Jetzt kommen wir also zum Ende dieser Reihe. Mindestens vorläufig. Wenn Smith fürs nächste Album wieder sechzehn Jahre braucht, wissen wir nicht, ob er bis dahin noch lebt. Wir wissen auch nicht, ob wir selbst bis dahin noch leben. Denn alles ist endlich und das ist ja das Schlimme.
Die Platte jetzt zu besprechen, gute zwei Wochen nach ihrem Erscheinen, ist etwas unfair gegenüber den anderen, die alle über Jahre ihre Langzeitwirkung beweisen mussten und die ich allesamt dutzende, wenn nicht hunderte Male gehört habe, bevor ich sie für diese Reihe seziert habe. Songs Of A Lost World habe ich erst ein paar Mal gehört, die kann ich nicht einfach in Dauerschleife laufen lassen. Die höre ich aufmerksam, in Ruhe, am Stück. Sie bewegt mich sehr. Und damit bin ich offensichtlich nicht alleine. Das Album landete in diversen Ländern auf Platz 1 der Charts.
Das sagt noch nicht mal so viel darüber aus, wie gut oder schlecht die vorangegangenen, weniger erfolgreichen Alben waren – ich glaube allenfalls an einen losen Zusammenhang zwischen Verkaufszahlen und Qualität –, aber es zeigt, wie gut das Album in diese düsteren Zeiten passt. Kunst, im Gegensatz zu vertontem Aktivismus, kann ganz persönlich sein und dennoch eine gesellschaftliche Stimmung einfangen. Warsong handelt auf dem Papier von persönlichem Streit. Aber niemand kann im Jahr 2024 so einen Titel hören, ohne auch an den Krieg da draußen zu denken. Dass das eine Platte über Endlichkeit, Abschied, Festhalten und die Zerbrechlichkeit von allem ist, steht außer Zweifel. Es bleibt dem Hörer überlassen, worauf sich seine Gedanken bei diesen Stichworten richten. Man muss nicht immer gleich alles geopolitisch, soziologisch und ideologisch einsortieren. Aber man kann auch nicht leugnen, dass viele Menschen nachdenklicher werden, in derart pessimistischen Zeiten und sich vielleicht gerade deshalb mehr ihren privaten Ängsten und persönlichen Verlusten zuwenden. Ob die verlorene Welt nun die eigene, private Geschichte ist, die zu Ende gehen muss, oder ob sie die gute, alte Erde ist, bleibt sich am Ende gleich.
Es gibt viele Diskussionen um den Sound der Platte. Nicht wenige, die sich mit Tontechnik auskennen, beklagen die Überkompression und den seltsamen verwaschenen Klang. Ich finde ihn großartig. Er trägt absolut zur Wirkung des Albums bei. Zwei Fragen drängen sich auf: Ist das Absicht? Und: Ist das gelungen?
Keiner kann wissen, ob es Absicht ist, wenn Robert Smith uns nicht aufklärt. Allerdings habe ich zumindest in den vorangegangenen Besprechungen dargelegt, dass The Cure sich schon seit der Wild Mood Swings konsequent zu einem roheren, diy-mäßigeren Sound entwickelt haben. Dass der Sound nicht „gut“ im herkömmlichen Sinne ist, ist somit konsequent. Ob er gezielt auf diese Weise „schlecht“ ist, ist damit dennoch nicht beantwortet. Wir wissen nicht, ob das von vorne herein angestrebt wurde oder ob man nach den Jahren, die das Werk schon in Arbeit ist, einfach betriebsblind wurde. Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit, nämlich, dass es sich – trial and error – so entwickelt hat, organisch gewachsen ist und am Ende genauso als richtig empfunden wurde.
Ja, die Waveformen dieser Aufnahmen sehen wahrscheinlich aus, als wäre oben und unten nicht nur ein Rasenmäher, sondern ein Zehn-Tonnen-Mähdrescher darüber gefahren. Die Ducking-Effekte durch die Kompression lassen den Mix atmen wie einen Mops im Kussmaul-Stadium. Und normalerweise gilt das nicht als erwünscht. Aber wir leben im postpandemischen Zeitalter. Überall sitzen Bedroom-Producer alleine in ihren stickigen Zimmern und haben noch gar nicht mitbekommen, dass der Lockdown aufgehoben wurde. Sie schichten auf ihren Laptops Spuren übereinander und stellen ihre vertonte Einsamkeit unter Umgehung jeglicher Labels ins Netz. DIY ist wieder da und klingt auch so. Der oben beschriebene Rückzug ins private, während draußen die Welt verbrennt, hat einen Sound.
Ich vermute nicht, dass Robert Smith psychedelischen Ein-Mann-Raw-Black-Metal hört. Aber ästhetische Trends können sich auch über Umwege verbreiten. Musik von Projekten wie Pa Vesh En dreht sich um verwaschene, in Hall und Verzerrung versinkende Klangwelten, die für das ungeschulte Ohr wahrscheinlich unhörbar sind. Für den Freund solcher Musik ist hingegen großartig, wie sich Melodien, harmonische und rhythmische Elemente aus dem Rauschen herausschälen.
Ganz so krass klingt Songs Of A Lost World natürlich nicht. Aber der Sound vermittelt die Stimmung des Albums perfekt. Denken Sie an das Video zu Alone. Ein Asteroid mit menschlichem Antlitz treibt kreiselnd durch das weite, schwarze All. Das könnte stattdessen auch eine Rettungskapsel sein. Darin, alleine und verloren, Robert Smith, der seine Lieder singt. Die Kamera nähert sich der Kapsel, durch die Panzerglasscheibe dringt dumpf die Musik (die Star Wars-Filme beweisen, dass es sehr wohl Schall im Weltraum gibt!). Natürlich klingt die komprimiert und verwaschen.
Vielleicht hat sich der Sound ungeplant so entwickelt, aber es ist nicht glaubwürdig, dass niemand es gemerkt oder korrigiert haben soll, wenn es ein Versehen wäre. Die unzähligen Live-Aufnahmen beweisen, mit welcher Mühelosigkeit The Cure ihre Songs fehlerfrei und originalgetreu einspielen können. Es wäre kein Problem gewesen, die Sachen nochmal aufzunehmen, wenn man gewollt hätte.
Und dass man keinen klaren, sauberen Breitwandkinosound wollte, offenbart sich ja auch an allen anderen Stellen. Ein Bass kann nicht aus Versehen so verzerrt klingen, da muss man ein Fuzz-Pedal vorschalten und den Regler bewusst hochdrehen. Die heftigen Tape-Flutter-Effekte auf den Synthies muss man extra anstellen. Die lauten Fret-Noises auf Warsong sind kein Versehen. Wie auf der Platte Lärm und Verzerrung dramaturgisch eingesetzt werden, um Spannung zu erzeugen und aufzulösen, ist perfekt.
Die Platte ist langsam und düster, aber dennoch ist sie eingängig. Das gelingt hier noch besser als auf der Bloodflowers, wo die leichteren Songs manchmal ein wenig zu einfach wirken. Es war schon immer Smith‘ Stärke, auch in den zugänglicheren Songs eine schwermütige Note unterzubringen, die ihnen erst die Tiefe gab. Aber wie es A Fragile Thing und Drone:Nodrone gelingt, gleichzeitig nahtlos in den düsteren Weltraum zu passen und trotzdem Ohrwürmer erster Ordnung zu sein, macht einfach sprachlos. Und sie knüpfen hier nahtlos an die 4:13 Dream an. Der rohe Sound, die nur angedeuteten Melodien, die ins Ohr gehen, obwohl sie von Smith fast nur skandiert werden, der legere Groove, das ist auf der 4:13 Dream großartig und das geht hier einfach weiter. Für mich ist nicht die Disintegration der Bezugspunkt für diese Platte. Das ist einfach ein billiger Automatismus, wenn man denkt „Cure, düsteres Album, hugga-hugga“. Die Bezugspunkte sind 4:13 Dream und Bloodflowers. Ich bin dieser Reihe dankbar, weil ich durch sie erst verstanden habe, wie einflussreich letztere ist. Wie in den vergangenen Folgen dargelegt, hat die Bloodflowers den Weg geebnet für diese strukturarmen, unvorhersehbaren Songs, für diese neue Qualitätsebene in Robert Smith‘ Songwriting, wo die Stücke atmen und mäandern und unerwartete Abzweigungen nehmen, innehalten, wo man Ausbrüche erwarten würde, explodieren, wo man sie schon für fertig hält. Das ist ein Jonglieren mit Elementen, das absolute Souveränität erfordert. Alone, Warsong und insbesondere Endsong gehören in diese Kategorie. Endsong kann einen ja wirklich nur mit trockenem Mund und feuchten Augen zurücklassen, ratlos darüber, was einen da eigentlich mitgeschleift hat. Da hört das Analysieren wirklich mal auf.
Jetzt habe ich also alle Alben besprochen. Ein wenig bleibt das Gefühl, jetzt noch mal von vorne anfangen zu müssen, um die Erkenntnisse vom Ende noch mal auf den Anfang anzuwenden. Aber es ist auch mal gut. Das war etwas anstrengend. Komischerweise habe ich jetzt das Gefühl, die Alben schlechter auseinanderhalten zu können als vor dem Marathon. Ich habe öfter Lieder im Ohr, die ich in den letzten Wochen gehört habe, und weiß plötzlich nicht mehr, von welcher Platte sie stammen. Peinlich.
Vielleicht wird dies das letzte Cure-Album gewesen sein. Ich könnte damit leben. Das ist komisch, weil ich niemals will, dass Dinge enden. Die Vergänglichkeit ist ein stetiger Stachel in meiner Brust. Dass Zeiten enden, Menschen sterben, nagt täglich an mir und lässt sich mit keiner Zen-Weisheit beschwichtigen. Wenn The Cure jetzt dieses Gefühl vertonen, schließt sich ein Kreis.
In der Adoleszenz erfährt die Seele Abscherungsverletzungen, weil Teile von ihr unterschiedlich schnell wachsen. Die Intensität, mit der kurz vorher noch im Spiel Fantasie zu Realität wurde, richtet sich plötzlich auf erwachsene Themen wie Tod, Liebe, Verantwortung, Rausch, Delinquenz, Sexualität. Für ein Kind können zwei Kiesel in einer sonnenbeschienen Erdmulde zum Leben erwachen und ob sie zwei Krieger sind oder steinerne, unförmige Objekte, ist gleichbedeutend. Das Kind kann einem sagen, dass das in Wirklichkeit ein Stein ist, aber es spielt keine Rolle. Davon mitten im Spiel getrennt zu werden, weil die Eltern weiterwollen, ist genauso schlimm, wie wenn man einen echten Krieger in Not zurücklassen müsste. Wenn sich der Blick mit dieser kindlichen Intensität auf einmal auf erwachsene Themen richtet, droht einen das zu zerreißen. Eine Stimme zu haben, die diesen Schmerz vertont und damit greifbar macht, hat mich damals gerettet. Das ausgerechte diese Stimme drei Jahrzehnte später ausgerechnet jenes Gefühl vertont, das mich heute zur Verzweiflung treibt, ist tröstlich.
Und deswegen kann ich, mit diesem Trost im Herzen und ganz entgegen meiner Vergänglichkeitsallergie, momentan gut mit dem Gedanken leben, dass Songs Of A Lost World das letzte Kapitel sein könnte.
Hier gibt es die anderen Teile:
Alles außer Pop – The Cure I
Alles außer Pop – The Cure II – Seventeen Seconds
Alles außer Pop – The Cure III – Faith
Alles außer Pop – The Cure IV – Pornography
Alles außer Pop – The Cure V – Japanese Whispers
Alles außer Pop – The Cure VI – The Top
Alles außer Pop – The Cure VII – The Head On The Door
The Cure VIII – Kiss Me Kiss Me Kiss Me
The Cure IX – Disintegration
The Cure X – Wish
The Cure XI – Wild Mood Swings
The Cure XII – Bloodflowers
The Cure XIII – The Cure (S/T)
The Cure XIV – 4:13 Dream
The Cure XV – Songs Of A Lost World
Der Autor schreibt hier unregelmäßig über Musik. Über Musik redet auch Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.