The Cure XI – Wild Mood Swings

Nun beginnt der Teil dieser Reihe, auf den ich mich schon die ganze Zeit freue. Ab jetzt besprechen wir Alben, die vielleicht viele der Leser nicht mehr mitverfolgt haben oder für Nieten halten.
Wild Mood Swings erschien, als meine heftige Teenager-Fanphase vorbei war. 1996 höre ich fast ausschließlich militant vegan straightedge Hardcore. Natürlich kaufte ich mir dennoch das neue The Cure-Album. Und ich hörte es gerne, auch in den Jahren danach immer mal wieder. Der Titel ist wirklich Programm. Diese Platte wechselt ständig zwischen gut gelaunten Ohrwürmern und tieftraurigen Balladen. Und ich kann die Popsongs hier wirklich wertschätzen. Vielleicht tue ich damit der Head On The Door einmal mehr Unrecht. Sie ist bestimmt in all ihrer Poppigkeit mindestens genauso gut wie Wild Mood Swings. Aber letztere erschien eben in einer Zeit, in der die Musik gewordene Melancholie für mich nicht mehr von überlebenswichtiger Bedeutung war. Als ich Head On The Door kennenlernte, brauchte ich anderen Stoff. Jetzt aber war ich frei, einfach großartige Unterhaltungsmusik zu genießen, wenn ich schon mal eine Pause vom Gekeife der New School Hardcore-Bands machte.

Ich behaupte, dass alle Stücke auf der Wild Mood Swings die volle Punktzahl verdienen. Wie es sich gehört, fängt sie monumental an. Einmal mehr ist Want ein Song über die Unersättlichkeit, die Gier, die Leere, die sich nicht füllen lässt. Diesmal bildet der Anfang aber keine Klammer mit einem epischen, kämpferischen Schlusssong, sondern mit einem traurigen. Überhaupt fehlt hier weitgehend die Kategorie, die in dieser Reihe die Bezeichnung „sägende Brecher“ erhalten hat, die verzweifelten, treibenden Songs (am ehesten gehört noch Trap hier herein). Es groovt allerorten, aber wenn es nicht gut gelaunt ist, ist es auf dieser Platte eigentlich immer tieftraurig und langsam und ruhig.
Mein Gott, wie traurig es ist. This Is A Lie kann man eigentlich nicht hören, ohne zu weinen und das geht bei Jupiter Crash und Numb so weiter (was für ein verficktes Elend sind eigentlich die Scheißdrogen?) und hört, meine Güte, bei Treasure ganz sicher nicht auf, Treasure lässt sich nicht anhören, ohne Kleenex bereitzustellen.

She whispers „Please remember me When I am gone from here“
She whispers „Please remember me but not with tears“
Remember I was always true,
Remember that I always tried,
Remember I loved only you,
Remember me and smile

For it’s better to forget
Than to remember me
And cry

Sorry, keine Chance. Man muss da weinen. Und bei Bare dann gleich noch mal. Jeder dieser Songs ist in meinen Ohren hundert Mal stärker als Trust von der Wish, auch wenn sie sicherlich in die gleiche Kategorie gehören. Die genannten Songs sind alle anders, jeder für sich ein Meisterwerk, trotz ihrer Langsamkeit genau so Ohrwürmer wie die fröhlichen Songs.

Und dann ist nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar folgerichtig, dass der Rest der Platte bunt und überschwänglich und poppig im besten Sinne ist. So ist dieses komische Leben nun mal. Das ist so unglaublich abwechslungsreich, von Mariachi-Musik (The 13th) über Alternative Rock (Club America könnte mit anderem Gesang auch von den Breeders oder so sein) zu einer ganz reizenden Kurzgeschichte über eine Brieffreundschaft. Strange Attraction geht so wunderbar ins Ohr und erzählt dabei eine so liebenswerte Geschichte, das man sich fragt, wie Musik es eigentlich machen kann, dass man sich fühlt, als hätte man ein Buch gelesen oder einen Film gesehen.
Mint Car schielt vielleicht ein bisschen sehr stark auf den Erfolg von Friday I’m In Love, aber mein Gott, lasst sie doch. Motörheadsongs ähneln sich untereinander stärker als das.
Gone! und Return swingen und glitzern von Bläsersätzen und Jazzelementen und vor allem Gone! groovt in einem Maße, für das The Cure bis dato nicht bekannt waren.

Kritiker werfen dem Album vor, ein krampfhafter Versuch zu sein, die Grenzen zu erweitern, behaupten, die Luft sei heraus gewesen, die Songs seien formelhaft. Das ist alles falsch. Die Grenzen waren bereits 1983 mit Love Cats in jede beliebige Richtung gesprengt worden, auch wenn Robert Smith behauptete, der Song sein nur ein Witz. Krampfhaft ist ein Versuch nur, wenn er scheitert. Die Songs auf der Wild Mood Swings sind aber nicht auf verzweifelte Weise anders (was im Übrigen im völligen Widerspruch zum angeblich Formelhaften steht) sondern einfach frisch. Der Gesang auf dieser Platte ist abwechslungsreicher als je zuvor. Die ungewöhnlichen Elemente stehen im Dienste der Ohrwürmer und nicht irgendeiner vermeintlich misslungenen Beweisführung. Es ist eine Platte, die sich einer unfassbar breiten Klangpalette bedient und damit ein großes, aber konsistentes Gemälde malt, das von Sonnenstrahlen bis Gewitter alles vereint, ohne an irgendeinem Punkt wie eine Collage zu wirken.

Hier gibt es die bisherigen Teile:
Alles außer Pop – The Cure I
Alles außer Pop – The Cure II – Seventeen Seconds
Alles außer Pop – The Cure III – Faith
Alles außer Pop – The Cure IV – Pornography
Alles außer Pop – The Cure V – Japanese Whispers
Alles außer Pop – The Cure VI – The Top
Alles außer Pop – The Cure VII – The Head On The Door
The Cure VIII – Kiss Me Kiss Me Kiss Me
The Cure IX – Disintegration
The Cure X – Wish

Der Autor schreibt hier unregelmäßig über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung