Die Ruhrbarone haben den Vorteil eine echte Ostbürgerin in ihren Reihen zu haben, keine Journalistin, die man mit dem Fallschirm über dem Osten abwirft und die sich dann mal kurz umschaut und irgendwas über den Osten schreibt.
Ich bin hier geboren und aufgewachsen und lebe tatsächlich immer noch hier. Auch ich habe mein Kreuzchen gemacht hier in Thüringen. Und jetzt schaut das ganze Land auf mein kleines Bundesland mit den 2 Millionen Einwohnern…
Wahlen in der DDR
In der DDR gab es auch Wahlen. Ich war allerdings noch zu jung um dran teilnehmen zu müssen. Ja, die Wahl im Osten war ein Muss. Und der DDR-Bürger wusste auch genau, was zu tun war. Man ging in sein Wahllokal, auf keinen Fall ging man in die Wahlkabine, die es immer gab, aber die nicht benutzt wurde, denn jeder da dort hineinging, war sofort ein Fall für die Staatsicherheit. Dann faltete man brav seinen Zettel und schmiss ihn in die Wahlurne. Es gab nur “Ja“ oder “Nein“, nichts ankreuzen war “Ja“. Und auf dem Zettel standen dann die Kandidaten die von der SED legitimiert worden sind. Die waren dann in der SED selbst oder in einer der Blockparteien, die das System mittrugen. Ja, eine CDU und die DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands), die beide in der West-CDU aufgingen (!) und die LDPD (Liberal-Demokratische Partei) und die NDPD (National-Demokratische Partei), die von der West-FDP (!) geschluckt wurden, gab es schließlich auch. Und ich frage mich oft, warum dies niemand thematisiert. Die SED-Nachfolgepartei wird ständig für ihre Vergangenheit kritisiert, ihr politisches Dasein wird infrage gestellt, aber dass die Blockparteien, die das autoritäre System der DDR mittrugen und maßgeblich zu dieser Scheindemokratie beitrugen, einfach mal so politisch weiter machen in den jeweiligen Westparteien, wird gern verschwiegen… Aber das nur am Rande. Es gab also in der DDR irgendwelche Kandidaten, die allerdings niemand groß kannte, da man sich ja sowieso politisch nicht engagieren konnte in der DDR. Politisch aktiv war man nur, wenn man auf Linie war und Karriere machen wollte, oder wenn man ein Verdachtsfall der Stasi war. Ich erinnere mich sogar noch an die Wahlplakate. Es wurde in der DDR das Bild einer echten Wahl zu Propaganda-Zwecken erschaffen. Aber eine Rolle spielten diese Wahlen nicht, denn man hatte im Prinzip keine Wahl in der Deutschen Demokratischen Republik. Das autoritäre Regime saß fest im Sattel. Der erste Widerstand regte sich 1989 als Bürgerrechtler die Fälschung der Kommunalwahl offenlegten, es sollte der Anfang vom Ende der DDR sein.
Dann kam die Wende.
Der Ruf nach freien Wahlen wurde laut und schließlich auch Realität. Die ersten freien Wahlen in der DDR kamen. Und da durfte ich dann auch mein erstes Kreuz setzen. Wir kannten das nicht. Es war völlig neu, eine Wahl zu haben. Auch der Wahlkampf war neu. Wir hatten es nie erlebt, mit markigen Botschaften manipuliert zu werden und wir wussten nicht, dass auch West-Politiker lügen und das sogar dürfen. Die CDU war ganz groß im Wahlkampf mit ihrem “Ja“ in den Farben Schwarz-Rot-Gold. Da wurde er bei seinem Wahlkampfauftritt auch noch ganz groß bejubelt der Helmut Kohl auf dem Domplatz in Erfurt. Das machte Eindruck auf den DDR-Bürger und das, was Kohl versprach, das wollte man. Die deutsche Einheit, so schnell wie möglich, volle Regale so wie im Intershop, ein Stück vom westdeutschen Kuchen, den man 40 Jahre sehen musste und von dem man nur ab und zu ein paar Krümel von der West-Verwandtschaft via Westpacket bekam. Das sahen nicht alle so, aber die Mehrheit. Und das ist Demokratie. So sollte es geschehen. Das böse Erwachen kam dann aber auch. Man rechnete es auch der Bürgerrechtsbewegung nicht an, dass sie das alles erst ermöglichten. Warum sie aber ausgerechnet, ausgenommen der Demokratische Aufbruch, zu den Grünen gegangen sind, verstehe ich bis heute nicht. Sie hatten bei den Grünen nichts zu melden und es gab auch kaum Stimmen für das neue Bündnis90/Die Grünen in dieser ersten und letzten Wahl in der DDR. Die SED, dann als PDS und später als Die Linke hat sich von Anfang an um einen demokratischen Anstrich bemüht, jedoch scheiterte sie an der Bundespolitik und an den Extremisten in ihren Reihen, den Todesstoß versetzte ihr nun die Abspaltung des BSW und sie versinkt gerade in der Bedeutungslosigkeit.
Wir hatten also gewählt, Kanzler Kohl leitete unter dem Versprechen der blühenden Landschaften die Annektierung der neuen Bundesländer ein. Und das war’s. Polikliniken wurden abgeschafft, das Bildungssystem dem dreigliedrigen, deutlich schlechteren System des Westens angepasst, Kinderkrippen und Kindergärten machten zu, und viele Betriebe wurden geschlossen, massenweise Leute in die Arbeitslosigkeit geschickt. Wir kannten das nicht, Arbeitslosigkeit gab es in der DDR nicht. In der DDR war Arbeitsbummelei ein Straftatbestand und quasi jeder in Arbeit. Natürlich hat sich das Leben im Osten mittlerweile verbessert, aber viele Menschen sind weggegangen, da es in den alten Bundesländern einfach bessere Perspektiven und Möglichkeiten gab. Diejenigen, die blieben, arrangierten sich mit den Bedingungen in den neuen Bundesländern. Viele verfielen in Ostalgie und Die Linke war lange Zeit, für die Menschen, die dem Osten eine Bedeutung für ganz Deutschland geben wollten, die beste Partei. Das ist nun vorbei, denn diese Funktion hat die AFD an sich gerissen.
Demokratieverdrossenheit
Auch in der jüngeren Vergangenheit gab es viele Gründe für die Demokratieverdrossenheit der Thüringer: die unsägliche Kemmerich-Wahl, die so viele Menschen hier nach wie vor an der Demokratie zweifeln lässt, die sich veralbert vorkamen, das Blockieren einzelner CDU-Abgeordneter, die mehrmals eine Neuwahl verhinderten, die ganzen Wessis, die hier jahrelang die Politik bestimmten, die Grüne Umweltministerin, die ihr Amt für einen Lobbyjob aufgab, Streit in der SPD um den zu wenig linken Innenminister, männliche Minister, die ihren Hut nehmen mussten, da eine Frauenquote erfüllt werden musste und und und…
Der Wahlkampf war teilweise bizarr: Thomas Kemmerich machte ausgerechnet mit einem Bild Wahlwerbung, auf dem der Blumenstrauß war, der ihm nach seiner seltsamen Wahl vor die Füße geworfen wurde, Bodo Ramelow versuchte mit teilweise wirklich peinlichen Internetvideos ala “DaDaDa“ zu punkten, Katja Wolf vom BSW erzählte irgendwas von „keinen Personenkult zu wollen“ und Herr Höcke suhlte sich in der Bewunderung seiner Fans. Ich durfte ihn live erleben mit seinem großspurigen, siegessicheren Gehabe (zuerst Thüringen und dann die ganze Welt…). Das Vertrauen in die Politik und in die Demokratie ist bei den meisten Ostdeutschen weg. Wir waren hier in Thüringen nicht schon immer “Die Nazis“ oder “Die Putin-Stiefellecker“ und wenn dann war es nicht die Mehrheit. Das “landespolitisches Chaos mit einem egoistischen Hickhack statt einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Mandat“, wie es der Parabelritter
als Ursache treffend formuliert, und die wirtschaftlich und gesellschaftlich abgehängten Kreise in den ländlichen Regionen und mit ihrer Perspektivlosigkeit, fernab der tollen, schick sanierten Städte, sind die Ursache für das Wahlverhalten hier in Thüringen, genauso wie die desaströse Politik der Ampel.
Wahrscheinlich ist auch eine Denke vieler AFD-Wähler, das gegenwärtige demokratische System ist so schlecht, also boykottieren wir es und wählen den Nazi. Sozusagen als Denkzettel. Denn es gibt sicher sehr viele Nazis in Thüringen, vor allem in den erwähnten, abgehängten ländlichen Regionen, aber nicht alle AFD-Wähler sind Nazis. Höcke ist für sie nur Mittel zum Zweck, denn die meisten AFD-Wähler wollen einfach, dass es kracht. Und das haben sie wohl auch erreicht
Und es kam, wie es kommen musste
Auf meinem Gang ins Wahllokal kamen mir schon die verschiedenen Szenarien in den Kopf: BSW macht eine Regierung mit AFD… werden wir russische Provinz? Nein, halt spielt keine Rolle in der Landespolitik, aber was dann? Höcke als unser Landesvater? Muss ich hier wegziehen? Ich wähle ja, dachte ich, vielleicht wird das Übel noch irgendwie aufzuhalten sein. Aber nein…
Das vorläufige amtliche Endergebnis beschert der AFD 32,8%, der CDU 23,6%, dem BSW 15,8%, Die Linke erreicht 13,1%, die SPD 6,1% und alle anderen sind raus. Rienne va plus. Halten sich alle an ihre Unvereinbarkeits- und Brandmauerversprechungen, kann es nur eine Regierungskoalition aus AFD und BSW geben. Ob sie wohl kommt? Björn Höcke als Ministerpräsident und dem BSW als Steigbügelhalter? Gibt es vielleicht eine Minderheitsregierung aus CDU, BSW und SPD? Unter Duldung/Mitarbeit der Linken mit Mario Voigt als Ministerpräsident? Wenn Bodo Ramelow aus seiner Partei austreten und dieser Koalition beitreten würde, würde es tatsächlich knapp für eine Mehrheit reichen, denn es fehlt nur ein Mandat. Gegenüber Parteilosen besteht ja kein Unvereinbarkeitsgebot für die CDU. Bodo Ramelow hat wenigstens sein Direktmandat verteidigt und sitzt sicher im Landtag. Außerdem wäre er ohne seine Partei politisch sowieso besser dran. Wahrscheinlich ist dieses Szenario, was mir da in den Sinn kam, aber nicht.
Einen kleinen Trost gibt es aber. Wenigstens hat Björn Höcke im Gegensatz zu Ramelow sein Direktmandat verloren und muss einen seiner Jünger abtreten lassen, um überhaupt in den Landtag zu kommen. Ein winziger Trost, wenn man bedenkt, dass mein Bundesland wahrscheinlich wieder keine ordentliche Regierung haben wird. Mit seinen rund 33% hat Höcke zudem nicht nur das Ziel erreicht stärkste Kraft zu sein, er kann auch durch das Blockieren einer Zweidrittelmehrheit im Landtag viel Schaden anrichten. Und da die Kleinparteien nicht im Landtag sind, hat er ein Drittel an Sitzen sicher. Diese Sperrminorität bietet zahlreiche Möglichkeiten, um demokratische Prozesse zu sabotieren. Verfassungsänderungen und die Wahl der Richter für das Landesverfassungsgericht können blockiert werden. Mit 33% hat die AFD ein erhebliches Erpressungspotenzial, das gilt auch bezüglich der Mitglieder der parlamentarischen Kontrollkommission im Landtag. Dieses Gremium soll den Landesverfassungsschutz überwachen, den Verfassungsschutz, der die AfD in Thüringen als gesichert rechtsextrem einstuft und den die Partei abschaffen will. Ebenso braucht es zur Auflösung des Landtags eine Zweidrittelmehrheit. Und außerdem sollte man sich klar darüber sein, dass der Weg der AFD eben nicht der der NSDAP ist. Dieser ist vermutlich viel weitergedacht. Diesmal ist die AFD vielleicht zufrieden damit, hier in Thüringen alles auf den Kopf zugestellt zu haben, so dass ein Regieren unmöglich ist. In fünf Jahren sieht es ganz anders aus, vielleicht reicht es dann für eine absolute Mehrheit. Beten wir dafür, dass das nicht kommt.
Naja, Bodo Ramelow wird den Job wohl erstmal noch eine Weile kommissarisch machen. Aber wie dann weiter? Die Stimmen im Westen werden lauter, den Ossis das Geld zu entziehen, die Mauer wieder aufzubauen… Wiedertrennung jetzt??? Dieses ganze Ost-Bashing aus dem Westen, und ich schließe hier meine Kollegen von den Ruhrbaronen ausdrücklich mit ein, ist doch nur ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Und diese Hilflosigkeit sollte uns einen und nicht spalten.