Ich schreibe, spreche doch nicht im Schlaf? Jedenfalls erinnere ich mich genau, dass mir der aus der Schweiz stammende Lyriker Ralph Dutli in einem Restaurant am Duisburger Innenhafen von seinen Übersetzungen absurder Lyrik aus dem mittelalterlichen Nordfrankreich erzählte, den sogenannten Fatrasien, entstanden um das Jahr 1290 in Arras. Dies geschah in der Nacht vom neunten zum zehnten November im Jahre 2011.
Etwa 35 Stunden später, am Morgen des elften November, fügte sich alles von Dutli Gehörte und eigene Hellsicht kurz nach 11 Uhr zu einem jäh aufscheinenden Bild: Ich sehe mich einen Hügel besteigen, weiter empor von dort aus in einen namenlosen Nebel, mit mir aberdutzend andere. Eine Himmelstreppe, ein Übergang …
(Elf: die magische Zahl. Die Zahlen Zehn und Zwölf sind nichts als harmlos, eitel, pompös. Die zehn Gebote, die zwölf Apostel, wie langweilig. Die Elf jedoch liegt dazwischen, ungerade, sperrig, verrückt, unheimlich, düster.)
Wiederum zwei Tage später, am 13. November, setzte ich mich voller Unruhe in meinen Wagen, fuhr ziellos umher, folgte den erstbesten Schildern und stoppte abrupt in der nahen Stadt B., ließ den Wagen stehen und sah mich um.
Dann bestieg ich gegen 17 Uhr an diesem überaus nebligen Tag eine baumbestandene Halde, aufgeschüttet aus Gestein, aus der Tiefe mitgerissen beim Kohleabbau. Auf der Kuppe dieser Bergehalde stehe – so hieß es auf einer Tafel – ein silbriger Tetraeder aus Stahl, der mich zu sich hinzog wie ein Magnet einen Eisenspan. Der Weg hinauf, fast ein Waldweg, lag im Dunst, von Ferne grimmes Kötergebell.
Einen verloren trabenden Jogger fragte ich nach der Richtung zum stählernen Vieleck. Weiter begegnete mir niemand, ausgestorben der immer mehr im weißen Licht verschwimmende Weg. Endlich fand ich den Aufgang, die metallkalte Treppe, 387 Stufen die Halde hoch hinauf zur Pyramide. Im feuchtfrostigen Dunst begann ich im schweren Mantel zu schwitzen und die Nässe drang auch von außen in Lunge und Gewand.
Nach dem mühsamen Aufstieg stand ich allein auf einem Plateau, auf dem auch der Tetraeder sich unübersehbar befinden sollte. Doch nichts. Hier oben war der Nebel noch dichter geworden. Wo war sie, die lichte Konstruktion aus 210 Tonnen Stahl und Rohren, von der ich habe raunen hören, sie ruhe auf vier Stahlbetonsäulen, sodass sie vom Boden abgesetzt sei und besonders nachts, wenn sie leuchte, einen schwebenden Eindruck erwecke? Sie war nicht zu sehen, war verschwunden, irgendwo in der weißen Wand, ich wusste nicht wo, noch niemals zuvor war ich leibhaftig hier gewesen.
Ich folgte dem gebogenen Weg auf dem Plateau und vage tauchte eine viele Meter hohe Silhouette auf, immer näher wagte ich mich ich an sie heran. Nun lag das Gebilde vor mir und … ich erstarrte, mir schien als ob … nein, ich sah in der Höhe – an vielen Stricken aufgeknüpft – siebzig, achtzig Tote zwischen Rohrgewirr im mäßig bis starken Winde pendeln. Nur eine einzelne dunkle Gestalt saß abseits am Fuße eines mächtigen Stahlrohrs. Sie winkte mich heran. Ich zögerte, doch, wie von unsichtbarer Hand geführt, schritt ich auf den Dunklen zu. Wir schwiegen.
Was er mir sagte, sagte er ohne Mund und Worte.
Auch er sei durchaus Fatrasiker, ein Verfasser absurden Schrifttums, sei der Herr Watriquet Brassenel de Couvin, ich wisse schon. Er habe die folgenden Verse geschrieben, jüngst erst übersetzt vom Herrn Dutli aus Heidelberg: „- ein Hund aus Kreide;/ wenn er dich beißt, soll es mich freuen,/ und wenn einer dich zum Erhängen schickt,/ weine niemals eine dicke Träne,/ sondern bewahre die Freude in deinem Herzen“.
Ob ich wisse, was am 11.11. an allen Pyramiden der Welt geschehe, ob ich denn nicht hierorts in der Allgemeinen Zeitung gestern, am 12.11., gelesen hätte, dass selbst im fern-ägyptischen Gizeh die Cheopspyramide am 11. November für die Öffentlichkeit gesperrt worden sei, es habe zuvor Gerüchte gegeben um angeblich dort geplante Rituale.
Doch, ja, diese Kurzmeldung hatte ich tatsächlich gelesen. Über uns knarrten jetzt die Seile – mit den Toten daran – in jammervollen Tönen.
Und das hier, fragte ich lautlos, was ist damit?
Herr Watriquet Brassenel de Couvin lachte. Sei das nicht wahrhaftig grotesk? Immer habe man den Tetraeder zur „Landmarke“ machen wollen, er hasse solch tumbe Vokabeln, verstehe sie recht eigentlich auch nicht. Immer habe man vergebens auf Reisende gehofft. Nun seien aber jene anderen gekommen. Er zeigte nach oben auf die sacht im Winde hin und her taumelnden Toten.
Ich hätte heute einen guten Tag erwischt, fügte er hinzu, was mir erscheine, erscheine nur an einem Tag außerhalb der Woche, an einem Ort außerhalb der Zeit. Dies sei gewiss die Zukunft am Flusse namens Ruhr. Tag für Tag könne man lesen, dass die Armut der Alten und Greisen größer werde (das kenne er von damals), dass die Selbstmordrate zunehme („Sagt man wirklich ‚Selbstmordrate’?“), auch junge Menschen seien hoffnungslos, Menschen im besten Alter seien bar jeder Chance auf Arbeit und Würde.
Was also wirklich fehle, sei eine Freistätte, eine letzte Zuflucht für alle, die sterben wollten oder müssten, ein Ort, der jedem die Möglichkeit des Freitodes eröffne, der jedem ermögliche sich aufzuknüpfen, ohne weiter zur Last zu fallen. Dieser Tetraeder sei hierzulande der geeignetste Ort des Übergangs, verfüge über genug Platz für alle, die in großer Zahl sich bald einfinden würden.
Vielleicht werde er, der Tetraeder, so doch noch zu einem Spektakel. Von überall her könnten die Reisenden nun kommen und die ungezählten Toten bestaunen. Er sehe gute Geschäfte für die Herbergen und Händler. Es sei doch jetzt jene Zeit, nicht wahr, in der – vor dem alles fressenden Gelde – lebendige Menschen nichts mehr zählten, nur bewusstlose Käufer von Talmi noch von Nutzen seien. Da könne der Tetraeder in allen Landen zum Exempel eines Wuchers werden, der aus den Toten, die er hervorbringe, noch eine Belustigung mache, die alle sehen sollen.
Ich vermochte immer noch nicht zu sprechen, überwand aber endlich doch die Starre und floh vom Tetraeder durch den vorgelagerten Schotter, überall meinte ich Totenschädel zu sehen, ja der ganze Schotter schien aus Schädeln und Knochen gemacht. An einem Tag außerhalb der Woche, an einem Ort außerhalb der Zeit hatte ich gesehen, was werden, was kommen wird, was bereits heute zu sehen ist. Immer schneller stürzte ich jene 387 metallenen Stufen die Halde hinunter ins Bodenlose, der Nebel hatte alles Irdische eingehüllt.
Nichts war zu hören, als allein der Herr Watriquet Brassenel de Couvin, der mir lauthals lachend seine Verse hinterherrief:
Freund, sei nicht niedergeschlagen,
sondern bewahre die Freude in deinem Herzen.
Freund, sei nicht niedergeschlagen,
ich werde eine tote Ziege bekommen
für einen toten Hering, der ertrinkt
und deine Tür bewachen wird,
damit ein Schneckerich dich nicht fortträgt;
und wenn es vorkommt, dass ich furze,
wirst du sagen – ein Hund aus Kreide;
wenn er dich beißt, soll es mich freuen,
und wenn einer dich zum Erhängen schickt,
weine niemals eine dicke Träne,
sondern bewahre die Freude in deinem Herzen.
Quelle des Gedichts: Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
Sonderapplaus. So einen gruseligen Report von der Halde habe ich noch nicht erlebt, nicht mal selbst.
Jeder entwickelt so seine eigenen Strategien und Sichtweisen, um sich das Ruhrgebiet heimelig (oder auch unheimlich) zu machen …
Die hier gefällt mir seht gut; die Verbindung zwischen den Fatrasien und der Halde war längst überfällig!
Vor Jahren war ich, im Winter, auf der Halde Haniel. Beim Anblick der damals entstanden Fotos bilde ich mir immer wieder ein, ich sei auf einem Hochplateau in Zentralasien gewesen.