In den meisten Medien ist im Zusammenhang mit dem NSU von einem Terror-Trio die Rede. Damit wird ausgeblendet, dass ein Unterstützernetzwerk existiert – und die Ideologie der Terroristen gesellschaftlich teilweise anschlussfähig ist. Von unserem Gastautor Patrick Gensing/Publikative.org
“Wir haben eine große Botschaft. Wir haben wieder etwas, was die Jugend zum Kampf animiert. Es ist der große Idealismus. Und fragt euch doch einmal: Welche Kraft ist denn mächtiger? Erinnert euch an die Bilder der jungen Palästinenserinnen, junge Mütter, die sich den Sprengstoffgürtel umschnallen, um für ihr Volk, ihre Nation in den Tod zu gehen. Das ist es.” (Roland Wuttke, bayerischer NPD-Funktionär auf einer Demonstration im Oktober 2004)
DIE UNSTERBLICHEN wollen, dass ihre eigenen Kinder und mit ihnen alle Deutschen in allen künftigen Generationen Anteil an diesem Erbe haben können und es nicht nur verwalten (wie es auch jeder fremde Einwanderer könnte), sondern weiterentwickeln. Nur so haben die Ideen, die Taten, die Opfer und auch die vielen Toten unserer Ahnen einen Sinn für alle Zukunft. Um diese Zukunft geht es uns. Solange sie besteht, sind wir unsterblich. Und weil DIE UNSTERBLICHEN dazu ihr Volk brauchen, wehren sie sich gegen diejenigen, die es abschaffen wollen. (werde-unsterblich.info)
In der Berichterstattung über Rechtsextremismus wird zumeist von der rechten oder rechtsextremen „Szene“ gesprochen beziehungsweise geschrieben. Dies verharmlost die Komplexität und Schlagkraft des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland deutlich. Szene – dieser Begriff impliziert eine abgeschlossene, regional begrenzte und in ihren Codes einheitliche Struktur. Dies alles trifft nicht zu. Rechtsextremisten bemühen sich um Anschluss an die “Mitte der Gesellschaft”, agieren bundesweit – sogar international, und es gibt diverse Organisationsformen: Parteien, Freie Kameradschaften, kriminelle Banden, Musikgruppen, mittelständische Unternehmen, einzelne Aktivisten, Terrorzellen und Unterstützernetzwerke.
Daher sollte bezüglich des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik von einer sozialen Bewegung gesprochen werden. Sozial darf in diesem Zusammenhang auf keinen Fall als inhaltliche Ausrichtung, als Eintreten für Rechte von Minderheiten verstanden werden, sondern ausschließlich als soziologische Klassifizierung.
Kollektiver Akteur
Nach wissenschaftlichen Kriterien handelt es sich bei einer sozialen Bewegung um einen kollektiven Akteur, der zahlreiche Organisationsformen sowie Mobilisierungs- und Handlungsstrategien umfasst; die verschiedenen Organisationen und Personen verbindet ein gemeinsames Ziel: einen gesellschaftlichen Wandel zu beschleunigen, zu verhindern oder umzukehren. Während bei den sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre größtenteils progressive Kräfte am Werk waren, die sich der Gleichberechtigung und den Bürgerrechten verschrieben hatten, also gesellschaftlichen Fortschritt beschleunigen wollten, wuchs sei Mitte der 1990er eine reaktionäre, also rückwärtsgewandte, soziale Bewegung heran. Diese will gesellschaftliche Prozessen nicht beschleunigen, sondern verlangsamen und umkehren. Es geht gegen die Prinzipien der Aufklärung, gegen die universellen Menschenrechte. Rechtsextremisten propagieren eine Volksgemeinschaft, bekämpfen den kulturellen Austausch und fordern eine Rückkehr zu einer imaginären ursprünglichen Ordnung. Dies wird oft mit konservativen Werten vermischt, gerne auch als „deutsche Tugenden“ tituliert: Ordnung, Disziplin und Normalität. Diese Werte sollen die komplexe Gesellschaft übersichtlicher und subjektiv weniger bedrohlich erscheinen lassen.
Rechtsextremismus gibt es in Deutschland, seit die moderne Gesellschaft sich herausdifferenziert hat und durch die Mitbestimmungsmöglichkeiten verschiedene gesellschaftliche Gruppen um einen Kompromiss bemüht sind. Die Parteien sind organisatorischer Ausdruck dieser Aushandlungsprozesse. Jede Partei repräsentiert, bzw. repräsentierte zumindest einmal, bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Die Anhänger der NPD zeichnen sich dadurch aus, dass Kompromisse und Diskussionen nicht ihre Sache sind, sie hängen einem autoritären Weltbild an, wonach ein starker Mann die Geschicke lenken sollte. Rechtsextremisten zufolge gibt es eine absolute Wahrheit, Debatten und Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren sind demnach reine Zeitverschwendung.
Da Gesellschaften sich in Transformationszeiten, wie nach der Wende in Ostdeutschland, besonders unübersichtlich gestalten, lässt sich die Entstehung dieser reaktionären sozialen Bewegung unter anderem (!) mit diesen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erklären. Bestimmte Krisenszenarien begünstigen die Entstehung oder Verstärkung von rechtsextremen Einstellungsmustern, beispielsweise die Suche nach Sündenböcken. Es ist aber viel zu kurz gesprungen, wenn dies als alleinige Erklärung herangezogen wird, wie es immer wieder gerne geschieht: Gebt den Leuten Arbeit, dann ist alles in Ordnung, so die These. Diese Erklärung greift bei einigen rechtsextremen Akteuren zwar teilweise, andere Phänomene werden dadurch überhaupt nicht berührt. So gibt es durchaus auch gut situierte bis wohlhabende Rechtsextremisten, monokausale Erklärungen sind auch hier unbrauchbar. Nahe liegend erscheint es allerdings, dass Menschen, die nichts zu verlieren haben, eher zu unüberlegten Handlungen neigen, als Besitzstandswahrer. Wer beispielsweise Verantwortung für eine Familie trägt, überlegt sicher einmal mehr, ob er für eine Aktion eine Haftstrafe riskiert.
Nicht umsonst basiert die rechtsextreme Bewegung hauptsächlich auf den Strukturen und Aktivisten in Ostdeutschland – obwohl entsprechende Einstellungen in ganz Deutschland weit verbreitet waren und weiterhin sind. Wissenschaftler sprechen von einer „modernisierungskritischen Reaktion auf Ethnisierungsprozesse und Individualisierungsschübe“ in der Gesellschaft. Dies bedeutet praktisch: Angst und Verunsicherung vor allen Veränderungen, Fremde (bzw. das medial verbreitete Bild des Fremden) werden als Bedrohung wahrgenommen, die Komplexität der Gesellschaft überfordert viele Menschen, gewohnte gesellschaftliche Institutionen lösen sich auf, neue müssen erst geschaffen werden.
Daher sprechen viele Beobachter beim Kampf gegen den Rechtsextremismus in Teilen Ostdeutschlands auch nicht von der Verteidigung der Demokratie. Das demokratische Bewusstsein gibt es dort in Teilen der Bevölkerung gar nicht. Die NPD versucht Vorbehalte und Ängste weiter zu schüren, indem sie immer wieder mit martialischen Worten vor der besonders abstrakten und somit beängstigenden Globalisierung warnt. Dafür greifen die rechtsextremen Strategen Alltagsinteressen der Bürger und weithin akzeptierte Themen auf und erklären lokale Probleme ausschließlich durch weltpolitische Vorgänge, die angeblich von einer Machtclique bestimmt werden.
Männlichkeitsgehabe und Minderwertigkeitskomplexe
Rechtsextremisten können sich durch dieses Konstrukt auch der eigenen Verantwortung für die jeweilige Situation entziehen, ein attraktives Modell, welches den „kleinen Mann“ stets als Opfer dubioser Mächtiger darstellt. Hier kommen die persönlichen, anerzogenen Verhaltensmuster und Einstellungen mit ins Spiel – allein äußere Umstände greifen zur Erklärung des Phänomens Rechtsextremismus zu kurz. Selbstbewusste, offene und verantwortungsvolle Menschen werden sich sicherlich nicht als vermeintlich wehrlose Opfer von irgendwelchen dunklen Mächten fühlen wollen. Das weit verbreitete Muster, sich über „die da oben“ zu beschweren, da „die sowieso machen, was sie wollen“ – und gleichzeitig nach einem starken Staat zu rufen, begünstigt rechtsextreme Einstellungen.
Mit patriarchalischen Ansichten verhält es sich ähnlich – neben Männlichkeitsgehabe stellen Minderwertigkeitskomplexe sowie hoher Normierungsdruck weitere Faktoren da, die die Entstehung von Rechtsextremismus begünstigen. Hinzu kommt noch die ausgeprägte Unfähigkeit, Konflikte sinnvoll, konstruktiv und gemeinsam zu lösen. Aus all diesen Faktoren wächst ein tief verankertes Misstrauen gegen alles Fremde – welches besonders in ländlichen Regionen verbreitet scheint. In einigen Regionen Ostdeutschlands kann soziologisch gesehen eine relativ homogene Bevölkerungsstruktur beobachtet werden – inklusive Männerüberschuss. Dies führt zu weiter steigendem Normierungsdruck und noch weniger kulturellem Austausch – und Abwanderung von denen, die die Möglichkeit dazu haben: Besserausgebildete, oft Frauen. Ein Teufelskreis. In diesen homogenen Umgebungen scheinen menschenfeindliche Einstellungen deutlich besser zu gedeihen – und von homogenen Gruppen geht auch weit mehr Aggressivität aus. Wilhelm Heitmeyer, Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisation an der Universität Bielefeld, im Interview mit dem Autor:
Empirische Untersuchungen haben gezeigt: Ostdeutschland hat ein spezifisch siedlungsstrukturelles Problem – durch die vielen kleinen Gemeinden und Kleinstädte. Die gut ausgebildeten Menschen, die Widerworte geben, die wandern ab. Dadurch wird die Struktur immer homogener, sowohl sozial als auch von den Einstellungsmustern her. Und von homogenen Gruppen geht an vielen Stellen weit mehr Gefahr aus als von heterogenen Gruppen. Weiterhin herrscht ein hoher Konformitätsdruck in diesen kleinen Gemeinden, man kennt sich, es ist kaum möglich, alternative Bekanntschaften und Freundeskreise aufzubauen – anders als in Großstädten.
Rechtsextremismus muss daher auch als anti-städtisch definiert werden, wie im zweiten Teil der Reihe “Rechtsextremismus als soziale Bewegung” gezeigt wird.
Crossposting: Der Text erschien bereits bei unseren Partnern von publikative.org
„Nicht umsonst basiert die rechtsextreme Bewegung hauptsächlich auf den Strukturen und Aktivisten in Ostdeutschland“
Unfug !
Der Gastautor war wohl noch nie in Dortmund-Dorstfeld ?!?
@Locke: Trotz aller Probleme in Dortmund: Im Osten sind die Nazis deutlich stärker als im Westen.