Natürlich sind Kriege als von Menschen gemachte Katastrophen nicht erst seit einem Jahr Thema der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schon Autoren wie Handke, Zeh oder Thomas Lehr („September, Fata Morgana“) und Sherko Fatah („Das dunkle Schiff“) hatten über Balkankonflikte, Irak, Afghanistan geschrieben. Doch mit dem letzten Roman Michael Kleebergs und dem Sachbuch „Soldaten“ von Neitzel und Welzer erhält die Debatte um (deutsche) Kriege und Soldatentum eine neue Dimension.
Als historische Vor-Bilder in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Krieg haben Romane von Grimmelshausen bis hin zu Remarques „Im Westen nichts Neues“ die ästhetischen wie humanistischen Maßstäbe gesetzt. Und nach den kriegsverherrlichenden Epen der Jahre 1933 ff. gesellten sich im Nachkriegsdeutschland zur solitären „Blechtrommel“ nach und nach zahlreiche Väter- oder Töchter-Romane, die parallel zur Eltern-Austreibung gleich auch deren Nazi-Vergangenheit bannen wollten. Walter Kempowski wiederum dokumentierte und collagierte im „Echolot“ die Feldpost deutscher und russischer Soldaten, Günter Grass griff das Reiz-Thema „Gustloff“ auf und spät auch das seiner eigenen Zugehörigkeit zur Waffen-SS (als Siebzehnjähriger). Zwischendurch schmähte Maxim Biller immer mal wieder Böll und andere, die sich stets davor gedrückt hätten, ihr ganz alltägliches Soldatendasein im Krieg, ihre eigene Verstrickungen ins Töten genauer zu betrachten, geschweige denn davon zu erzählen. Und es stimmt wohl, dass viele Autoren wie Borchert lieber den Heimkehrer-Typus als Teil einer Lost Generation stilisiert haben, als die Verbrechen jener Wehrmacht zu schildern, der sie oft angehörten. Die Erzählung „Der Mann des Tages“ des 1945 desertierten Heinar Kipphardt mag da eine der berührenden Ausnahmen sein.
Der unbekannte Soldat: bleibt tabu
Unterm Strich werden allerdings auch heute die Kriege der Gegenwart und Soldaten als ihre Protagonisten selten zu Stoff oder Figuren aktueller deutschsprachiger Literatur, zum motivischen Kern erzählter Geschichten und Gegenwartsgeschichte.
Die ‚WELT ONLINE’ titelte am 12.9.2010 „Denkmal für den unbekannten Soldaten. Die deutsche Gegenwartsliteratur hat die Kriege der Gegenwart bisher so sehr verdrängt wie wir alle.“ Und stellte weiter die Frage: „Von den Soldaten, die oft in die Armee eingetreten sind, ohne je in den Krieg ziehen zu wollen, jenen also, die diese Kriege dennoch heute führen, haben wir immer noch kaum eine Ahnung. (…) Wie geht man mit den Kriegern um, die zu uns gehören und doch wieder nicht, wie nah lassen wir ihre Erfahrungen an uns heran?“
Deutscher Pflegefall
Immerhin, in der erzählenden Literatur hierzulande scheint die Figur des Soldaten nicht länger ein unbeschriebenes Blatt zu bleiben. Im Jahre 2010 erschien nicht nur der Roman „Deutscher Sohn“ (von Ingo Niermann und Alexander Wallasch), sondern auch Michael Kleebergs vielbeachteter Roman „Das Amerikanische Hospital“.
Mit Niermann/Wallaschs deutschem Sohn ist man unter dem Aspekt der literarischen Aufarbeitung kriegerischer Erfahrung trotz aller Blut-und-Hoden-Drastik im Text rasch fertig. Zwar sitzt der 28-jährige Held des Romans, Harald „Toni“ Heinemann, mit einer tiefen, eiternden Oberschenkelwunde im Rollstuhl, steht als Pflegefall unter Opiateinfluss und deliriert munter drauf los, doch die Figur bleibt als Ex-Soldat seltsam blass und austauschbar. Abseits seiner post-traumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist Toni eher ein Seelenverwandter der Figuren Charles Bukowskis, so sexbesessen agiert und phantasiert er sich durch Frauenfleisch und Alltag. Das alles liest sich nicht etwa obszön, sondern eher süffig wie ein bitter-frivoler Krimi – drei Tage später kann man schon nicht mehr genau sagen, worum es wirklich ging.
Eine kurze Szene aus einem Hamburger Bundeswehrkrankenhaus und die Schilderung eines Attentats auf einen Wagenkonvoi in Kunduz erhellen den Afghanistan-Krieg weder analytisch noch erzählerisch. Nirgends wird plausibel, dass Toni nach einem Autounfall in Friesland ganz anders hätte leiden können als nach jener Explosion eines in Zitronen versteckten Sprengsatzes in Kunduz, die sein Leben veränderte: Toni selbst saß im Konvoi, den es traf.
„Das Amerikanische Hospital“ – Amerika als Krankenhaus?
Mehr über den Krieg erfährt man da in Michael Kleebergs eindringlich und gekonnt verhalten erzähltem Roman „Das Amerikanische Hospital“. Für seine Recherchen hat Kleeberg im Süd-Libanon Zeit mit UN-Soldaten verbracht. Dem Soldatischen, insbesondere dem soldatischen Leben im Rahmen der US-Operation Desert Storm, hat er sich über das Quellenstudium soldatischer Kriegsberichte genähert, hat sich mit Soldaten und Trauma-Psychologen unterhalten, hat in einem berühmten Essay des amerikanischen Essayisten Seymour Hersh die Verortung für die Figur seines US-Captain David Cote gefunden.
Kleeberg machte aus all dem jedoch nicht nur seinen Roman „Das Amerikanische Hospital“, sondern fragte darüber hinaus auch journalistisch offensiv nach dem Verhältnis der Deutschen zu ihren Soldaten.
An alle: Endlich Verantwortung übernehmen
In seinem politischen Artikel „Was wir unseren Soldaten schuldig sind“ in der „WELT“ forderte er 2009: „Eine Demokratie hat die Menschen zu achten, die sie in ihren Krieg schickt.“ Und weiter:
„(…) Kriegserfahrungen machen Soldaten krank. Shell shock, PTBS: Wir dürfen getrost davon ausgehen, dass die deutschen Soldaten in Afghanistan, die durch ihr unklares Mandat gezwungen sind, abzuwarten, bis man versucht, sie umzubringen, bevor sie daran denken dürfen, ihre Haut zu retten, massenhaft Kandidaten für dieses Krankheitsbild sind.
(…) Es ist höchste Zeit, dass dieser Staat die volle Verantwortung für seine Entscheidungen übernimmt. Und zwar gegenüber seinen sogenannten Staatsbürgern in Uniform, nicht nur gegenüber seinen Bündnispartnern und der Bevölkerung des Kriegsgebietes. Es ist aber auch höchste Zeit, dass diese Gesellschaft genau das lautstark verlangt.
Entweder wir haben als demokratisches Land eine demokratische Armee, dann sollte die Tätigkeit unserer Soldaten gewürdigt und geschätzt werden, oder wir glauben, dass Soldaten etwas per se Undemokratisches sind und schämen uns ihrer, dann sollten wir die Bundeswehr schließen.
Was nicht geht, ist der halbherzige Schlingerkurs, der auf halber Strecke abgebrochene Weg zu internationaler Verantwortung, die Tatsache, dass wir Soldaten in ein Kampfgebiet schicken und zugleich zu vertuschen suchen, dass es sie gibt und was sie dort durchmachen.“
Selbstgefälliger Pazifismus vs. heroische Illusionen des Soldaten auch über sich selbst
Auch Kleebergs ein Jahr später erschienener Roman „Das Amerikanische Hospital“ zwingt seine Leser, ihr Verhältnis zu Krieg und Pazifismus zumindest zu überdenken. Nach der Lektüre muss niemand seine Antikriegshaltung aufgeben, aber man muss sie sicher komplexer begründen. Der Autor provoziert seine Leser, das eigene Soldaten-Bild zu differenzieren, nicht alle Soldaten nur über den einen aus dem Kontext gerissenen Tucholsky-Satz zu scheren: „Soldaten sind Mörder.“
Dabei liefert Kleeberg keinerlei Apologie des Krieges, eher darf sein Roman als beklemmender Antikriegsroman gelesen werden, als Roman über einen Krieg, der nicht nur ‚den Feind’ zerstört, sondern auch die Umwelt und fast unbemerkt immer auch Geist, Herz und Seele der Soldaten selbst. So – und nur so – ist Kleebergs Text auch eine Dekonstruktion pazifistischer Selbstgefälligkeit und des Gefühls moralischer Überlegenheit gegenüber jedwedem Soldatentum.
In der Etappe vom Saulus zum Paulus
Heute kann ein Soldat (und wie wir mittlerweile wissen: eine Soldatin!) in den Armeen der Welt so vieles sein oder werden: humanitärer Interventions-Helfer, edler Krieger, heiliger Krieger, Gotteskrieger, Täter, Mörder, Opfer, Mitläufer, Söldner, Folterer, Monster, Feigling, Befehlsverweigerer, Deserteur, Kriegsgegner, Antiheld, Witzfigur und Traumapatient als gesellschaftlicher Ausschuss.
Michael Kleeberg konzentriert sich mit seinem Porträt des US-amerikanischen Captains David Cote glaubwürdig auf einen gebildeten, poesieliebenden Offizier, einen späten Nachfahren des ehrenvoll-sensiblen Majors von Tellheim aus Lessings „Minna von Barnhelm“. Cote wähnt, im Irak Menschenrechte verteidigen zu können, und glaubt zunächst daran, Demokratie ließe sich exportieren, unterm Strich könne zumindest ein gerechter Krieg auch Menschen befreien. Erst als er Zeuge barbarischer Umweltzerstörung durch Saddams Truppen wird und nolens volens Beteiligter ferngesteuerter US-Army-Bombardements auf abziehende irakische Truppen oder harmlose Kinder, beginnt ein Umdenken bei ihm – oder sollte man ‚Umfühlen‘ sagen? Cote driftet in Depressionen, PTBS, Burn-out, niemand weiß es recht zu benennen, auch Cote selbst nicht.
Immerhin erträgt er jahrelang diverse schmerzhafte Psychotherapien im L’Hôpital Américain Paris-Neuilly, deren Wirkungen er es aber zum guten Schluss nicht einmal wirklich zu verdanken hat, dass er sagen kann: „… ich hege zum ersten Mal einen Groll gegen meine Armee, mein Land. Verstehen Sie, gewiss, ich habe alles richtig gemacht, und was ich falsch gemacht habe, liegt nicht in meiner Verantwortung. In meiner Verantwortung liegt nur, dass ich überhaupt dabei gewesen bin. Wäre ich nicht, wären wir nicht dagewesen, wäre nichts von alledem passiert. Es wäre anderes passiert, Schlimmeres vielleicht…“
So oder so also: Der Krieg verdirbt die Menschen. Im Krieg töten Soldaten nicht nur ihre Gegner, mehr oder minder zufällig auch Zivilisten, in jedem Krieg töten Soldaten vor allem auch eines ab: sich selbst.
Kleeberg demonstriert (ohne jede Belehrung) die Verführung, Verwandlung und das Erwachen eines Soldaten am Sonderfall eines Offiziers und Gentlemans. Und vor allem so scheint Cotes Erwachen auch glaubwürdig.
Doch, was ist neben den Ausnahmen mit der Regel los, mit den vielen gedrillten, abgerichteten, seriell fabrizierten Waffenkunst-Killern, den gemeinen Soldaten, gleich, welchen militärischen Rang sie innehaben mögen? Kann eine an humanistischen Werten orientierte demokratische Armee in einer demokratischen Gesellschaft tatsächlich Gestalt annehmen? Oder muss sich jeder humane Anspruch einer Armee nicht notwendig auflösen zwischen politischer (ideologischer wie religiöser) Instrumentalisierung, ökonomischen Interessen eines Landes, Korruption durch Waffenlobby, internem militaristischem Referenzrahmen und der Praxis der Gewalt, des Tötens?
Soldaten unter sich: „Männergespräche“ und der Feind hörte mit
Dass Kriege notwendig Gewalt auf allen Ebenen entfesseln und in der Vergangenheit oft Männergesellschaften Realität werden ließen, die ihre ganz eigenen (Un-)Werte, Orientierungen und Referenzrahmen besaßen, belegt aktuell am eindrücklichsten nicht etwa ein literarischer Text, sondern ein Sachbuch, Sönke Neitzels und Harald Welzers „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“.
150.000 Seiten Abhörprotokolle haben Neitzel/Welzer gesichtet und ausgewertet, gegenrecherchiert, historisch und sozialpsychologisch analysiert. „Die Briten hatten während des gesamten Krieges Tausende deutsche und einige hundert italienische Gefangene systematisch abgehört, besonders interessant erscheinende Gesprächspassagen auf Wachsplatten aufgenommen und davon Abschriften angefertigt. Sämtliche Protokolle hatten den Krieg überdauert und waren 1996 freigegeben worden.“
„Soldaten“ zeigt, wie Männer in Echtzeit über den Krieg sprechen, wenn sie sich unter sich wähnen, wenn man dem Kameraden imponieren möchte und keine humane Maske in der Zivilgesellschaft aufgesetzt werden muss. Neitzel/Welzer haben sie gesammelt, geordnet und bewertet, die Aussagen zu Gewalt- und Tötungsbereitschaft (oder seltener: deren Ablehnung), zu Mord und Vergewaltigung, zu Pogromen und Erschießungen. Heraus kam nicht nur ein Buch über die Banalität des Bösen, sondern auch eines über die Bösartigkeit des Banalen.
Die beiden Autoren machen verständlich, wie im Referenzrahmen des spezifischen Militarismus, Sexismus, Rassismus und Führerkults des Dritten Reiches ganz ‚normale’, gutmütige und freundliche Männer zu „Weltanschauungskriegern“ mutierten, Dr. Jekyll /Mr. Hyde. Vielen Soldaten wird der Krieg als Vernichtungsfeldzug zur Routine, zur Arbeit und so erledigen sie sie auch.
Das erschreckendste Ergebnis des Buches aber ist, dass in entsprechendem Umfeld zu gegebener Zeit jede/r von uns in die Gefahr gerät, der Gewalt an sich und anderen freien Lauf zu lassen: „In Wahrheit handeln Menschen, und das wird dieses Buch zeigen, so, wie sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Und das hat viel weniger mit abstrakten ‚Weltanschauungen‘ zu tun als mit ganz konkreten Einsatzorten, -zwecken und -funktionen und vor allem mit den Gruppen, von denen sie ein Teil sind.“
Doch das hätten wir eigentlich wissen, verstehen oder uns selbst gegenüber längst zugeben können nach Auschwitz und My Lai, Srebrenica, Guantanamo, Abu Ghraib und all den anderen Orten des Grauens, von denen sehr viel kleinere manchmal mitten in unserem Alltag liegen.
– Sönke Neitzel/Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2011
– Michael Kleeberg: Das Amerikanische Hospital. Roman. DVA, München 2010
– Ingo Niermann/Alexander Wallasch: Deutscher Sohn. Roman. Blumenbar Verlag, Berlin 2010