Es waren Szenen des Elends, die sich in den späten 70er Jahren auf dem Trimmpfad in einem kleinen Wald in der Nähe von Bad Homburg abspielten. Meine Mutter quälte sich über Wurzeln stolpernd den Waldweg entlang, um an verschiedenen Stationen über Balken zu balancieren oder auf im Boden eingelassene Holzpfosten zu hüpfen. Ich wurde Woche für Woche beim Versuch, Klimmzüge an einer regennassen Stange zu absolvieren gedemütigt und trat mindestens bei jedem Rundkurs einmal in einen dampfenden Haufen Hundescheiße. Aber der damals neue Freund meiner Mutter, übrigens aus einer SS-Familie stammender 68er/, hatte es sich in den Kopf gesetzt, die beiden unsportlichsten Menschen südlich des Nordpols in Sportskanonen zu verwandeln und das von ihm bevorzugte Foltermittel gab es kostenlos: Den Trimmpfad.
Noch bis in die frühen 70er Jahren waren die Begriffe „Trimmpfad“ und „trimmen“ gänzlich unbekannt. Sportbegeisterung war eine Randerscheinung. Im Fernsehen fristeten Sportübertragungen ein Randdasein und für die meisten Fußballspiele konnte man sich ohne großen Aufwand Karten an der Tageskasse kaufen. Fitnessstudios gab es nicht und der Sportlehrer nahm noch innerhalb des Kollegiums seinen natürlich Rang ein: Noch unterhalb der Theologen.
Die alten Traditionen der Arbeitersportvereine oder Wandervögel war weitgehend vergessen, die Erinnerung an die gestählten Nazikörper Leni Riefenstahls noch frisch. Wer bei Sinnen war, trank Alkohol, ging auf Partys und las Bücher. Flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl mochten nur Idioten sein.
Dann, am 26. April 1966, fiel eine folgenschwere Entscheidung: Das Internationale Olympische Komitee gab München, der Stadt in der weniger Jahre zuvor mit den Schwabinger Krawallen die Ouvertüre der Studentenbewegung aufgeführt worden war, den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972.
Die sollten die heiteren Spiele werden, was sie bis zu dem Massaker an israelischen Sportlern durch palästinensische Terroristen wohl auch waren, und auf keinen Fall an die Nazi-Spiele von 1936 erinnern. Sie sollten der Welt ein neues, demokratisches und offenes Deutschland zeigen. Und, nun ja, ein sportliches.
Wie so oft lagen Anspruch und Wirklichkeit auch in dieser Frage weit auseinander. Ziel der meisten Deutschen in dieser Zeit war es, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Um das zu ändern, rief der Deutsche Sportbund eine Bewegung ins Leben, eine Art Aufstand der Bewegungswilligen gegen die behäbige Mehrheit der Pummelrepublik Deutschland.
Die Trimm-Dich Bewegung sollte die Deutschen zu Sportlern machen, ohne an den militärischen Sportdrill der Nazizeit zu erinnern. Und er trug der Tatsache Rechnung, dass sich die Gesellschaft in den 60er Jahren individualisiert hatte. Sport sollte nicht mehr nur im Verein oder in der Schule ausgeübt werden, sondern überall: Vor dem Fernseher während populärer Trimm-Shows und auf Trimmpfaden. 1970 begann „Motivationskampagne“ „Trimm Dich durch Sport“, ab 1975 zollte man der Bildungsexpansion mit dem Motto „Ein Schlauer trimmt die Ausdauer“ Tribut, von 1979 bis 1982 appellierte man mit „Spiel mit – da spielt sich was ab“ an den Homo Ludens und die drohenden Einsparungen im Gesundheitswesen standen wohl Pate als es ab 1983 hieß „Trimming 130 – Bewegung ist die beste Medizin“.
Eine Symbolfigur gab es auch: Sie hieß Trimmy, wurde von dem Zeichner Dieter Sihler geschaffen, reckte keck den Daumen in die Höhe und sah ein wenig so aus wie Herr Kaiser, die Kaffeewerbeikone der damaligen Zeit, ist Sportsachen. Zurecht sagte Sihler einmal über sein Meisterwerk: „„So ein Wurf wie der Trimmy gelingt nur einmal im Leben“.
Es entstanden unzählige Trimm- Pfade, sie waren Stätten des Leidens und der Erniedrigung, aber für viele auch der erste kostenlose Schuss, der Einstieg in die Droge Sport. Auf den drei bis vier Kilometer langen Strecken gab es ungefähr alle 200 Meter eine Übung, vor den Augen lässiger Spaziergänger konnte man sich beim Bockspringen, Hüftkreisen oder beim Slalomlauf um Holzstangen zum Gespött der an Lederleinen mitgeführten Dackel machen.
Oder eine gute Figur. Nach den Zahlen des Sportbundes waren Mitte der 70er Jahre 70 Prozent der Bevölkerung sportlich aktiv. Sport gehörte damals, glaubt man den frommen Legenden, offenbar zum Alltag wie der Opel-Ascona, Ernte23 und Mariacron.
Die Trimmpfade hingegen gehörten langfristig gesehen, nicht zu den Gewinnern. Die Städte verloren die Lust sie zu erhalten. Die Holzgeräte setzten erst Moos an und brachen schließlich zusammen, Bäume und Sträucher eroberten sich die Trimmpfade zurück, an rostige Stangen fing sich so mancher noch eine zünftige Blutvergiftung ein. Bald verströmten die Trimmpfade die Lebenslust stillgelegte DDR-Chemiekombinate.
Sport war immer noch beliebt, aber nicht auf den vorgezeichneten Pfaden des Sportbundes. Bald ging man joggen, hüpfte in bunter Trikots beim Aerobic oder stählte seine Muskeln in Fitnessstudios.
Waren die Trimmpfade noch ein kostenloses, öffentliches Angebot für jeden, eine niedrigschwellige Grundversorgung für die Achselschweißbegeisterung der Bewegungswilligen, wurde es jetzt schnell teuer, wenn man sich nicht aufs joggen, beschränken wollte.
Aber es gibt nichts, was nicht wiederkommt: Wie die Schlaghose, die „Vollbart“ genannten tragbaren Vogelnester oder die Weltuntergangspanik erlebten auch die Trimmpfade ein Comeback.
„Trimmy ist wieder da!“, titelten gleich mehrere Zeitungen im vergangenen Jahr und tatsächlich, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat Trimm-Dich 2.0 gestartet. Jetzt sind die, erklärt DOSB-Marketing-Experte Florian Frank in dem Fachmagazin Stadionwelt „Trimm-Dich-Pfade sind nicht mehr in der Peripherie angesiedelt, sondern haben sich ausdifferenziert in „Senioren-Spielplätze“, Bewegungs-Parcours und Outdoor-Fitness-Studios, die in der Mitte der Stadt, in Parks, an Flüssen das urbane Leben bereichern.“ Ein paar Parcours gibt es bereits, weitere sollen Städte oder anderen Partner des DOSB errichten.
Bis die Sportfunktionäre soweit sind, kann man schon einmal im Trimmy-Underground trainieren. Die Seite www.trimm-dich-pfad.com listet 700 Trimmpfade auf. Viele von ihnen haben Retro-Charme, liegen noch immer in den wieder von Wölfen besiedelten Wäldern oder bieten Klettergerüste in Farben, die jede Priel-Blume vor Neid erblassen lassen. Wer den Sommer nutzen möchte, um andere Menschen zu demütigen, sich zum Gespött von Spaziergängern zu machen oder Lust auf etwas Bewegung im Freien hat, findet also genug Gelegenheiten, um sich auszutoben.
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Jungle World
"Trimmy-Underground"! ❤️
Es heißt "Pril-Blume", soviel Henkel-Treue muss sein!;-)