 14-köpfige Ensemble eine schmale Treppe hochschiebt, bis die winzige Plattform völlig überfüllt ist, einzelne den Ausweg nach oben kletternd finden, andere die Wand hinunter stürzen. Was für ein schlicht treffendes Bild für Gesellschaft. Aber warum macht sie nichts daraus, warum wird das Bild nicht weitergearbeitet, sondern durch ein hilfloses Black beendet? „Kreatur“ ist eine Ansammlung solcher oft sehr griffiger Ideen, die aber immer wieder nicht durchgeführt werden, die sich aneinanderreihen ohne einen dramaturgischen Bogen. Was den Abend zusammenhält ist vor allem eine fast panische Vermeidungshaltung. Bloß nicht schön sein, bloß nichts laufen lassen und um Gottes Willen keine Bewegung zulassen, die vielleicht schon einmal woanders zu sehen war, lieber noch einmal schmerzvoll verrenken als zu viel tanzen. Es ist ein ständiges Zuviel an Kunstwillen, an gequälter Originalität. Und wenn halt ein Holzbalken auf die Bühne getragen wird, dann ist es ein besonders unattraktiver Holzbalken. Super, dass der so toll mit der glatten futuristischen Ästhetik der Kostüme von Iris van Herpen und dem Lichtdesign von Urs Schönebaum bricht. Und wenn die Treppe am Ende als Einzelteil gebraucht wird, dann schrauben wir sie halt mit einem Akkuschrauber hörbar ab, das ist so wahnsinnig ehrlich und direkt. Danach kann ja mit dem Akkuschrauber auch noch an der Tänzerin rumgeschraubt werden. Das finden Berliner dann vielleicht witzig. Ist aber eigentlich nur total blöd – zumindest in diesem Stück, das ansonsten frei von jedem Humor ist. Hätte man noch einmal drüber nachgedacht, hätte man sich vielleicht doch einen professionellen Bühnenbildner gesucht, der eine andere Lösung für das Problem mit der Treppe findet. Aber alles wirkt in „Kreatur“ als wäre Waltz irgendwo auf halber Strecke zwischen improvisiertem Material und fertigem Stück die Luft (oder Lust) ausgegangen. Enttäuschend.
Da hätte ich mir lieber ein zweites Mal „Momentum“ angeschaut.
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