– EINE REISE INS JENSEITS – MIT EICHHÖRNCHEN, DINKELBROT-PERLEN UND GEBÄCK –
*** die Story ist im Ruhrbarone-Bookzine #5 „Selber machen! – Alles zum Thema Selbst“ erschienen ***
Der Tod ist nicht das Ende: Die Verstorbenen weilen unter uns! Du musst nur umschalten und sie sehen – auf eine andere Ebene, einen anderen Kanal switchen. Meistens Pay-TV. Hellsehen ist wie Fernsehen. Wir sind durch unzählige Programme gezappt und haben uns die endlosen Weiten der spirituellen Programmvielfalt reingezogen: die Telefon-Schalte zum Jenseits, den Live-Shopping-Sender und den Blockbuster zur Primetime, „Guck mal, wer da spricht“ – unsere Ausbildung zum Jenseits-Medium. Das Ergebnis des Lehrgangs konnten wir nicht vorhersehen, es erschütterte unser Weltbild. Die Suche nach dem Jenseits wurde zur Suche nach uns selbst. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.
„Memo: Kein Kaffee vor der Meditation“, notiert Joswig in großen Druckbuchstaben und neigt dabei das Blatt auf seinen Knien für alle sichtbar in die Runde.
Schlanges Blick blitzt auf. „Alter, steck den scheiß Block weg“, zischt er Joswig ins Ohr. „Wir bewegen uns auf verdammt dünnem Eis! Wenn wir es heute nicht packen, ist die Drecks-Story endgültig gestorben.“
Die beiden Undercover-Journalisten sitzen mit fünfzehn hellsichtigen Damen in der Praxis einer Reiki-Meisterin, einem Kraftort der spirituellen Heilung. Von den Fensterbänken funkeln Halbedelsteine und magische Kristallbrocken, Elfen und Feen tanzen an den Wänden über bunte Ölkreidebilder, und Keramikgötzen thronen auf sämtlichen Schränken und Regalbrettern. Dieser erste Stock eines efeubewachsenen Herrenhauses, von dem ihr Blick durch große Altbaufenster auf das dichte Blattgrün eines menschenleeren Parks fällt, wird für Schlange und Joswig die letzte Station ihrer eineinhalbjährigen Suche nach dem Jenseits.
Aus dem ersten Schulungsseminar für mediale Fähigkeiten schmiss man sie raus, der Besuch einer Esoterik-Messe enttäuschte, die Telefonate mit praktizierenden Medien verwirrten, und die Prophezeiungen ihrer Handleserin waren an den Haaren herbei gezogen – aber durchaus schmeichelhaft. Die Wahrheit über das Jenseits zu suchen, ist Zappen im Satellitenprogramm. Tausend Kanäle und unendlich viel Schrott. Allein in Deutschland verpulvern die esoterischen Glücksritter Milliarden. Woher kommt diese verdammte Sehnsucht?
Mit einem breiten Grinsen auf den unrasierten Wangen steckt der rothaarige Berufs-Zyniker und passionierte Kaffee-Junk den Block in seine Umhängetasche. „Ich hatte heute schon drei Tassen.“
Schlange schürzt die Lippen unter seinem Schnäuzer: „Glückwunsch, Alter. Beste Voraussetzung, deine innere Ruhe zu finden.“ Man könnte Herrn Schlange nach einer 30stündigen Koma-Sause mit Nahtod-Erfahrung und langjährigen Beziehungen mit Hippie-Mädchen als spirituell aufgeschlossen bezeichnen. Der Journalist kneift abschätzig die Augen zusammen und giftet: „Ist bei dir eh egal. Du spirituelle Pygmäe willst doch nur mit deinem toten Köter quatschen.“
„Hallo?“ Joswig tritt entrüstet seine Tasche unter den Stuhl. „Außerdem hieß der Frodo! Köter heißen alle anderen Hunde.“
„Ähm, Jungs, darf ich vielleicht mal fortfahren?“ Miss I. räuspert sich. Die zwei Reporter horchen auf, bemerken fünfzehn Augenpaare, die sie entnervt fixieren, und Miss I., die nachsichtig die beiden einzigen Männer im Raum anlächelt. Die reizende Rubensfrau ist die mediale Lehrerin an diesem Sonntagmorgen – sehr groß, sehr fluffig. Mitte dreißig, mit tiefen Lachgrübchen und strahlend blauen Augen. Sie steht zwei Plätze weiter vor ihrem Sessel und referiert über das Jenseits. Schlange und Joswig grienen sie an. „Entschuldige. Bitte.“
„Schon gut.“ Mit einer raschen Handbewegung wischt sie ihr langes, braunes Haar hinter die Schulter und wendet sich wieder dem ganzen Stuhlkreis zu. „Wer von euch kennt denn den Unterschied zwischen einem physikalischen und einem mentalen Medium?“ Die Teilnehmerinnen, Medien in spe, decken die Altersklassen von 20 bis 80 ab, zahlten pro Kopf 89 Euro für das Seminar und dulden keine Dummschwätzer. Während an ihren Strickjacken und bunten Blusen Namensschildchen mit Gabriele, Alice, Marika oder Linda stecken, stecken ihre Füße in enteignetem Praxisinventar, in farbenfrohen Filzpantoffeln, auf denen mit Edding wiederum Namen gekritzelt sind wie Angie, Ute, Kathi oder Ruth. Namen sind hier Schall und Rauch, nur die Seele zählt. Ihre Anmeldung wickelten die beiden Reporter unter falschen Daten über die Bankverbindung eines Freundes ab. Sie hatten aus dem ersten Seminar-Debakel gelernt. Undercover unter Hellsichtigen ist ein schmaler Grat.
Wie in einer Examensprüfung lastet Miss I.s Frage nach den mentalen und physikalischen Medien auf der Runde. Niemand will sich lächerlich machen und seinen Status als Wissender verlieren. Schlange beobachtet Joswig aus den Augenwinkeln: Der Rotschopf verdrückt sich eine blöde Antwort. Guter Mann. Diese Frauen denken, sie könnten ohne Lupe den kleinsten Fusel auf deiner Seele erkennen. Möchtegern-Menschenkenner mit spirituellem Durchblick. Schlange und Joswig fühlen sich wie zwei Sprengstoff-Attentäter im Nacktscanner.
Ein Jahr zuvor: Ghost Whisperer – Stimmen aus dem Jenseits
Die Abenddämmerung hatte sich bereits über den Dortmunder Hafen gelegt, und die Lesung der Ruhrbarone neigte sich ihrem Ende zu, als Schlanges Handy klingelte. Er stellte sein Glas Whisky beiseite, wischte sich die letzten Tropfen aus dem Schnäuzer und nahm ab.
„Hallo Herr Schlange, Amara hier.“ Schlange schluckte. Madame Amara war die Leiterin des Jenseits-Seminars, für das sich Joswig und er angemeldet hatten. Das Tagesprogramm für 95 Euro: Herstellen eines Jenseitskontakts (Aufbau, Beweise und Botschaft), telepathische Übungen und das sogenannte Remote Viewing, die Fernwahrnehmung von Orten und Gegenständen außerhalb der fünf Sinne – eine Technik, die sogar vom CIA eingesetzt wurde.
„Ehrlich gesagt habe ich lange überlegt, ob ich Sie anrufen soll“, fuhr Amara fort. „Seit Tagen bekomme ich von meinem Kontakt im Jenseits Nachrichten, dass zwei Männer das morgige Seminar stören werden. Sie und ihr Freund sind die einzigen männlichen Teilnehmer.“ Sie macht eine Kunstpause. „Ich war auf ihrer Homepage und muss sagen, was Sie zusammen mit ihrem Freund machen, gefällt mir nicht. Diese Möchtegern-Bukowski-Geschichten. Ich bitte Sie. Und ihr Text über die Jesusfreaks, mit dem Sie sich über Menschen, die glauben, lustig machen…“ Verdammt, dachte Schlange, sie weiß, was wir letzten Sommer getan haben. Er räusperte sich: „Also wir haben lediglich…“
Amara lachte. „Wie auch immer. Ich möchte Ihnen gern Ihren Seminar-Beitrag zurück überweisen.“
Entweder interessiert sich das Jenseits für den literarischen Untergrund, oder es kann googeln. Ein Anfängerfehler sich mit seinen Klarnamen anzumelden. Seit diesem Termin sind unsichtbare Mächte im Spiel. Wie verflucht. Als Schlange mit einem Medium in Hagen telefonierte, schlug ein Blitz in den O2-Sendemasten des Großraums Dortmund ein. Weitere Seminar-Termine platzen, weil er auf dem OP-Tisch landete. Und die Esoterik-Messe war eher eine Frage des Geldes als eine Frage der Sphäre. ZAPP.
„Ähm“, eine hagere Perle mit dünner Stimme meldet sich. Sie sticht aus den spirituellen Hausmütterchen heraus, hat kurzes blondiertes Haar, trägt Jeanshemd und stonewashed Karotte. „Ich denke, ein mentales Medium arbeitet mit seinem Geist.“
Joswig bleibt ein grunzendes Lachen im Rachen stecken und verendet kaum gehört. Schlange ist überrascht, wie gut sich sein Kompagnon im Griff hat. Miss I. hatte zu Beginn des Seminars erwähnt, dass sie Geister in der Praxis wahrgenommen hätte. An etwas zu glauben mag vielleicht schwer sein, an nichts zu glauben dagegen unmöglich. Selbst Joswig fühlt sich verunsichert. Versuchsreihen an der Uni Belfast zeigten: Erzählt man Kindern von unsichtbaren Personen im Raum, schummeln sie weniger. Ähnliche Ergebnisse ergaben vergleichbare Tests mit Studenten. Obwohl sie die Existenz von Geistern anzweifelten, änderten sie ihr Verhalten. Ein sozialer Kontrollmechanismus: Der Glaube, von einer übernatürlichen Instanz beobachtet zu werden, hält den Menschen in der Norm, macht ihn zu einem umgänglichen, regeltreuen und lenkbaren Schaf. Das Schweigen der Lämmer.
Joswig schaut zu Miss I. auf, die zwei Schritte nach vorne in den Kreis gegangen ist und sich die Ärmel hochschiebt. Über ihren Unterarm tänzeln die zarten Linien eines Blumen-Tribals. Sie trägt schwere Biker-Boots mit nietenverzierten Stiefelriemen, Jeans, eine Uhr mit breitem Lederarmband und eine lilafarbene Tunika. Die Lehrmeisterin lächelt der hageren Maus zu. „Ganz genau. Das Medium bleibt dabei bei vollem Bewusstsein und kann mit seinem Gegenüber reden. Bei physikalischer Medialität wiederum manifestiert sich die geistige Welt in unserer.
Hallooo!“ Daniel schiebt seinen Kopf durch die Zimmertür, winkt und lacht mit der hohen überschlagenden Stimme eines Schwiegersohns, der sich sein drittes Stück Erdbeerkuchen in den weichen Wanst schiebt. „Vergesst nicht, wir müssen gleich noch die Bestellungen machen. Ich habe eine schöne kleine Pizzeria in der Nähe herausgesucht. Wird bestimmt lecker.“ Er gibbelt wie ein Mainzelmännchen. „Bis dahin bedient euch am Kaffee und den Plätzchen.“ Daniel ist der Organisator des Esoterik-Netzwerkes, über das Miss I. und andere Medien ihre Seminare anbieten, ein Kurator der spirituellen crème de la crème.
Schlange stößt Joswig an. „Das war der Bursche, den ich angeschrieben hatte“, flüstert er.
Joswig mustert Daniel, wie er fröhlich im Hinterzimmer verschwindet. „Und was macht der jetzt hier?“
„Keine Ahnung. Ich denke, Kohle und Frauen klar.“
„Verdammt, und ich dachte, ich hätte als Schauspieler den richtigen Job.“
„Danke“, ruft Miss I. Daniel mit dem Augenaufschlag eines verliebten Schulmädchens hinterher und erzählt beschwingt weiter: „Physikalische Medien gab es hauptsächlich im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Physikalische Phänomene waren Apporte, das heißt Gegenstände oder Gestalten erschienen plötzlich, Klopfgeräusche und Stimmen, Tische bewegten sich, Licht flackerte. Da gibt es unzählige Berichte und Beweise zu. Sogar Ektoplasma ist aus den Körperöffnungen der Medien geflossen.“
Bäm! Bei so einer Steilvorlage versagt jede Geisterkontrolle. Die Reporter vergessen, sich über den hanebüchenen Verweis auf knallharte Beweise aufzuregen, schauen sich an – „Ghostbusters!“ – grinsen dämlich und spulen in Gedanken den Song ab. „I ain’t afraid of no ghosts!“
Wissen macht Ah! – Das Ektoplasma
Ektoplasma definiert sich im Bereich der Parapsychologie als vorübergehende paranormale Entstehung einer seltsamen weißen schleierartigen Substanz. Aus dieser verdichteten „Bioenergie“ materialisieren sich die geistigen Wesenheiten, formen sich zu menschlichen Gestalten, sogenannten Phantomen. Das Ektoplasma tritt aus den Körperöffnungen des sich in Trance befindlichen Mediums – aus Mund, Nase oder Ähnlichem.
(Experimente zu diesen Materialisationsphänomenen werden schon seit über 100 Jahren fotografisch dokumentiert.)
Joswig grübelt: „Geister, die sich aus nasenschleimigen Ektoplasma materialisieren? Was es nicht alles gibt…“ Er dreht sich zu seinem Freund: „Alter, ich befürchte, ich hab heute morgen n Geist geboren.“
Schlange flüstert zurück. „Vergiss es. Du bist kein verschissenes Medium. Ektoplasma ist nicht braun.“
Miss I. fährt mit ernster Stimme fort: „Allerdings hat sich über die Jahre hinweg die Form der Medialität gewandelt. Statt Ektoplasma benutzt ein Medium heute in erster Linie den eigenen Geist und seine fünf Hellsinne.“ Sie zählt an ihren Fingern ab: „Hellsehen, Hellfühlen, Hellriechen, Hellhören und Hellwissen.“
„Alter, geht es noch?“ Schlange hat saure Stückchen im Mund. Sein Frühstücksei stieg aus dem Grab seines Magens. Klarer Fall von Hellschmecken. Er dämpft die Stimme: „Wer glaubt denn so einen Schrott? Die Geister gehen mit der Zeit. Sind das fucking Hipster, oder was? Damals waren es billige Jahrmarkttricks – hör mal, wer da hämmert – heute sind es Eso-Gebrabbel und in Nostalgie verklärte Beweise. Fuck.“
Wo sind die echten Geschichten? In der Nacht zum 2.2.2002 ist Schlange auf dem Rückweg von einem Punkkonzert in eine vier Meter tiefe Baugrube gestürzt, lag dreißig Stunden im Koma. Die Band, die gespielt hatte, hieß Betontod. Klarer Fall von Hellhören. Außerdem traf er seinen verstorbenen Großvater im Traum. Er prophezeite ihm die Geburt einer Tochter und verriet ihren Namen. Tales from the Crypt – sollten sie aber zutreffend, das schönste Geschenk für dieses zukünftige Leben. Man glaubt, was man sich wünscht. ZAPP.
„Die physikalischen Medien sind auch wegen Hitler verschwunden“, sagt Miss I., und die Reporter schrecken auf. Hitler funktioniert immer! Sie hören Miss I. sagen: „Hitler fürchtete die Macht der Medien, deswegen ließ er sie verfolgen und ins Lager stecken.“ Und dann: „Hitler war ein sehr spiritueller Mensch.“ Paranormal Stupidity.
„Ja, und er hat viele Autobahnen gebaut“, nuschelt Joswig und bemerkt drei Plätze zu seiner Linken eine dunkelhaarige Frau. Eine Hexe, finster wie das Biest, das die Träume seiner Kindheit heimsuchte. Gundel Gaukeley aus Entenhausen. Sie mustert ihn unverhohlen, als würde sie Joswigs dunkelste Geheimnisse kennen. Die beiden Undercover-Journalisten fühlen sich in Gundels Antlitz ausgeliefert. Sie hat die langen, lockigen Haare zu einem dicken Zopf gebunden, und auf ihrer wallenden Bluse liegen schwere Natursteinketten. Wenn sie hier jemand auffliegen lässt, dann diese Frau. Gundel hat den anmaßenden Blick eines Literatur-Kritikers, trunken von dem Glauben alles zu wissen und von der Macht mit zwei Sätzen Leben segnen oder zerstören zu können. Nicht Bruce, Goose allmächtig!
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„Rückführung bis zu Ihrer Zeugung, die eigene Geburt erleben und alle Probleme auflösen!“
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„Jeder kann ein Medium werden!“ Miss I. hat sich in ihren Sessel gesetzt, die mächtigen Schenkel übereinander geschlagen und beginnt zu plaudern. „Ihr müsst euch das so vorstellen: Die Welt des Geistes existiert um uns herum. Permanent.“ Schlange tastet nach dem Schnitzmesser seines verstorbenen Opas. Mit sechs Jahren bekam er es geschenkt und hat es seitdem aufbewahrt. „Versteht das Jenseits als eine andere Dimension, die parallel zu unserer existiert, vielleicht nur in einer anderen Schwingung als wir. Wir funktionieren wie ein Radio. Jeder Kanal, jede Dimension hat seine eigene Frequenz, und nur wenn das Feintuning stimmt, kommt eine klare Durchsage an. Wir channeln die Botschaften aus dem Jenseits.“
Joswig versucht Gundels bösen Blick zu ignorieren und dreht sich zum Verpflegungstisch hinter ihm um, gönnt sich seinen vierten Kaffee und ertränkt seine innere Ruhe im Koffein-Gebräu. Das Problem bei diesen Frauen: Sie wollen erkennen! Sie wollen die eine sein, die mehr sieht als die anderen, die Aura hinter Joswigs Hemd und Schlanges falschem Namen. The Milfs have Eyes.
Der Rotschopf switcht auf das Regal an der gegenüberliegenden Wand. Die pfirsichfarbende Rauhfaser harmoniert perfekt mit dem hellbraun funierten Pressspan der Ikea-Expedit-Regalpyramide. Auf ihrer Spitze thront ein weißer Porzellan-Buddha, vor ihm reihen sich wie Opfergaben zwei Teelichter und vier Bergkristalle. Eine Etage tiefer ein weiteres Buddha-Bild in den schreiendsten Technicolor-Farben, im Fach links daneben ein schwarzweißes Dalai-Lama-Foto, rechts ein vergilbter Jesus. Der Glaube war schon immer ein Werkzeug, die Massen zu einen. Unter göttlicher Aufsicht erwuchsen gigantische Gemeinschaftsprojekte. Der Glaube hat damals Kraft verliehen, heute schlägt die Esoterik-Welle ins Gegenteil: Es geht um die Individualisierung in einer egozentrischen Welt. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet Esoterik eine philosophische Lehre, die nur für einen begrenzten Personenkreis zugänglich ist. Eso gegen den Rest der Welt.
Miss I. erklärt: „Ihr müsst wissen, medial begabte Menschen haben einen direkten Kontakt zu der intuitiven Seite ihres Bewusstseins.“ Ihre Stimme fällt in eine süßliche Note. „Frauen fällt dies leichter als Männern.“ Ein Chauvi-Grinsen überzieht die Gesichter der Damen und schlägt den beiden Reportern selbstgefällig entgegen. Sie schauen beschämt zu Boden. Verdammte Sexisten! Dabei treten schizotypische Persölichkeitsstörungen doch häufiger bei Männern auf. Mad Men.
Wissen macht Ah! – Die schizotypische Persölichkeitsstörung
Der Aberglaube als psychische Erkrankung: „Magisches Denken“ in Form von Aberglauben, Hellseherei und Telepathie gehören zu den Merkmalen einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung. Die Betroffenen können etwa die Anwesenheit einer Kraft oder einer Person spüren, die nicht wirklich da ist. Die äußere Erscheinung des Erkrankten wirkt oft exzentrisch, sein Verhalten misstrauisch und paranoid.
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Joswigs Blick wandert über die Runde, über Föhnfrisuren, Holzschmuck und bunte Halstücher. Steffi, eine kleine Emo-Maus mit kurzem Goa-Röckchen, ist der einzige Leckerbissen in dieser Dinkelbrot-Auslage. Trotzdem: Emotional und spirituell sind für den Rotschopf keine Option. Statt des Bio-Supermarktes starrt er lieber die Wand an. Vier Ölkreide-Bilder hängen dort in Treppenform über Buddhas Regalpyramide: ein Adler vor der untergehenden Sonne, ein aufgeplatzter Kürbis, ein brennender Ast und etwas das aussieht wie ein Hot Dog, aus dem Blumen wachsen. Kunst aus dem Zwang zur Tiefgründigkeit. Psychic Art.
„Ey.“ Joswig haut gegen Schlanges Knie und deutet mit seinem Kinn Richtung Gemälde. „Das eine da kostet 155 Euro. Sowas kann ich auch malen“, flüstert er.
Schlange rückt mit seinem Kopf näher. „Alter, du komischer Linkshänder kannst doch noch nicht mal einen Stift halten. Hast du dich mal beim Schreiben beobachtet? Außerdem brauchst du ne spirituelle Gefolgschaft, um solchen Mist zu verkaufen. Welchen Glauben willst du denn gründen? Die Hunde-Weisheiten des Frodo?“
„Aber…“, versucht Joswig einzuwenden.
„Nix, aber“, würgt ihn Schlange ab. „Du bist kein Medium.“
„Ihr müsst an euch glauben“, sagt Miss I. „Das Jenseits ist immer da. Die Geister umgeben uns. Wenn ihr ein Knacken in der Wohnung hört, wenn die Lichter flackern, lasst euch nichts Falsches einreden, das sind Zeichen. Ihr müsst sie nur sehen!“
Ein zustimmendes Raunen schwappt aus der Gruppe. Die Damen wissen, wovon ihre Lehrmeisterin spricht. Wer nichts weiß, muss alles glauben. Der Anthropologe Pascal Boyer glaubt dagegen, dass die Anfälligkeit für Übersinnliches mit der Evolution des Menschen erklärt werden kann, mit seinem Sinn für Handlungen, Zusammenhänge und Situationen. Das Knacken im Gebüsch: ein Raubtier oder Angreifer. Die Hysterie als Lebensversicherung im Steinzeitdschungel. Mit der Nebenwirkung allerdings hinter allem und jedem einen Willen zu vermuten. Der Gedanke an übernatürliche Wesen ist uns angeboren. Ein Rudiment aus der Steinzeit. Als die Frauen noch Schwänze hatten.
Schlange tastet in der Hosentasche nach dem Schnitzmesser seines Opas. Die Geister bleiben still.
„Wir werden jetzt eine Meditationsübung machen ‚Sitting in Power‘, um unsere Körper zu beruhigen und den Geist in den Vordergrund treten zu lassen.“
„Mein Geist ist immer im Vordergrund“, unterbricht Joswig Miss I. Der Lehrmeisterin platzt der Kragen. „Entschuldige. Vielleicht könntest du dein Ego dafür bitte mal in den Hintergrund stellen? Wäre das möglich?“
Joswig tut schuldbewusst, Schlange tritt nach. „Ich glaube, er meinte den Geist aus der Flasche.“
Miss I. entfleucht ein kurzes Lachen. „Jedenfalls werdet ihr am Ende der Mediation euren Geistführer treffen, der euer Spirit-Team verstärken kann“, übergeht sie souverän die Reporter. „Zu meinem Sprit-Team gehören zum Beispiel mein Opa, meine Oma und der Heilige Geist.“
Miss I. stoppt und macht ein ernstes Gesicht. „Leidet jemand von euch unter Herzproblemen, hat einen Schrittmacher oder ist Epileptiker?“
Die Frauen verneinen. Schlange zu Joswig: „Was ist ihr Problem? Wir wollen doch eh auf die andere Seite.“ ZAPP.
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„Botschaften aus dem Reich der Engel und Einhörner. Sie sind herzlich Willkommen!“
Kursankündigung „Rainbow World“ von Ines Konrad
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Daniel stürmt den Raum, das dunkle Hemd souverän in den Hosenbund gestopft. „Scusi. Euer Pizza-Mann ist da.“ Charmant unterwürfig verteilt er die Bestellzettel, kneift in seine Hüfte und kichert. „Aber ich werde wohl einen knackigen Salat nehmen.“ Die Frauen schmelzen dahin. Schlange und Joswig sind mittlerweile in die ungefährliche Kategorie „esoterisch aufgeschlossenes Schwulen-Pärchen“ gerutscht. Die extrovertierte Variante.
Als die Hälfte der Damen bestellt hat, bemerkt die kleine Emo-Steffi, dass die Pizzeria am Sonntag geschlossen hat. Konnten die Hellseher ja nicht riechen. Daniel versucht Tische bei einem Kroaten zu reservieren. „Da gibt es auch Salat“, sagt er zu seiner Entschuldigung.
Die Meditation:
Vor der Mittagspause bereitet Miss I. die Gruppe mit Konzentrations- und Entspannungsübungen auf die anstehenden Jenseitskontakte vor. Schlange und Joswig hocken still im Stuhlkreis. Sie hören ihre Stimme:
„Die bewusste Wahrnehmung der eigenen Sinne. Hört drei Dinge im Raum, seht drei Dinge, fühlt sie…“ Dann imaginäre Mal-Spiele: „Vor eurem inneren Auge stehen vier Leinwände. Ihr habt vier Pinsel und die Farben grün, blau, rot und gelb. Malt mit grün und rot auf der ersten Leinwand, beginnt ein blaues Bild auf der dritten…“
Bevor die eigentliche Meditation beginnt, wissen Schlange und Joswig schon nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Lost in Coloration.
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Wissen macht Ah! – Sitting in Power
Das „Sitting in Power“ ist eine spezielle Art der Meditation aus dem Britischen Spiritualismus. Das Ziel ist, sich für die geistige Welt zu öffnen und mit dem Geistführer, einem Erzengel oder anderen hilfreichen Wesen aus der feinstofflichen Welt in Verbindung zu treten.
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Mit dem sanften beruhigenden Klang ihrer Stimme schickt Miss I. die Gruppe über einen grasbewachsenen Hügel in ein altes Haus. Jeder muss in Gedanken einzelne Räume abschreiten, die jeweils in den sechs Spektralfarben erstrahlen und einen gleichfarbigen Kristall beherbergen. Letztendlich überqueren sie auf dem Dachboden eine Brücke aus purem Amethyst und begegnen an ihrem Ende einer Person. Sie überreicht ihnen einen kleinen Karton mit einem Geschenk. ZAPP.
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„Von welcher Farbe möchten Sie gern trinken?“
Joswig hat das Haus erst gar nicht betreten – für Hippie-Hütten ist kein Platz in seiner Gedankenwelt. Lieber machte er sich auf den Weg zur Esoterik-Messe, die Schlange und er vor einigen Monaten besucht hatten. Bier trinken.
Die beiden Reporter stehen vor einem Verkaufstisch in einer großen Messehalle. Ein älterer Herr zeigt lächelnd auf eine Reihe von gläsernen Karaffen – 30 Zentimeter hoch, in Form von Bauern-Schachfiguren – die auf farbigen Untersetzern stehen. Er fragt noch einmal: „Von welcher Farbe möchten Sie gern trinken?“
Joswig: „Wie Farbe? Das ist doch alles Wasser!“
Der Verkäufer schüttelt milde den Kopf. „Wasser ist nicht gleich Wasser. Diese Karaffen energetisieren das Wasser und erhöhen seine Bovis-Einheiten.“
Wissen macht Ah! – Bovis-Einheiten
Bovis-Einheiten sind ein Maß für die Lebensenergie – wissenschaftlich nicht belegt und nur intuitiv wahrnehmbar.
Die Reporter nicken intuitiv.
„Die Farbuntersetzer verleihen dem Wasser noch einmal einen eigenen Charakter und Stärke. Sie werden merken, es schmeckt unterschiedlich! Was meinen Sie, in welcher Karaffe steckt die meiste Energie?“
Schlange: „Blau.“
Joswig: „Rot.“
Der Typ: „Nein.“
Joswig: „Hmm.“
„Sehen Sie, dieser vielfarbige Untersetzer hier informiert das Wasser mit der meisten Energie.“
Joswig: „Ah, klingt logisch.“
„Sehen Sie mal“ Der Mann nimmt eine leere Karaffe und dreht sie herum. „Hinzukommt noch die Blume des Lebens, eines der stärksten Energiesymbole dieser Welt, das schon in alten Kulturen verwendet wurde. Das haben wir in den Glasboden eingebrannt. Kosten Sie mal!“
Joswig greift zur rosafarbenen Karaffe, Schlange zur blauen. Nach zwei Schlucken tauschen sie.
„Und?“, fragt der Wasserspender.
„Geht das auch mit Bier?“, fragt Joswig.
Die normale TC Karaffe Aladdin mit 1,3 Liter Fassungsvermögen kostet 59 Euro. Weitere Angebote aus der Produktpalette der Wasseraufbereitung: das Vita Juwel, ein Edelsteinstab zum Informieren von Wasser (Preis: ab 79 Euro, die Sondereditionen mit Rohdiamanten 246, die mit Rheingold 255 Euro). Außerdem Energie-Untersetzer mit Delfin- und Einhorn-Motiven in Folie eingeschweißt für 6,96 Euro oder der HydroCristall-Heizungswasserzusatz. Spart laut Packungsbeilage bis zu 10 Prozent Heizkosten (100 ml für 39 Euro). Die Branche boomt. Der Heidelberger Konsumforscher Eike Wenzel schätzt, dass in Deutschland pro Jahr 18 bis 25 Milliarden Euro mit esoterischen Angeboten umgesetzt werden. Viel Geld für Nichts. ZAPP.
„Ihr habt nun euren Geistführer getroffen“, sagt Miss I. mit ruhiger Stimme und holt die mentalen Schüler aus ihrer Gedankenwelt zurück. „Was habt ihr gesehen?“
„Ich habe. Irgendwie. Ging nicht.“ Marika, eine große Russin mit breitem Kreuz und den kräftigen Händen einer Krankenpflegerin, wirkt verwirrt. „Irgendwann habe ich alle Farben durcheinander gebracht, rot war grün und grün blau.“ Sie lacht derbe. „Hat aber irgendwie trotzdem funktioniert.“ Zusammen mit Alice, einer kleinen, süßen Oma, sitzt sie den Reportern gegenüber.
Miss I. lächelt und wirft sich mit einer schnellen Kopfbewegung die Mähne hinter die Schulter. „Keine Sorge, es wird mit der Zeit leichter. Das mit den Farben ist am Anfang immer etwas schwierig.“
Joswig schreckt auf: „Farben?“ und kassiert von Schlange einen Schlag gegen den Oberschenkel. „Schnauze!“
Steffi, das kleine Emo-Mädchen mit dem kurzen, schwarzen Röckchen, meldet sich.
„Ja, bitte“, spricht ihr Miss I. zu.
„Ähm, ich habe am Ende meiner Brücke ein Eichhörnchen getroffen. Und es hat mir eine Tüte voller Sterne geschenkt. Was bedeutet das?“
Kaum hat Miss I. erklärt, dass das Eichhörnchen ihr Schutz und Orientierung geben wird, als es aus den Frauen heraussprudelt: „Ich habe ein Buch bekommen.“ „Bei mir war es eine Feder!“ Gundel kreischt: „Mir hat mein Geistführer eine Kiste Licht geschenkt!“ Alice ergänzt mit ihrem rauhen Oma-Stimmchen: „Und mir eine Zange.“
Joswig schaut sich verwirrt um und fragt seinen Freund: „Wie? Es gab Geschenke? Wo?“
Schlange atmet entnervt durch. „Im Haus nach dem violetten Dachboden und der Brücke aus purem Amethyst. Ich hab zum Beispiel einen alten Mann getroffen, der mir eine Brille geschenkt hat.“
„Hmmm, und warum?“
„Ich denke, ich werde durch sie hellsichtiger.“
Beide schweigen einen Augenblick.
Die Sensibilisierungsübung: Energiefelder spüren
Die beiden Reporter stehen nach der Mittagspause träge von ihren Grilltellern in der Mitte des Schulungsraumes. Schlange mit dem Rücken zu Joswig. Der Rotschopf lässt seine Hand über Schlanges rechtem Schulterblatt kreisen.
„Niere links“, sagt Schlange.
„Fast“, antwortet Joswig.
In der ganzen Praxis haben sich Zweier-Grüppchen verteilt und spielen dasselbe Spielchen. Einer reibt seine Handflächen aneinander und berührt mit ihnen das Energiefeld am Rücken des anderen. Dieser rät. Schlange beobachtet Marika und Alice direkt neben ihm. Beide arbeiten ehrenamtlich in einem Hospiz. Marika hält ihre Hand an Alices rechte Hüfte, Alice sagt rechte Schulter. Marika berührt die linke Schulter, Alice sagt Mitte rechts. Dann ein Treffer. Marika sagt: „Glückwunsch, du kannst es!“
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„Wir stellen Ihnen keine Fragen. Wir sagen Ihnen alles!“
Medium Maria Magdalena
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Schlange sagt: „Nacken.“
Joswig sagt: „Steißbein.“
„Fuck“, flucht Schlange. „Willst du mich eigentlich verarschen?“
Daniel hat sich die schnuckelige Emo-Steffi geschnappt und übt mit ihr allein in dem kleinem Yogaraum, der vom Schulungszimmer abgeht. ZAPP.
Eine Jenseitsdemonstration gibt Hohlstamm von Dehnen nicht, allerdings verweist er gezielt auf seine Seminare am Atlantis Institut in Limburg: Die Erneuerung Deiner Seele (in sieben Stunden) für 179 Euro, die Heilung vom Ich (innerhalb von zwei Tagen) für 579 Euro und die fünftägige Ausbildung zum ganzheitlichen Engelmedium für 1275 Euro.
Hohlstamm sagt: „Je reicher das Herz wird, umso reicher wird der Kontakt zum Jenseits.“ Bigotterie und Eso-Kaffeefahrt. Fast eineinhalb Stunden lassen sich Schlange und Joswig von dem langhaarigen Leiter des Atlantis Institutes den Verstand ätherisch reden: „Wir sagen so viel und tun doch so wenig.“ ZAPP.
Joswig klopft Schlange auf die Schulter. „So, jetzt bin ich mal dran, du Wunder-Medium.“
„Alles klar“, brummt Schlange. „Mit ner Partnerin hätte es bestimmt besser geklappt.“ Er sieht im Yogaraum Daniel und Steffi albern. Dieser verdammte Charme-inator! Warum bekommen die Gurus immer die besten Perlen?
Der Rotschopf stellt sich mit dem Rücken zu Schlange und lässt seine Schulterblätter kreisen. „In der Schauspiel-Schule mussten wir so eine Übung auch immer machen. Mal sehen, ob ich es noch drauf habe.“
„Warum habt ihr so einen Scheiß gemacht“, will Schlange wissen.
„Keine Ahnung“ antwortet Joswig. „Ich hatte es mir irgendwann abgewöhnt zu hinterfragen.“
Schlange hält seine Hand über Joswigs rechte Schulter. Dieser sagt: „Mitte rechts.“
„Falsch“, antwortet Schlange und haut seinem Freund auf die Schulter. „Nächster Versuch.“
Joswig landet überdurchschnittlich viele Treffer oder zumindest Streifschüsse. Marika und Alice stehen mittlerweile neben Schlange und schauen beeindruckt zu. Auch Miss I. honoriert Joswigs Antworten. Aufgenommen im Kreis der Sehenden.
Der Pisser beobachtet doch garantiert irgendeine Spiegelung im Fenster, denkt Schlange. Ally McFeel.
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Die mediale Übung: Das Speed-Sitting
Die Gruppe hat sich auf zwei Räume verteilt, wo jeweils vier Stühle mit der Lehne aneinander zu einem Kreuz geschoben wurden. Ihnen gegenüber stehen vier weitere Stühle, sodass vier Teilnehmer im inneren Kreis sitzen, und vier weitere im äußeren Stuhlkreis ihren Partner direkt in die Augen schauen können. Mit Hilfe ihres Spirit-Teams sollen sie die Vergangenheit ihres Gegenübers lesen und sein Schicksal prophezeien. Es ist nach einem Foto-Profiling, bei dem die Gruppe anhand einer Fotografie die Lebensgeschichte einer Person erkennen musste, und einer individuellen Zukunftsdeutung mithilfe selbstgemalter Buntstift-Bilder ihre letzte Übung zum Trainieren der medialen Fähigkeiten.
Die erste Konstellation: Die beiden Undercover-Journalisten sitzen im inneren Zirkel, werden gelesen. Joswig von Daniel, Schlange ein Platz weiter rechts von einer Dame in den besten Hausfrauenjahren mit halblangen, Kastanienbraunen Haaren und bedeutungslosen Augen. Er schaut sie schweigend an und lächelt. Gabriele oder Nicole heißt sie, hält mit feuchten Fingern seine Hand und verzieht angestrengt ihr Gesicht. Ihre Mattscheibe zeigt nur Rauschen, Sender verstellt. Während Schlange auf seine lang ersehnte Prophezeiung wartet, an seinen Großvater denkt und akzeptieren muss, dass der Opa kein Mann großer Worte war, hört er von rechts Daniels dünne Stimme.
„Ich sehe… Blau.“
Joswig: „Jau.“
„Ah, okay. Sehr gut.“ Daniel schließt die Augen und legt seinen Kopf in den Nacken. „Ich sehe… Wasser.“
Joswig“ „Si.“
„Ein Meer“, sagt Daniel und hält inne. Stille. Dann schnell: „Oder ein großer Fluss.“
Während Gabriele oder Nicole stammelt, sie habe gerade einen Blackout, könne partout nichts empfangen, hört Schlange ein weiteres „Jau“ und erinnert sich an Wattenscheid-Sevinghausen, wo beide zusammen aufwuchsen und weit und breit kein Fluss oder Meer war. Höchstens die Köttelbecke, und die war alles andere als blau. Dämlicher Schauspieler, denkt er und schnauft. Die Dame vor ihm windet sich weiter. „Es ist verschwommen. Ich weiß nicht. Ich sehe so etwas wie einen Rucksack.“
Schlange denkt kurz nach und spürt das Taschenmesser in seiner Jeans. „Puhh… Ich war mal Pfadfinder.“
Sein Azubi-Medium ist erleichtert. „Das passt“, haucht sie atemlos. „Ich sehe nämlich auch Zelte.“ Schlange nickt halbherzig, als Joswig noch Daniels Vision eines Bootes bestärkt. Ein Boot! Ein verschissenes Boot in Wattenscheid! Käpt’n Joswig, alles klar auf der Andrea Esoterika?
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Alle Fragen des Lebens – Schelina hat die Antworten!
Schelina, Meisterin des zukunftsweisenden Entertainments
Die zehn Minuten sind rum. Der äußere Kreis wechselt im Uhrzeigersinn, Joswig schaut Gundel in die Augen, Daniel sitzt nun Schlange gegenüber. Frauentausch. Gundels mediale Begabung zeichnete sich bereits bei den Buntstiftbildern ab:
„Du standest auf jeden Fall viel allein in deinem Leben“, sagte die Hexe. „Aber du hast nie deine Kraft verloren.“
Steffi, das kleine Emo-Girl, lächelte schüchtern und senkte verlegen den Kopf. „Und dann“, fuhr Gundels Stimme wieder hoch, und ihr Finger zeigte auf einen rot-grün-orangefarbenen Flecken am linken Bildrand, „wird bald ein Kind in dein Leben treten!“
Steffis Kopf schreckte hoch. Sie stotterte. „Ähm, das kann… eigentlich… nicht sein.“
„Doch, ich sehe es ganz deutlich.“ Gundel wartete einen Augenblick. „Und wenn nicht direkt in deinem Leben, dann vielleicht in deiner Familie oder in deinem Freundeskreis.“
Steffi runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach, während der Ghostfinger wie in Trance oder Rage zur linken Bildecke fuhr und einen braun- und lilafarbenen Klumpen penetrierte. „Außerdem sehe ich eine Reise. Nach Marokko!“
Nun schien Steffi vollends verwirrt. „Was?“
„Nach Marokko“, schnitt die Stimme der Hexe verheißungsvoll durch den Raum.
„Was ist Marokko“, fragte Steffi eingeschüchtert.
„Ein Land“, erwiderte Gundel.
„Okay… Kenn ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich da hinfahren werde.“
„Na dann in eine andere warme Region eben. Definitiv. Ich sehe es hier ganz deutlich!“
Gundel ist extra aus München zu dem Seminar angereist, schaut nun Joswig an und beginnt Blau zu sehen, Wasser und Wellen. Wie originell. Daniel dagegen schafft es zu seinem Sprit-Team Kontakt aufzunehmen und erklärt Schlange in beschwörerischem Ton: „Ich sehe eine Frau!“
Schlange verzieht seinen Schnäuzer und geht angestrengt die Todesfälle in seiner Familie, bei seinen Freunden und im weiteren Bekanntenkreis durch. „Äh, nein. Ich sehe keine.“
Daniel schließt wieder die Augen und murmelt mit dem Kopf zuckend. „Sie steht etwas außerhalb, gehört nicht eng zu deiner Familie, aber sie kennt dich.“
Schlange: „Keinen Schimmer.“
„Es ist eine Frau mittleren Alters, sehr streng. Eine dominante Persönlichkeit. Verstand sich nicht gut mit euch.“
Schlange schaut Daniel mitleidig an. „Auf keinen Fall. Sorry.“
Das Schwiegersöhnchen gibt nicht auf: „Und da steht auch noch ein älterer Herr. Aber er kommt nicht näher. Er traut sich nicht wegen der Frau.“
„Klar.“
Schlange, das spirituelle Funkloch. Irgendwie ermüdend. Wenn keine Frau gestorben ist, wird sicherlich irgendwann mal ein Mann hopps gegangen sein. Daniel scheint genauso ermattet. Er sagt: „Ich kann nicht mehr.“
Miss I. hatte erklärt, dass ein geübtes Medium maximal sieben bis acht Sittings halten könne, aber nicht jeden Tag. Der Kontakt zum Jenseits brenne aus. Außerdem sei Diabetes bei Medien häufig vertreten.
Die Kreise wechseln: Schlange und Joswig treten in Kontakt zum Jenseits. Der Rotschopf liest die alte Alice, und Schlange verweigert das Gespräch mit einer Stuttgarterin, die auf dem Seminar die Aussöhnung mit ihrem toten Vater sucht. „Ich hab keine Lust mir irgendetwas auszudenken, erzähl mir lieber was“, sagt Schlange und beobachtet aus den Augenwinkeln, wie Joswig mit seiner Séance beginnt. Er nimmt die Hände der alten Dame in seine und schaut tief in ihre blauen, von Runzeln eingefassten Augen.
„Ich sehe deine Kindheit, Alice. Ich sehe viel Leid und Verzicht.“
Alices Augen weiten sich, und sie nickt. Joswig drückt ihre weichen, warmen Hände. „Ich sehe halbvolle Teller mit dünner Suppe. Der Geruch eines Kohleofens steigt mir in die Nase. Eine Großküche, viele Menschen, die zusammenhalten, die gemeinsam an einem Tisch sitzen, die das wenige, was sie noch haben, teilen.“
Die Augen der kleinen Frau füllen sich mit Tränen, ein Lächeln legt sich auf ihr Gesicht. „Ich sehe, dass du mit dieser Familie ein schweres Schicksal überstanden hast, und daraus gewachsen bist.“
„Ja“, flüstert Alice fassungslos. „Ja, so war das!“
Schlange könnte seinen Schädel gegen die pfirsichfarbene Rauhfaser klatschen. Was für eine abgezockte Sau, denkt er. Dass die Frau den Krieg miterlebt hat, sieht doch ein Blinder mit Krückstock!
ZAPP. Joswig bekommt Gundel für seine Show, Schlange die kleine Alice. Er lächelt die alte Dame nur an und bittet sie, ihm aus ihrem Leben zu erzählen. Joswig dagegen aktiviert sein Sprit-Team: Elvis, den verlausten Frodo und den Scherzengel Gabriel.
„Uhh, ich sehe einen großen Umbruch in deinem Leben…“ Der Rotschopf lässt seinen Worte ausklingen. „Es muss so mit achtzehn Jahren gewesen sein. Vom Dorf, in die weite Welt.“
Gundel erstaunt. Schlange vergisst für einen Moment Alices Kriegserinnerungen zu lauschen. Joswig fährt unbeirrt fort. „Ich sehe auch einen Mann. Aber du hast dich nicht bestimmen lassen. Du hast dein Leben selbst in die Hand genommen! Du warst schon immer eine starke Frau!“
Joswig, der geborene Hellseher. Die Hexe kommt aus Bayern, war eine Dorftriene, die nach München zog. Die Hexe trägt keinen Ring am Finger, und die Hexe versucht jedem zu vermitteln, dass sie etwas Besonderes ist. Natürlich passen seine Aussagen!
Mit einem im wahrsten Sinne des Wortes „begeisterten“ Gesichtsausdruck sagt sie zu Joswig: „Du hast die Gabe!“
Wissen macht Ah! – The Mentalist
Die Körpersprache, der Dresscode oder unbewusste Reaktionen wie die Pupillengröße verraten viel über die Gedankenwelt des Gegenübers. Mit etwas Empathie und Kombinationsgabe ist es einfach Kausalzusammenhängen abzuleiten. Die Techniken, mit denen zum Beispiel der deutsche Entertainer Thorsten Havener sein Bühnenprogramm als Hellseher und Gedankenleser bestückt, werden genauso beim Militär, von Unterhändlern, Verhörspezialisten und dem Geheimdienst verwendet.
„Au“, fiepst Alice. „Du zerquetschst mir die Hand!“ Schlange entschuldigt sich und knirscht mit den Zähnen. Kollektiver Selbstbetrug. Den ganzen Tag hindurch. Errät man nach etlichen Versuchen die richtige Stelle, der am Rücken die Hand aufliegt, ist man sensibel. Leitet man offensichtliche Charaktereigenschaften aus Buntstiftbildern ab, oder behauptet sie einfach, gleich hellsichtig. Erraten sechszehn Personen einzelne Details der Lebensgeschichte eines Fotos, wie ein blaues Auto (zur Auswahl standen noch rot, weiß, schwarz, grün und grau), dann sind sie psy-begabt. Und erzählt ein schmieriger Schauspieler das Offensichtliche, ist er gleich ein verschissener Guru. Diese Menschen wollen glauben!
Der Anthropologe Pascal Boyer erklärt den Geisterglauben aus der sozialen Hochbegabung des Menschen. Unser Geist wechselt ständig den Standpunkt. Da liegt auch die Vorstellung nahe, er könne sich vollends vom Körper lösen und ein Eigenleben führen. Es ist der erste Gedanken-Impuls, der Weg des geringsten Widerstandes für unser kognitives System. Bei den Menschen hier, kommt noch der unbändige Wunsch hinzu, seinem Leben einen höheren Sinn zu verleihen.
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– Werbeunterbrechung –
„Löst Partnerschafts-, Familien-, Generations- und zwischenmenschliche Konflikte. Führt in die Selbstverantwortung.“
Christian Hohlstamm von Dehnen
Schlange und Joswig sitzen im Auto. Acht Stunden Seminar liegen hinter ihnen.
„Die Flasche Wein habe ich mir redlich verdient“, murrt der Rotschopf.
Schlange dreht sich zum Rücksitz und hebt Joswigs Umhängetasche an. „Alter, woher hast du denn die Pulle?“
„Aus dem Hausflur. Der Weinladen im Erdgeschoss hat sie da als Deko stehen lassen. 89 Euro sind ein fairer Preis dafür.“
„Stimmt.“ Schlange schnippt sich eine Kippe aus seiner Schachtel und steckt sie an. „Genauso wie 89 Tacken abzudrücken, um einen Nachmittag mit ein paar verwirrten Perlen abzuhängen. Der ganze Scheiß hat uns doch wieder nicht weiter gebracht.“
Joswig zündet sich auch eine an und kurbelt sein Fenster runter. „Du meinst, weil wir keinen Beweis fürs Jenseits gefunden haben?“
„Jipp. Auf Miss I.s Homepage standen etliche Pinnwand-Einträge wie ‚Danke für den tröstlichen Jenseitskontakt‘, ‚Durch dich konnte ich Abschied nehmen‘, ‚Du hast mir geholfen meine Trauer zu bewältigen‘. Und im Endeffekt ging es nur wieder darum, einen guten Showmaster und ein dankbares Publikum zu haben. Bei dem Scheiß-Seminar waren die Teilnehmer sogar beides.“
Joswig bläst eine graue Wolke zum Fenster hinaus. Ektoplasma. „Dieser Pisser von der Eso-Messe hatte damals schon ganz recht.“
„Dieser Geschäftsfüher, der uns behandelt hat, wie die letzten Reporter-Deppen?“
Joswig nickt. „Der Bursche glaubte zwar kein Stück an diesen ganzen Mist, vergoldet sich aber seit Jahrzehnten den Hintern mit der Szene. Du hast ihn doch gehört, die Leute kommen mit Tränen in den Augen und glücklichen Gesichtern aus den Vorträgen. Wenn sie meinen, es hilft ihnen, sollen sie auch dafür zahlen.“
„Pfff.“ Schlange ascht in Joswigs Fußraum. „Und je mehr daran glauben, desto wahrer wird es. Das ist doch Kacke.“
„Quatsch. Das ist großartig: Die verkaufen Dinge, die es nicht gibt. Ein Plausch mit nem Schutzengel, ein Gruß von der toten Oma oder eine Spontanheilung durch Handauflegen.“ Der Rotschopf grinst. „Wir sollten auch eine spirituelle Gemeinschaft gründen!“
„Sicher, das ist ja auch dein Ding: einfache und schnelle Lösungen. Komme ich in meinem Leben nicht klar, schiebe ich meine Probleme ins Jenseits. Oder hoffe auf Hilfe von höheren Sphären. Was denn für ne Gemeinschaft? The Psychic School of Wattenscheid?“
Joswig Mundwinkel verziehen sich zum Wahnsinn: „The Joswig College of spiritual Love!“
„Hmm.“ Schlange sackt in seinen Sitz. „Dann musst du aber auf der Bühne stehen, die Leute belügen und die bekloppten Groupies abfischen“, mault er seinen Freund an. „Du hast den verdammten Guru ja eh besser drauf.“
„Und was ist dann deine Aufgabe“, will der rote Erlöser wissen.
„Ich mach den Ghostwriter für deine Reden.“ Schlange überlegt kurz. „Eigentlich bleibt alles wie gehabt.“
„Du blödes Arsch“, blafft Joswig und fährt los.
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Lassen Sie sich nicht verarschen. Glauben Sie an uns, glauben Sie an Joswig!
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Namen sind nicht so wichtig, deswegen wurden sie geändert. Was zählt ist die Seele.
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HINWEIS (zum Schluss):
Wer keine Lust hat zu lesen, kann sich die Storys auch anhören. Das nächste Mal liest die Wattenscheider Schule im Kabarett-Theater DISTEL in Berlin hier.
Super – 3 Tickets gebucht.. Äh, macht Ihr auch „Frage oder Botschaft“? Ich frage für einen Ex-Bochumer…
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