The Cure XII – Bloodflowers

Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Freund, den Sie seit 20 Jahren kennen und lieben. Nennen wir ihn Horst. Horst ist groß und schlank, mit dunklen Augen und einem subtilen Sinn für schwarzen Humor. Jetzt kommt jemand und stellt Ihnen eine andere Person vor – Herbert – und behauptet: „Den wirst du lieben! Der ist wie Horst, groß und schlank mit dunklen Augen und einem subtilen schwarzen Humor! Ich bringe Herbert heute Abend mit.“ Sie verbringen einen Abend mit Herbert und er ist okay, aber nicht wirklich zugänglich, einiges, was er sagt, erscheint eher oberflächlich und er ist ziemlich in sich gekehrt, aber dann hält er wieder schwer nachvollziehbare Monologe. Wie wahrscheinlich ist, dass Sie Herbert nach diesem ersten Abend genauso lieben wie Ihren Jahrzehnte alten Lieblingsfreund Horst?

Ungefähr das dürfte vielen passiert sein, die Bloodflowers mit den Worten angepriesen bekamen: „Die ist wieder wie die Disintegration!“ Es ist aus Marketingsicht verständlich, eine neue Platte mit jener zu vergleichen, die von weiten Teilen der Fangemeinde als die beste bezeichnet wird. Jedenfalls, um die Kunden neugierig zu machen. Und im Jahr 2000 hieß das noch, die CD zu kaufen. Die wurde auch gar nicht so schlecht verkauft. Leider gibt es keine Statistiken darüber, wie oft CDs gehört werden. Die Plays bei Spotify sprechen allerdings dafür, dass das Album tatsächlich auch langfristig verhältnismäßig viel gespielt wird, mehr als die Wild Mood Swings. Das ist schön, weil es wohl heißt, dass viele Herbert doch noch besser kennengelernt haben. Aber die Bloodflowers erfordert genau das: Zeit zum Kennenlernen. Man kann sie nicht einfach anstellen und begeistert sein, man muss sich auf sie einlassen.

Das lässt sich schon erahnen, wenn man auf die nackten Zahlen schaut. Neun Songs in einer Stunde. Nur ein Song, der kürzer dauert als fünf Minuten. „Wie die Disintegration“ stimmt insofern, als es ein Album mit einer einheitlichen, schwermütigen Stimmung ist, vielleicht sogar einheitlicher als dort. Smith hat auch noch die Pornography als dritten Teil dieser „Trilogie“ benannt. Dagegen sträube ich mich im ersten Moment, denn die Pornography in ihrer fast unerträglichen Intensität sticht aus dem Werk derart heraus. Aber unter dem Gesichtspunkt, dass es ein Album als Gesamtkunstwerk ist, das ein Gefühl erforscht und sich nicht um Begriffe wie „Abwechslung“, „Singleauskopplung“ oder „Spannungsverlauf“ kümmert, passt es eigentlich doch. Das erforschte Gefühl auf der Bloodflowers ist eben nur ein ganz anderes als auf der Pornography.

Wie lässt sich dieses Gefühl nun zusammenfassen? Gar nicht. Wenn es für Gefühle ein treffendes Wort gäbe, müssten Künstler ja keine ganzen Alben schreiben, um sich auszudrücken. Annähern an das Bloodflowersgefühl kann man sich vielleicht mit der Feststellung, dass es zwei Sorten von Liedern auf dieser Platte gibt. Die einfachen und die sperrigen. Nichts auf dem Album ist Gute-Laune-Musik, nichts ist tanzbar oder spritzig oder groovy. Aber die meisten dieser langsamen und melancholischen Lieder sind dennoch verhältnismäßig eingängig. Sie sind im Grunde Spielarten der Popsongs, die wir von Smith kennen und schätzen, Lieder mit klaren Strukturen und einleuchtenden Melodien, eigentlich Ohrwürmer, wären sie bloß etwas schneller und offensiver. Aber das sind sie eben nicht. Sie sind teilweise eher faith-artig friedlich und müde, wie The Loudest Sound und vielleicht The Last Day Of Summer, teilweise eher traurig und müde, wie Out Of This World oder There Is No If und teilweise mehr wie ein müdes Lächeln, gar nicht mal verzweifelt, durchaus liebevoll, aber eben auch schweren Herzens, vielleicht so, wie ein Großvater sich fühlt, der sich über sein Enkelkind auf einer Sommerwiese freut und dabei ahnt, dass es ihr letzter gemeinsamer Sommer ist (etwa Where The Birds Always Sing und Maybe Someday).

Wer mitgezählt hat, stellt fest, dass drei Songs für die Kategorie „sperrig“ übrig sind. Die dauern zusammengerechnet fast eine halbe Stunde. Watching Me Fall, 39 und Bloodflowers. Diese Songs walzen dahin wie Gletscher, langsam und zäh, aber unaufhaltsam, rücksichtslos, ohne den Hörer mit Hooklines oder eindeutigen Refrains zu umgarnen. Und dennoch so stark. Das sind Lieder, die man nicht nebenbei hören kann. Da sollte man, wie Lou Reed im Booklet von Magic and Loss schreibt, so aufmerksam zuhören, wie man ein Buch lesen oder einen Film schauen würde. Dann erst erschließen sich diese drei Gewaltmärsche und nehmen einen mit auf eine Reise, die man vielleicht gar nicht antreten will.

Die anderen Songs habe ich nicht versehentlich alle als „müde“ beschrieben. 39 ist sicherlich der Schlüsselsong dieses Albums. Fast 40 Jahre alt, erschrak Smith vor dem Verrinnen der Zeit, sah die verdammte Sanduhr schon zur Hälfte durchgelaufen und fragte sich, wo er den Brennstoff hernehmen soll, um das Feuer am Lodern zu halten. Dass Alkohol und Drogen das Feuer nicht anfachen, sondern ersticken, haben wir schon auf Open, Want und Numb gelernt. Er muss es aus dem Inneren holen. Wie sie bei In 80 Tagen um die Welt das Boot selbst verheizen, um es anzutreiben, bedeutet Leben, sich selbst bei lebendigem Leibe zu verkonsumieren. Nicht zu fühlen, nicht zu brennen – zu pausieren und stumpf zu sein – hieße das Leben zu verpassen. Hieße tot zu sein. Wer lebt, verbrennt.

Robert Smith weckt dreimal das Feuer auf dieser Platte und erschafft Songs, die mit jedem Hören stärker werden, bis sie fast nicht mehr zu ertragen sind. Er muss müde sein, auf den anderen. Müde, aber friedlich. Müde, aber liebevoll. Manche der einfachen Songs könnten für sich genommen etwas belanglos erscheinen. So, wie eine alltägliche Beobachtung oberflächlich erscheinen könnte, wenn man nicht weiß, dass derjenige, der sie äußert, die Welt mit allen Sinnen wahrnimmt und uns gerade an etwas teilhaben lässt, das ihn bewegt.

Die Reihenfolge der Songs auf der Bloodflowers folgt keiner offensichtlichen Dramaturgie, es beginnt (ungewöhnlich für ein Cure-Album) eher ruhig, bäumt sich auf und nimmt dann erschöpft Anlauf für 39 und Bloodflowers im Doppelpack. Der letzte Song stellt ein emotionales offenes Ende dar, lässt einen aufgewühlt und ratlos im Chaos zurück, statt wie etwa Fight oder End mit einer Motivationshymne auszusteigen oder wie Untitled oder Sinking mit friedlicher, ruhiger Abschiedsstimmung das Ende einzuläuten. All das macht dieses Album zu einer Persönlichkeit, die vielleicht schon auf den ersten Blick mit scheinbaren Ähnlichkeiten zu Disintegration lockt, aber in Wirklichkeit erst nach Jahren ihren ganzen Charakter entblättert.

Ehrlich gesagt, bis ich dieses Review verfasst habe, kannte ich Herbert selbst immer noch nicht richtig. Wir haben erst jetzt eine derart tiefe Freundschaft geschlossen. Mit Horst hat das nichts zu tun. Sie sind völlig unterschiedliche Personen. Es wäre Unsinn, den einen mit dem anderen zu bewerben, das täte beiden Unrecht.

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung